Zwei Väter schwimmen mit ihren Kindern zu einer Sprungplattform im See. Nach einer kurzen Verschnaufpause nimmt der eine Vater Anlauf und springt mit einem Kopfsprung ins Wasser, seine Tochter tut es ihm beherzt gleich. Das zweite Mädchen zögert – und nimmt dann die Leiter. Sein Vater drängt es nicht, er hat es selbst nicht so mit dem Springen. Der andere Vater lacht die beiden aus und ruft: «Haha, die trauen sich nicht!»
Überall lesen Eltern heute, wie wichtig es ist, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen ihrer Kinder zu stärken. Nur: Welche Rolle spielt dabei das eigene Selbstvertrauen? Muss man als Vater auch in den See springen, nur damit man dem Kind ein gutes Vorbild ist?
Jedes Kind bringt von Geburt an seine eigenen Charakteranlagen mit.
Patrizia Luger, Fachfrau Betreuung Kind
Hat man als Mutter das Selbstvertrauen des Kindes zu wenig gestärkt, wenn es sich nicht traut, in einer Musicalaufführung eine Solorolle zu übernehmen – obwohl es eine schöne Stimme hat? Oder sind solche Persönlichkeitsmerkmale genetisch bedingt, weshalb die einen gern allein auf der Bühne stehen, während die anderen sich im grossen Chor wohler fühlen?
Was andere zu uns sagen
Gerade Eltern mehrerer Kinder beobachten ja durchaus: Während Kind eins lebhaft jeden Fremden in ein Gespräch verwickelt, hält sich Kind zwei lieber zurück und lässt die Eltern die Glace bestellen. «Jedes Kind hat seine eigenen Charakteranlagen, die es von Geburt an mitbringt», sagt Patrizia Luger, die für Kinderschutz Schweiz arbeitet.
Wie sich diese Anlagen entfalten, darauf haben Eltern und ihre Beziehung zum Kind einen entscheidenden Einfluss. «In den ersten Lebensjahren entsteht unser Selbstbild primär aus dem, was andere zu uns sagen», sagt die Psychologin Marion Lemper-Pychlau aus Königstein im Taunus (D).
Sich selbst akzeptieren
Sie bezeichnet das als «Riesenchance für die Eltern, aber auch als wahnsinniges Risiko für die Kinder». Sätze wie «Du wirst mal ein toller Fussballer!» oder «Was kannst du schön malen!» bleiben unterbewusst genauso bei den Kindern hängen wie «Du bist immer so laut!» oder «Deine Geschwister konnten in dem Alter schon längst schwimmen».
Fühlt man sich von den Eltern so geliebt und wertgeschätzt, wie man ist, hat das einen positiven Einfluss auf das Selbstwertgefühl. Menschen mit einem guten Selbstwertgefühl sind in der Lage, sich so anzunehmen, wie sie sind. Wenn sie etwas an ihrer Persönlichkeit stört, werden sie aktiv und versuchen, es zu ändern. Der Glaube daran, dass sie das schaffen, entsteht wiederum aus dem Selbstvertrauen. Das ist die Fähigkeit, eigene Stärken und Schwächen zu kennen und Kompetenzen wie Grenzen gut einschätzen zu können.
Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen gemeinsam bilden nach aussen hin das, was als Selbstbewusstsein wahrgenommen wird. Von daher kann es selbstbewusst sein, in den See zu springen. Es kann aber genauso selbstbewusst sein, sich hinzustellen und zu sagen: Das mache ich nicht. Entscheidend ist, wie man sich selbst dabei fühlt – und wie man mit den Reaktionen des Umfelds umgeht. Dafür legen die Eltern die Grundlagen.
Besonders in den ersten drei Lebensjahren können Eltern bei ihrem Kind das Fundament für Vertrauen und ein positives Selbstbild legen.
Sabine Kinzer, Fachfrau Erziehung
Schwer, sich abzugrenzen
«Besonders in den ersten drei Lebensjahren können Eltern bei ihren Kindern durch eine sichere und liebevolle Bindung das Fundament für emotionale Sicherheit, Vertrauen und ein positives Selbstbild legen», sagt Sabine Kinzer, die als Fachfrau Erziehung in der Elternberatung für die frühe Kindheit der Stiftung Pro Juventute arbeitet – einer Anlaufstelle, die unter der Woche abends und am Samstagmorgen telefonisch sowie jederzeit per Chat erreichbar ist.
