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Diese Sätze sind keine Hilfe für perfektionistische Kinder

Aus Ausgabe
10 / Oktober 2025
Lesedauer: 6 min

Diese Sätze sind keine Hilfe für perfektionistische Kinder

Manche Kinder meinen immer Bestleistungen erbringen zu müssen – obwohl das weder Eltern noch Lehrpersonen von ihnen erwarten. Wie Mütter und Väter mit deren innerem Druck am besten umgehen.
Text: Stefanie Rietzler

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Alles könnte so entspannt sein: Das Kind lernt fleissig, bringt gute Noten nach Hause, ist zuverlässig. Doch hinter dieser Fassade versteckt sich nicht selten ein immenser innerer Druck, begleitet von der Angst, nicht zu genügen, Fehler zu machen oder die Erwartungen der Eltern und Lehrkräfte nicht zu erfüllen. Perfektionistische Kinder leisten meist viel – und zweifeln trotzdem dauernd an sich selbst.

Wenn Eltern merken, wie sehr sich ihr Kind unter Druck setzt, möchten sie oft beruhigen, trösten, relativieren. Doch manche gut gemeinten Sätze können dabei genau das Gegenteil bewirken. Sehen wir uns vier Botschaften an, die perfektionistische Kinder und Jugendliche oft noch mehr unter Druck setzen, als ihnen zu helfen – und was stattdessen stärkend wirkt.

Noten sind für perfektionistische Kinder ein Spiegel ihres ­Selbstwerts. Sie glauben: «Ich bin nur dann liebenswert, wenn ich gut bin.»

1. Satz: «Es gibt keinen Grund, sich solche Sorgen zu machen!»

Diese Aussage kommt schnell – und ist gut gemeint. Schliesslich ist objektiv doch alles paletti! Das Kind hat sich umfassend auf seinen Test vorbereitet, die Noten sind gut, es kann doch alles! Aber ein perfektionistisches Kind empfindet das ganz anders. Es ist gefangen in seinem Strudel aus Selbstzweifeln, Versagensangst und dem Gefühl, nicht zu genügen.

Bagatellisiert man seine innere Realität von aussen, so fühlt sich das Kind rasch unverstanden und allein. Es erfährt: «Du übertreibst – deine Gefühle sind nicht berechtigt.» Damit verstärken wir Erwachsenen ungewollt sein Minderwertigkeitsgefühl: «Ich genüge nicht! Nicht mal richtig denken und fühlen kann ich!»

Um perfektionistische Kinder zu stärken, müssen wir ihnen die Möglichkeit geben, selbst zu erkennen, dass ihre Angst vor Fehlern und schlechten Noten unverhältnismässig ist. Eltern können dazu beispielsweise interessiert nachfragen: «Dieser Test beschäftigt dich sehr, gell? Magst du mir erzählen, was dir durch den Kopf geht?»

Viele Schülerinnen und Schüler profitieren davon, wenn man ihre perfektionistischen Sorgen und Ängste in eine Figur verwandelt. In unserem Roman «Du schaffst das, Merle!» entdeckt die perfektionistische Ente Merle ihren «Tyrannicus»: die harte und verurteilende innere Stimme, die sich immer dann einschaltet, wenn es Leistungen zu erbringen gilt. Indem sie die düstere Gestalt zunächst zeichnet und sich deren Aussagen aufschreibt, gewinnt sie mehr Distanz dazu.

Wenn wir perfektionistischen Kindern helfen möchten, müssen wir lernen, ihnen zuzuhören: Was bedeutet eine Note für dich? Und was passiert, wenn du schlecht abschneidest?

Auch Sie können Ihr Kind fragen: «Was sagt diese strenge innere Stimme genau? Wie könnte sie aussehen und heissen?» In einem zweiten Schritt können Sie miteinander überprüfen: «Ist es wirklich wahr, was dieser innere Kritiker sagt? Und tun mir diese Sätze gut?»

2. Satz: «Ach komm, es ist nur eine Note!»

Eine prüfungsängstliche Coaching-Klientin meinte: «Ich hasse den Satz «Ach komm, es ist doch bloss eine Note!». Was bleibt von mir denn übrig, wenn nicht mal meine Noten noch was wert sind?»

