«Die Paarbeziehung hat einen wesentlichen Einfluss auf die kindliche Entwicklung»

Lesedauer: 10 min
Kinder- und Jugendarzt Oskar Jenni und seine Partnerin, Entwicklungspsychologin Patricia Lannen, haben ihr erstes gemeinsames Buch veröffentlicht. «Miteinander reden» besteht aus 101 Fragen, die Eltern dazu einladen sollen, innezuhalten und das Elternsein bewusster zu erleben.
Interview: Maria Ryser und Lisa Groelly

Bilder: Cate Brodersen

Frau Lannen, Herr Jenni, Paarbücher gibt es wie Sand am Meer. Warum braucht es noch eines?

Lannen: Das Buch ist kein klassischer Ratgeber, sondern ein Leitfaden für gemeinsame Gespräche eines Elternpaares. Es gibt zwar viele Gesprächskarten und Fragespiele für Paare. Doch darin kommen Kinder meist nicht vor. Dabei nehmen Kinder einen so grossen Teil der Gedankenwelt und des Alltags eines Elternpaares ein. Unser Buch füllt eine Lücke.

Jenni: In meinen Sprechstunden habe ich mich schon oft gefragt: Was machen wohl diese Eltern, damit es ihnen als Paar gut geht? Mir fehlte bislang ein Werkzeug, das ich ihnen an die Hand geben konnte, damit sie wieder miteinander ins Gespräch kommen. Etwas, das ihnen hilft, das Paarsein sowie die Beziehung zum Kind zu reflektieren und zu stärken.

Wie sind die 101 Fragen denn entstanden? 

Jenni: Wir waren in einem Restaurant und haben während des Essens begonnen, erste Versionen der Fragen auf die Menükarte zu kritzeln. Wir haben uns überlegt, in welchen unterschiedlichen Rollen sich Paare befinden, die Kinder haben. So kam es zu den vier Kategorien Paarsein, Elternsein, Kind und Familie. Und dann haben wir die Fragen über viele Monate ergänzt und immer wieder überarbeitet.

Wenn Kinder sehen und spüren, dass Eltern einen wertschätzenden Umgang miteinander pflegen, ist das ein wertvolles Lernfeld für die Kinder.

Patricia Lannen

Lannen: Unsere persönlichen Erfahrungen sind zwar in die Fragen eingeflossen, doch wir haben sie primär aus unserem Fachwissen heraus formuliert. Welche Konzepte gibt es in der Entwicklungspsychologie? Welche Entwicklungsaufgaben haben die Kinder? Wie können Eltern diese begleiten? 

Es handelt sich also nicht um allgemeine Fragen, wie: «Was ist dein Lieblingsessen?»

Jenni: Die Fragen möchten einen vertieften Dialog zwischen den Eltern ins Rollen bringen. Zum Beispiel: Warum liebst du mich eigentlich? Welche Situationen handhaben wir unterschiedlich? Was hat unser Kind stark geprägt? Sie sollen Eltern dabei unterstützen, in einen Austausch zu kommen, der darüber hinausgeht, wer das Kind aus der Kita abholt oder sich um die Hausaufgaben kümmert.

Patricia Lannen: 101 Fragen für starke Eltern und glückliche Kinder
Patricia Lannen ist Entwicklungspsychologin und klinische Psychologin. Seit 2023 leitet sie das Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI), das zu den renommiertesten Institutionen für die Frühe Kindheit im deutschsprachigen Raum zählt. Patricia Lannen lebt in Basel und ist Mutter einer Tochter und eines Sohnes im Teenageralter.

Lannen: Zugleich regt unser Buch dazu an – und das geht im Alltagstrubel schnell verloren –, die Welt aus der Perspektive des anderen zu sehen und voneinander zu lernen. Wenn man den anderen versteht, ist es viel einfacher, liebevoll miteinander umzugehen.

Das Buch hat etwas Verspieltes und ist farbenfroh gestaltet. Ist die Reihenfolge, in der sich ein Paar die Fragen stellt, offen?

Lannen: Ja, absolut. Nicht jede Frage ist zu jedem Zeitpunkt relevant. Manchmal passt eine Frage auch schlicht nicht, dann lässt man sie aus. Die Leserinnen und Leser entscheiden selbst, was sie teilen möchten und was nicht. 

Kommunikation ist wie ein Muskel, den man trainieren muss.

Oskar Jenni

Wie soll das Buch genutzt werden? Liegt es auf dem Nachttisch, und jeden Abend vor dem Schlafengehen pickt man eine Frage raus?

Lannen: Das wäre eine Möglichkeit. Gemeinsame Rituale sind sehr wertvoll – für ein Paar, aber auch für Kinder und die ganze Familie. Die Art und Weise, wie man das Buch einsetzen möchte, soll jedes Paar für sich selbst herausfinden. Wir machen da keine Vorgaben.

Jenni: Unsere Erfahrung ist, dass vielen Elternpaaren der Gesprächsstoff fehlt, wenn sie endlich einmal Zeit füreinander hätten. Es findet kein Dialog statt, weil sie nicht wissen, wo sie anknüpfen sollen. Hier kann das Buch auf eine erfrischende Weise Anstösse geben.