Entwickeln Kinder kein gesundes Selbstwertgefühl, fällt es ihnen schwerer, sich von anderen abzugrenzen und sich nicht von allem beeinflussen zu lassen. Sie springen trotzdem in den See, obwohl sie vielleicht Panik unter Wasser bekommen. Oder zweifeln stark an sich, wenn sie sich nicht trauen.
Gemeinhin gehen sie weniger optimistisch durchs Leben und haben es schwerer, Beziehungen zu anderen aufzubauen. Stress und Rückschläge können nicht so gut bewältigt werden oder man meidet Herausforderungen gleich – aus Angst, diese ohnehin nicht meistern zu können. «Im Erwachsenenalter kann das sowohl das Berufs- wie auch das Privatleben stark beeinflussen», sagt Marion Lemper-Pychlau.
Der Selbstwert kann schwanken
Auch mit der Kindererziehung tun sich Eltern schwerer, denen diese Persönlichkeitskompetenzen fehlen. «In Erziehungsfragen brauche ich eine klare Haltung. Wenn ich mich leicht von anderen beeinflussen lasse oder bei den eigenen Kindern aus Unsicherheit ständig nachgebe, werde ich mich schnell überfordert und gestresst fühlen», sagt Patrizia Luger. Sie leitet das Programm «Starke Eltern, starke Kinder». In diesen Kursen werden Eltern dabei unterstützt, ihren Alltag selbstbewusster anzugehen, um ihr Kind entsprechend stärken zu können.
Denn im Gegensatz zu Kompetenzen wie Lesen oder Velofahren können Selbstwertgefühl oder Selbstvertrauen auch wieder ins Wanken kommen oder verloren gehen. «Persönlichkeitskompetenzen sind eine sehr fragile Angelegenheit», sagt Marion Lemper-Pychlau. Das bedeutet: Selbst wenn Kinder von Haus aus einen guten Selbstwert mitbekommen, kann dieser im Erwachsenenalter ins Schwanken geraten – beispielsweise durch eine Krankheit, eine Trennung, eine Kündigung im Beruf oder durch ständiges Vergleichen in den sozialen Medien.
Sich selbst beim Denken zuschauen
Dadurch, dass das Selbstwertgefühl keine statische Grösse ist, eröffnet sich aber auch die Chance, lebenslang an den Persönlichkeitskompetenzen arbeiten zu können. «Eltern können sich jederzeit selbst entwickeln und etwas verändern. Dafür müssen sie sich aber gut kennen», so Patrizia Luger.
Als Übung dazu empfiehlt Marion Lemper-Pychlau, sich «häufiger selbst beim Denken zuzuschauen». Wie ist es um den eigenen Selbstwert bestimmt? Was geht in mir vor, wenn ich merke, dass mein Kind nicht wie die anderen Kinder in den See springt? Mache ich mir viele Gedanken darüber, was die anderen Kinder und Eltern von ihm und auch von mir denken? Oder ist mir das egal?
Glaubenssätze aus dem Elternhaus
Und wie wirkt sich mein Selbstwert auf den Umgang mit meinem Kind aus? Dränge ich es, Dinge zu tun, nur damit ich oder das Umfeld zufrieden sind? («Los, spring, sei kein Angsthase!») Bin ich dazu in der Lage, mein Kind zu bestärken? («Wir können ja auf die Plattform klettern und ins Wasser schauen. Vielleicht magst du es in Ruhe probieren, wenn nicht so viele Leute dabei sind.») Oder halte ich Neues, Herausforderungen oder Risiken eher von ihm fern? («Das ist viel zu gefährlich. Was da alles passieren kann!»)
«In einem weiteren Schritt mache ich mir klar, welche Werte für mich und meine Familie wirklich wichtig sind», sagt Patrizia Luger. Bei ihrer täglichen Arbeit beobachtet sie immer wieder, wie viele Eltern nach Glaubenssätzen leben, die gar nicht ihre eigenen sind, sondern aus dem Elternhaus übernommen wurden.
«Nur weil dort Ordnung und Sauberkeit eine grosse Rolle spielten, muss ich mich ja nicht schlecht fühlen, wenn das bei mir zu Hause nicht so ist. Vielleicht ist es mir dafür wichtiger, mehr Zeit mit meinen Kindern zu verbringen», nennt Luger ein Beispiel.