Noten sind für perfektionistische Kinder nicht einfach Momentaufnahmen ihrer Leistung. Sie sind viel mehr als das – ein Spiegel ihres Selbstwerts. Sie glauben: «Ich bin nur dann liebenswert, wenn ich gut bin.» Gerade wenn ein Kind sich für eine Prüfung ins Zeug gelegt hat, dafür auf Hobbys, Freizeit oder Schlaf verzichtet hat, dann steht hinter dieser Note auch ein immenser Preis. Dann möchte es zumindest den Eindruck haben, dass diese ganze Plackerei etwas gebracht hat.

Wenn wir perfektionistischen Kindern helfen möchten, müssen wir lernen, ihnen zuzuhören: «Was bedeutet eine Note für dich? Und was passiert, wenn du schlecht abschneidest? Wer wäre dann enttäuscht? Glaubst du, dass du ein bestimmtes Ziel deswegen nicht erreichen kannst – und ist das so? Sorgst du dich um die Reaktion von uns Eltern oder der Lehrkräfte? Um das Gefühl, weniger wert zu sein?»

Nur wenn wir die Befürchtungen verstehen, die hinter einer möglichen schlechten Note stecken, lassen sich diese auch überprüfen und gegebenenfalls relativieren. Ist unser Kind von einer Note enttäuscht, können wir da sein: «Du hast dich so reingehängt und auf so vieles verzichtet, um für diesen Test zu lernen … Du hättest dir ein anderes Ergebnis gewünscht …»

3. Satz: «Du schaffst das!»

Was als Ermunterung gemeint ist, kann bei perfektionistischen Kindern immensen Druck aufbauen. Denn: «Was ist, wenn ich es diesmal nicht schaffe? Was, wenn meine Erfolgsserie reisst?» Der Satz «Du schaffst das» fühlt sich dann an wie die unausgesprochene Erwartung, dass Scheitern keine Option ist.

Stattdessen können wir unserem Kind vermitteln: «Wir sind für dich da – auch wenn es nicht klappt. Keine Note der Welt ändert etwas daran, wie lieb wir dich haben.» So erfährt unser Kind, dass nicht seine Leistung über Liebe und Zuwendung entscheidet.

Perfektionistische Kinder brauchen vor allem die Rückversicherung: «Ich bin okay, auch wenn ich mal Fehler mache.»

4. Satz: «Hey super! Ich wusste doch, dass du es kannst!»

Viele Eltern perfektionistischer Kinder erleben immer wieder dieselbe Situation: Ihr Kind kommt nach einem Test entmutigt nach Hause und ist überzeugt, schlecht abgeschnitten zu haben. Wenig später folgt dann doch die gute Note.

«Glaub doch endlich an dich!», möchte man dem Kind zurufen. Aber es kann nicht an sich glauben. Denn seine guten Leistungen tut es als Zufall oder Glück ab, als Ergebnis eines angeblich einfachen Tests oder der netten Korrektur der Lehrkraft. Seinen eigenen Beitrag am Erfolg blendet es aus.

Doch das Kind nun übermässig für seine guten Noten zu loben, um sein Selbstvertrauen aufzubauen, geht meist nach hinten los. Denn derlei Lobeshymnen können den bedingten Selbstwert befeuern – das Empfinden, nur dann wertvoll zu sein, wenn man gute Leistungen zeigt.

Welche Alternative haben wir? Dem Kind Raum geben, um selbst zu reflektieren – ohne seine Leistung sofort einzuordnen oder zu bewerten! Wir können dazu Fragen der folgenden Art stellen: «Wie ist es für dich gelaufen? Bist du zufrieden? Was ist dir gut gelungen? Was hast du zum Erfolg beigetragen?»

Fazit: Zuhören statt werten

Perfektionistische Kinder brauchen vor allem die Rückversicherung: «Ich bin okay, auch wenn ich mal Fehler mache.» Wenn wir ihnen dieses Gefühl vermitteln, wenn wir zuhören statt werten, wenn wir an ihrer Seite sind – auch im Zweifel und in der Enttäuschung –, dann helfen wir ihnen, auch mit sich selbst etwas sanfter umzugehen. Und mit der Zeit wird es vielleicht ein wenig leichter, sich mit der eigenen Unvollkommenheit auszusöhnen.

Buchtipp

Buchtipp für perfektionistische Kinder
Stefanie Rietzler, Fabian Grolimund: Du schaffst das, Merle! Hogrefe 2025, 440 Seiten, ca. 34 Fr. Altersempfehlung: 7 bis 12 Jahre (erscheint am 10.11.2025)