Oskar Jenni: 101 Fragen für starke Eltern und glückliche Kinder
Oskar Jenni ist Kinder- und Jugendarzt. 2005 übernahm er in der Nachfolge von Remo Largo die Leitung der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich. Jenni ist Autor mehrerer Sach- und Fachbücher sowie Herausgeber des Spiegel-Bestsellers «Kindheit – eine Beruhigung». Oskar Jenni lebt in Basel und ist Vater von vier erwachsenen Söhnen.

Lannen: Am besten startet man damit in einer ruhigen, entspannten Phase. So hat man ein Polster, auf das man zurückgreifen kann, wenn es stürmisch wird.

Jenni: Kommunikation ist wie ein Muskel, den man trainieren muss. Wir haben im Buch daher ein paar Regeln beschrieben, die einen konstruktiven Austausch fördern.

Zum Beispiel?

Lannen: Gedanken und Gefühle in Ich-Botschaften ausdrücken, Negatives respektvoll und ohne Aggression vermitteln sowie dem Gegenüber aufmerksam zuhören, ohne ständig zu unterbrechen.

Man muss einen sicheren Raum schaffen können und wissen: Was immer ich teile, ist hier sicher.

Patricia Lannen

Jenni: Auch Zuhören braucht Übung. Statt sofort mit einem Gegenargument wie «Nein, das stimmt doch gar nicht!» zu reagieren, sollte man innehalten, das Gesagte annehmen und gezielt nachfragen.

Lannen: Zum Beispiel so: «Das habe ich nicht ganz verstanden. Könntest du mir mehr darüber erzählen?» Eine häufige Falle in der Kommunikation ist das Pauschalisieren, etwa mit Sätzen wie: «Du bist immer so. Du sagst immer das und das.» Besser ist es, auf eine konkrete Situation Bezug zu nehmen: «In dieser Situation habe ich mich so und so gefühlt.»

Was ist sonst noch wichtig?

Lannen: Es braucht einen Safe Space. Man muss einen sicheren Raum schaffen können und wissen: Was immer ich teile, ist hier sicher. Das heisst, was im offenen Austausch erzählt wird, wird in einer spannungsgeladenen Situation nicht gegen mich verwendet.

Jenni: Das Buch ersetzt keine Therapie. Wenn sich ernsthafte Probleme zeigen, sollten sich die Betroffenen unbedingt Hilfe holen.

Mit der Geburt des ersten Kindes nimmt die Beziehungsqualität eines Paares rapide ab.

Oskar Jenni

Ist das Buch nicht eher privilegierten Eltern vorbehalten, die es sich leisten können, Raum dafür zu schaffen?

Jenni: Nein, ich glaube, es ist sogar extrem wichtig für alle Eltern. Gerade auch für jene, die stark belastet sind, ist es entscheidend, sich Zeit füreinander zu nehmen.

Trotzdem: Wie bringen Sie Eltern dazu, sich im hektischen Familienalltag regelmässig die Zeit für einen solchen Austausch zu nehmen?

Lannen: Eltern sind für ihre Kinder lange die wichtigsten Vorbilder. Wenn Kinder sehen und spüren, dass Eltern einen wertschätzenden, liebevollen Umgang miteinander pflegen, und auch erfahren, wie man mit Spannungen umgeht, ist das ein wertvolles Lernfeld für sie.

Jenni: Was wir nicht vergessen dürfen: Die Paarbeziehung hat einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes und das kindliche Wohlbefinden. Starke Eltern haben glückliche Kinder. Und weil mit der Geburt des ersten Kindes die Beziehungsqualität eines Paares rapide abnimmt, tun Eltern gut daran, früh damit zu beginnen.

Dann gehört das Buch bereits in die Geburtsvorbereitung?

Jenni: Genau, das Buch gehört eigentlich in den Mama-Koffer, damit sich werdende Mütter und Väter schon vor der Geburt damit auseinandersetzen können.

Infos zum Buch

Patricia Lannen, Oskar Jenni: Miteinander reden. 101 Fragen für starke Eltern und glückliche Kinder. Kein & Aber 2025. Hardcover, 11x15 cm, 240 Seiten, ca. 25 Franken. Hier können Sie das Buch bestellen.
Miteinander Reden: 101 Fragen für starke Eltern und glückliche Kinder

Eine Frage lautet: «Wo siehst du uns in 20 Jahren?» Ist das nicht ein etwas langer Zeithorizont?

Lannen: Viele Paare fragen sich, wo sie in fünf oder zehn Jahren stehen, also mittelfristig. Den Bogen in eine andere Lebensphase zu spannen, kann ganz neue Perspektiven aufzeigen, vielleicht auch unerwartete Wünsche offenlegen und ganz neue Möglichkeiten schaffen. Das «uns» verstehen wir so, dass man sich fragen kann: Wo möchtest du für dich ganz allein hin? Wo möchte ich hin? Und wo möchten wir gemeinsam als Paar hin?

