Frau Ambauen, als Eltern geben wir unsere Prägungen oft unbewusst weiter. Wie merkt man, was die eigenen Prägungen sind?
Indem man sich selbst beobachtet, Muster erkennt und versteht, welche Glaubenssätze man hat.
Was sind Glaubenssätze?
Das sind Überzeugungen, die unser Denken und Handeln leiten. Wenn wir klein sind, schauen wir vor allem in der Herkunftsfamilie ab, wie sich die anderen verhalten. Das Kind merkt, wofür es gelobt oder bestraft wird, wann die Bezugspersonen stolz sind und in welchen Situationen sie enttäuscht reagieren. Es registriert, dass es in seinem System ein richtiges und ein falsches Verhalten gibt, und speichert unbewusst Glaubenssätze ab. Es gibt hilfreiche Glaubenssätze und solche, die später unsere Beziehungen verkomplizieren.

Wie können solche Glaubenssätze lauten?
Stark machen können Sätze wie «Man findet immer eine Lösung», «Es gibt mehr als eine Perspektive» oder «Schlafen wir erst mal darüber». Weniger hilfreich sind «Nur wenn ich leiste, bin ich wertvoll» oder «Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden».
Hat jeder Mensch hilfreiche und weniger hilfreiche Glaubenssätze?
Ja, aber in unterschiedlichen Ausprägungen. Es gibt Menschen, die auf 80 Prozent positive Glaubenssätze zurückgreifen können, und andere, die zu 80 Prozent Sätze verinnerlicht haben, die sie blockieren. Das ist eine völlig andere Ausgangslage. Positive Glaubenssätze helfen uns, psychisch gesund zu bleiben. Zu viele oder starke negative Glaubenssätze machen uns irgendwann krank.
Unter Druck reagieren Eltern oft so, wie sie es als Kind erfahren haben.
Wie entstehen Prägungen?
Positive Prägungen entstehen aus Erfahrungen, die uns als Kind gutgetan haben. Hilfreich ist es, wenn unsere Grundbedürfnisse gesehen und berücksichtigt wurden, wenn unsere Gefühle Platz hatten, gesunde Grenzen gewahrt wurden und unser Selbstwertgefühl dabei gestärkt wurde. Negative Schemata entstehen, wenn die emotionalen Grundbedürfnisse des Kindes nicht befriedigt wurden.
Wie gut stehen die Chancen, dass es gelingt, sich im Erwachsenenalter von negativen Prägungen zu befreien?
Aus meiner Erfahrung stehen die Chancen sehr gut, dass man nicht hilfreiche Muster zumindest abschwächen kann, wenn man das möchte und sich damit befasst. Wie gut das gelingt, hängt von vielen Faktoren ab. Je gravierender die Prägungen sind – zum Beispiel Traumata oder Bindungsstörungen –, desto hartnäckiger sind sie.
Keine gute Voraussetzung für das Bearbeiten von Mustern ist es auch, wenn man gerade in schwierigen Umständen steckt. Hat man den Job verloren oder lebt in einer belastenden Paarbeziehung, dann hat man wenig psychische Ressourcen. Der erste Schritt in der Therapie ist deshalb oft nicht die Analyse, sondern das Energie- und Spannungsmanagement. Man braucht aber nicht unbedingt eine Therapie, um sich von seinen Prägungen zu befreien.
Warum lohnt es sich, sich des eigenen Erbes bewusst zu werden?
Weil wir vieles erst so richtig verstehen, wenn wir wissen, wie wir es erworben haben. Vielen hilft es auch, liebevoller mit den eigenen Grenzen als Eltern umzugehen. Wenn man versteht, wie man zu der Person wurde, die man ist, kann man manchmal besser Abstand nehmen und gelassener sein als Mutter oder Vater. Viele kommen zu mir in Therapie, wenn sie Eltern werden.
In den ersten zehn Lebensjahre wird das Fundament unserer Prägung gelegt. Alles Weitere baut darauf auf.
Was passiert mit den eigenen Lebensbewältigungsmustern, wenn man Mutter oder Vater wird?
Mit der Elternschaft werden auf einen Schlag all unsere Bindungserfahrungen und -ängste aktiv. Unter Druck reagieren wir oft so, wie wir das in der Kindheit von unseren Bindungspersonen erfahren und gelernt haben.
Ist das ein Automatismus?
Ja. Wenn wir unter sehr hoher Spannung stehen, sind wir nicht mehr in der Lage, anders zu reagieren, als es unsere angestammten Muster vorgeben. Das kann man hirnphysiologisch erklären: Unter grossem Stress wird der präfrontale Kortex in seiner Funktion eingeschränkt – das erschwert klares Denken und rationale Entscheidungen. Wenn wir in diesem roten Bereich sind, müssen wir gar nicht versuchen, konstruktiv zu kommunizieren.
Muss man sich mit seiner Kindheit beschäftigen? Man könnte auch sagen: Ich erkenne das Muster und möchte es ändern, auch ohne zu wissen, wo es herkommt.
Das funktioniert auch. Man muss die Entstehung des Musters nicht unbedingt kennen, um es zu verändern. Meine Erfahrung ist aber, dass die Motivation zur Veränderung manchmal erst so richtig da ist, wenn man versteht, woher eine Verhaltensweise kommt, die einen stört. Wenn ich merke, dass ich das negative Muster wiederhole, das ich bei meinem Vater erlebt habe, macht es vielleicht noch mehr Sinn, der Sache auf den Grund zu gehen.
Wir sprechen hier von der Prägung während des Aufwachsens – was ist mit dem, was danach kommt?
Die ersten zehn Lebensjahre sind sehr wichtig, denn in dieser Zeit wird das Fundament unserer Prägung gelegt. Alles Weitere baut darauf auf.
Kinder brauchen keine perfekten Eltern – damit geben wir ihnen schon die nächsten Glaubenssätze mit.
Wie verhindere ich, dass mein Kind später seine Kindheit in einer Therapie aufarbeiten muss?
Abgesehen davon, dass eine Therapie nichts Schlimmes ist, können wir das nicht verhindern und müssen es auch nicht. Eltern sollten sich weniger Sorgen machen, dass sie ihren Kindern Negatives und Schwieriges mitgeben. Kinder brauchen keine perfekten Eltern – damit geben wir ihnen schon die nächsten Glaubenssätze mit.
Was haben Eltern in der Hand, was nicht?
Wir Eltern überschätzen unseren Anteil enorm. Wir können nicht alles beeinflussen. Wird das Kind in der Schule gemobbt, kann man zu Hause noch so wertschätzend sein. Auch wenn man von Armut betroffen ist, ein Kind mit Behinderung hat oder mit Rassismus konfrontiert ist, kommt ein riesiger Anteil negativer Prägung von aussen.
Die Werthaltungen in der Gesellschaft spielen eine Rolle. Was wir als Eltern sein sollten, ist ein sicherer Hafen, ein Puffer gegen die schwierigen Erfahrungen in der Welt, ein emotionales Daheim. Wenn Eltern ihre Muster verstehen wollen, gut zu sich schauen, ihre Kinder schätzen und in ihren Bedürfnissen hinreichend wahrnehmen, hat man getan, was man als Eltern tun muss.