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«Bei mir hättet ihr das nie durchgehen lassen»

Aus Ausgabe
11 / November 2025
Lesedauer: 3 min

«Bei mir hättet ihr das nie durchgehen lassen»

Erinnerung in Familiendingen ist ein Chamäleon, schreibt unsere Kolumnistin und fragt sich: Nimmt die Strenge in der Erziehung tatsächlich von Kind zu Kind ab?
Text: Mirjam Oertli

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Manchmal wird bei uns am Tisch gerülpst. Oder mit vollem Mund geredet, mit den Händen gegessen und sonst wie herumgehampelt. Ich spreche von den Kindern. Sie hatten alle ihre Phasen. Nur sehen das nicht alle so.

«Hey, könnt ihr endlich mal was sagen?», ruft die Älteste, als der Jüngste sich ­wieder mal unflätig benimmt. «Bei mir hättet ihr das nie durchgehen lassen!»

Ich behaupte, das stimmt so nicht. Aber Objektivität in Familiendingen ist eine unerreichbare Sache – und Erinnerung ein Chamäleon. Ihre jedenfalls. In meinem Rückblick kommen natürlich nur Fakten vor. «Ihr habt früher ebenfalls ziemlich herumgesaut», sage ich daher. Prompt kommt Gegenwind, nun auch von der Zweitältesten: «Bei uns wärt ihr längst ausgerastet!»

Während wir uns beim ersten Kind fleissig ans Erziehen machten, werden wir beim Jüngsten einfach nicht mehr bei jeder Provokation nervös.

Gut, aus ihrer Teenager-Perspektive ist schon ein leiser Seufzer Ausdruck verlorener Beherrschung. Doch sagen wir so: Während wir uns beim ersten Kind noch fleissig und belesen ans Erziehen machten – und nur etwas weniger auch beim zweiten –, werden wir beim Jüngsten einfach nicht mehr bei jeder Provokation nervös.

Bevor er zum Zappelphilipp werden könnte, der wie im «Struwwelpeter» alles vom Tisch fegt, greifen wir aber auch bei ihm durch. «Jetzt hör aber uf!», sagen wir dann. Genau wie früher. Oder fast.

Erziehung mit zwei Ausrufezeichen

Vielleicht wars früher: «Jetzt hör aber uf!!» Ein Ausrufezeichen mehr, doch mehr genützt hats trotzdem nicht. Auch wenn die Grossen offenbar in diesem kleinen Zeichen das ganze Spektrum zwischen Nichtstun und schwarzer Pädagogik vermuten.

«Teenager!», könnte man da sagen und ausrasten, also leise seufzen. Meistens mache ich das auch. Nur manchmal wirkt so eine Diskussion nach. Es reicht dann eine Zufälligkeit, ein altes Foto etwa, und das eine führt zum anderen und schliesslich zum kleinen Faktencheck.

Womöglich liegen die Unterschiede in der Erziehung von Geschwistern weniger in dem, was man sagt. Sondern mehr in dem, was man von ihnen erwartet. 

So fiel mir kürzlich ein, wie riesig mir die Älteste plötzlich schien, nachdem der Jüngste zur Welt gekommen war. Seither bin ich nicht mehr sicher. Schon möglich, dass wir von ihrer siebenjährigen Version Manieren einforderten, bei denen der Elfjährige heute noch schwächelt. Sähe ich seine Schwestern in einstiger Grösse jetzt neben ihm stehen  … mir täte wohl manches Ausrufezeichen leid.

«Hey, hallo!», rufen sie wieder über den Tisch. «Bei uns hättet ihr längst  …!» Natürlich behaupte ich weiterhin, das stimme so nicht. Wo kämen wir denn hin, wenn aufflöge, dass meine elterliche Wahrnehmung ein ziemlicher Zerrspiegel ist? Doch ehrlich, ein bisschen haben sie recht. Womöglich liegen die Unterschiede in der Erziehung von Geschwistern weniger in dem, was man sagt. Sondern mehr in dem, was man von ihnen erwartet.

Ohne Worte, aber sicherheitshalber recht laut seufzend, räume ich dem «Kleinen» den Teller weg. Er sei sowieso fertig und habe nur seine Schwestern nerven wollen, lenkt er ein. Ausrufezeichen sind überschätzt, hätte ich nun fast noch geschrieben. Doch vielleicht sind sie genau der Gradmesser eigener Erwartung. Die Manieren kriegen wir allerdings hin, glaube ich, und eventuell reicht hier ein Punkt.