Jenni: Diese Frage ist auch spannend für Paare, die schon lange zusammen sind und sich gut kennen. Häufig besteht die unausgesprochene Annahme, man wisse genau, was der andere möchte oder wie er die Dinge sieht. Dabei verändern sich Menschen ein Leben lang.

Maria Ryser und Lisa Groelly im Gespräch mit Oskar Jenni und Patricia Lannen.
Maria Ryser (links) und Lisa Groelly beim Interview mit Oskar Jenni und Patricia Lannen im Innenhof des neuen Universitäts-Kinderspitals Zürich.

Drei Fragen aus dem Buch würden wir Ihnen gern persönlich stellen. Die erste, die sicher viele Eltern beschäftigt, ist: «Wie schaffen wir uns Paarinseln?» 

Lannen: Bei uns ist es die Viertelstunde beim Kaffeetrinken am Morgen, bevor die Kinder wach sind. Diese nehmen wir uns ganz bewusst. Oder wir bleiben nach dem Abendessen oft eine Viertelstunde länger sitzen und tauschen uns aus. Am Sonntagabend reden wir meist darüber, was uns in der vergangenen Woche bewegt hat und was uns in den kommenden Tagen erwartet.

Jenni: Es braucht also nicht zwingend einen festen Abend pro Woche ohne Kinder oder gar ein gemeinsames Wochenende zu zweit. Wenn man sich regelmässig fünfzehn Minuten bewusste Paarzeit nimmt, macht das schon einen grossen Unterschied.

Die nächste Frage: «Was hat dich am Elternsein am meisten überrascht?»

Lannen: Ich staune bis heute, wie verschieden meine Kinder sind: Was für das eine gut ist, funktioniert für das andere überhaupt nicht. Das fordert mich als Mutter immer wieder heraus. Aus diesem Grund haben wir die Fragen im Kapitel zum Kind auch bewusst in der Einzahl gestellt. Man soll sie für jedes Kind individuell beantworten.

Als Eltern muss man lernen, Erwartungen auch mal vorbeiziehen zu lassen – insbesondere jene an die eigenen Kinder.

Oskar Jenni

Jenni: Mich hat am meisten überrascht, wie stark mich die Elternschaft verändert hat. Als junger Mensch war ich sehr aktiv und umtriebig. Durch das Vatersein habe ich gelernt, Gelassenheit als innere Grundhaltung zu entwickeln. Gelassenheit bedeutet nicht, passiv oder gleichgültig zu sein, sondern vielmehr, Erwartungen auch mal vorbeiziehen zu lassen – insbesondere jene an die eigenen Kinder. Es geht darum, zu akzeptieren, dass nicht immer alles so läuft, wie man es sich wünscht, und auch die eigenen Emotionen und Ängste regulieren zu lernen.

Oskar Jenni und Patricia Lannen im Gespräch
«Eltern sind lange Zeit die wichtigsten Vorbilder für ein Kind», betonen Oskar Jenni und Patricia Lannen.

Zur dritten Frage: «In welchen Situationen bist du ganz für dein Kind da?»

Lannen: Bei mir waren es die unzähligen Stunden, die ich in Rollenspielen mit meinen Kindern verbrachte, zum Beispiel als Frosch oder als zufällige Bekannte, die zur Freundin meiner Tochter wurde. Beim Eintauchen in gemeinsame Fantasiewelten spürte ich, dass meine Kinder sich geliebt und gesehen fühlen. Jetzt im Teenageralter sind es bei meinem Sohn jene Momente, in denen wir gemeinsam auf dem Sofa sitzen und eigentlich nichts tun, sondern einfach zusammen sind und reden. Für meine 17-jährige Tochter, die bereits sehr selbständig ist, bin ich jederzeit erreichbar und reagiere auch mitten in einer Sitzung, wenn sie mich anruft. In diesem Moment bin ich voll und ganz für sie da; danach gehen ihr und mein Leben wieder weiter.

Jenni: Früher waren es die Momente vor dem Einschlafen, in denen ich meinen Söhnen besonders nahe war. Heute, als junge Erwachsene, brauchen sie mich auf eine ganz andere Weise. Oft kommen sie unerwartet auf mich zu, wenn sie Rat oder Unterstützung suchen. Ich muss akzeptieren, dass sie sich nur dann melden, wenn sie mich wirklich brauchen. Man spricht ja von Chronos, der Dauer, und Kairos, dem günstigen Moment. Während bei kleinen Kindern vor allem Chronos zählt, ist es bei Jugendlichen Kairos.

War es nie ein Thema, auch Antworten auf die Fragen zu geben?

Jenni: Das haben wir uns überlegt, aber schnell wieder verworfen, denn jedes Paar soll mit seinen Antworten eine eigene Geschichte schreiben.

Lannen: Bei den meisten Fragen ist eine generelle Antwort schlicht nicht möglich. Zum Beispiel: «Warum liebst du mich eigentlich?» Da gibt es zum Glück tausend Antworten.

Man kann wohl nicht genug betonen, dass es viel Arbeit bedeutet, eine Beziehung zu pflegen. Es ist ein Üben und Dranbleiben.

Lannen: Genau, und was ist die Arbeit? Die Arbeit ist, sich Zeit zu nehmen füreinander. Und sich auszutauschen.