Der Einfluss von Social Media
Ebenfalls hilfreich für die Arbeit am eigenen Selbstwert: sich nicht ständig vor Augen halten, was man alles nicht schafft oder nicht erreicht hat. «Wir alle haben Erfolge, auf die wir stolz sein dürfen. Man muss nur die Wahrnehmung darauf richten und sich auch immer wieder Aspekte wie einen Partner, gesunde Kinder oder Freundinnen vor Augen halten», sagt Marion Lemper-Pychlau.
In diesem Zusammenhang sind auch die sozialen Medien zu erwähnen. Über Plattformen wie Instagram sind all die vermeintlich perfekten Mütter – und vereinzelt auch Väter – nur einen Klick weit entfernt. Das kann man lustig finden, weil man die Inszenierung durchschaut oder es einem schlicht egal ist, wie andere Familien leben. «Sehr viele Eltern aber zweifeln an sich, wenn sie solche Bilder sehen», sagt Sabine Kinzer. «Denn diese ständig verfügbare Vergleichbarkeit mit anderen ist eine grosse Herausforderung für das Selbstwertgefühl.»
Sich ein positives Umfeld suchen
Marion Lemper-Pychlau empfiehlt, Abstand zu Dingen und Personen zu nehmen, die einen runterziehen, einem das Gefühl geben, minderwertig zu sein, oder umgekehrt missgünstig auf die eigenen Erfolge reagieren – und sich stattdessen aus Selbstschutz ein positives Umfeld zu suchen. Selbst auf Instagram gibt es inzwischen jede Menge Eltern, die nicht ihr vermeintlich perfektes Familienidyll inszenieren, sondern ganz ungeschminkt Augenringe, zornige Kinder und verwüstete Küchen zeigen.
Jeder Mensch hat seine eigenen Stärken und Schwächen und macht seine Fehler. Das ist völlig okay.
Sabine Kinzer, Fachfrau Erziehung
Auch Sabine Kinzer unterstützt in ihren Beratungen die Eltern dabei, sich mehr auf sich selbst und ihre eigene Wertschätzung zu konzentrieren – statt sich ständig mit anderen zu vergleichen oder den Selbstwert nur über Leistung zu definieren.
«Jede Familie ist anders, hat ein eigenes System. Jeder Mensch hat seine eigenen Stärken und Schwächen und macht seine Fehler. Das ist völlig okay», lautet ihre wichtigste Botschaft. «Und wenn ich mal nicht weiterweiss, darf ich mir eingestehen, dass ich Hilfe brauche – ohne mich dafür schlecht fühlen zu müssen.»
Resilienz
Selbstwert und Selbstvertrauen sind ein wichtiger Schlüssel bei der Entwicklung von Resilienz. Wer sich selbst positiv sieht, an sich glaubt und weiss, was er alles kann, traut sich auch eher, neue Dinge auszuprobieren – selbst wenn diese nicht auf Anhieb klappen. Wenn man es aber wieder und wieder versucht, dann stellt sich irgendwann ein Erfolgserlebnis ein – welches wiederum das Selbstbewusstsein stärkt.
Auch soziale Kontakte tragen dazu bei, dass Menschen resilient sind. Bei Treffen mit Freunden und bei sozialen Aktivitäten mit der Familie, im Verein oder beim Sport kann man Stress abbauen und positive Energie tanken.
Weitere Einflussfaktoren
Wenngleich alle drei Expertinnen betonen, wie gross die Bedeutung der Eltern bei der Entwicklung von Selbstwert und Selbstvertrauen ihrer Kinder ist, so sagen sie auch: Es gibt noch andere Einflussfaktoren.
«Kinder haben weitere enge Bezugspersonen wie Grosseltern, Geschwister oder Lehrpersonen», sagt Patrizia Luger. Auch diese können Kinder in ihrem Tun bestätigen und stärken – genauso wie sie ihrem Selbstwert schaden können.
«Und selbst in der Kernfamilie werden die meisten Kinder heute durch die stärkere Präsenz ihrer Väter schon durch zwei Erwachsene mit oft ganz unterschiedlichen Eigenschaften und Kompetenzen geprägt», so Patrizia Luger.









