«Du musst einfach an dich glauben!»
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«Du musst einfach an dich glauben!»

Lesedauer: 4 Minuten

Mit positiven Affirmationen zu besserem Selbstwertgefühl? Funktioniert nur teilweise, sagen Studien. Andere Wege sind hilfreicher – und ehrlicher.

Text: Fabian Grolimund
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Wenn Kinder Sätze wie «Ich kann das nicht» oder «Ich bin so dumm» äussern, springt bei uns Erwachsenen rasch die innere Alarm­anlage an. Schliesslich möchten wir, dass unsere Kinder zuversichtlich sind, Selbstvertrauen und ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln.

Und tatsächlich zeigt die Forschung, dass es hilfreich ist, optimistisch in die Welt zu schauen. Wer sich selbst mag und sich etwas zutraut, fühlt sich wohler, geht Herausforderungen mit mehr Elan an und fühlt sich meist auch im Umgang mit anderen Menschen entspannter.  Doch wie können wir einem Kind eine positivere Sichtweise vermitteln?

Positive Affirmationen scheinen vor allem dann positive Effekte zu haben, wenn jemand bereits im Vorfeld eher optimistisch ist.

Die Lösung scheint denkbar einfach: Das Kind muss einfach lernen, positiv zu denken! Das Mittel der Wahl vieler Eltern und Lehrkräfte sind positive Affirmationen. Hübsch gestaltete Karten, Plakate und vieles mehr dazu gibt es zuhauf im Internet zu kaufen. Doch können wir unser Selbstwertgefühl und unsere Selbstwirksamkeit tatsächlich steigern, wenn wir uns Kärtchen mit Affirmationen wie «Ich bin mutig», «Ich bin klug», «Ich bin schön» immer wieder durchlesen oder uns mantraartig aufsagen?

Unterschiedliche Wirkung positiver Affirmationen

Genau das wollten Joanne Wood und ihre Kollegen von der Universität Waterloo in Kanada (2009) wissen. Sie untersuchten, wie es sich auf die Stimmung und das Selbstbild auswirkt, wenn Menschen positive Affirmationen nutzen. 

Bei allen Versuchspersonen wurde zuerst mit einem Fragebogen das Selbstwertgefühl gemessen. Danach lasen sie Affirmationen wie «Ich bin liebenswert». Dabei zeigte sich: Einige Versuchspersonen spürten tatsächlich einen positiven Effekt. Sie fühlten sich nach dem Lesen der Affirmationen kurzfristig besser.

Passt die Affirmation nicht zum Selbstbild, fühlt es sich an, als würden wir uns selbst belügen.

Allerdings war das nur bei Versuchspersonen der Fall, die bereits ein hohes Selbstbewusstsein mitbrachten. Bei Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl trat das Gegenteil ein: Bei diesen verschlechterte sich nicht nur die Stimmung, auch die Gefühle, die sie sich selbst gegenüber hatten, wurden negativer.

Eine Untersuchung von Renee Engeln und Megan Imundo (2020) kam zu einem ähnlichen Ergebnis. In ihrer Studie wurden junge Frauen gebeten, in Gedanken die Affirmation «Ich liebe meinen Körper» mehrmals zu wiederholen, während sie einen Text schrieben. Die Affirmation führte dazu, dass die Frauen deutlich häufiger an Dinge denken mussten, die sie an ihrem Körper stören.

Zusätzlicher Stress

Obwohl Affirmationen noch nicht gut untersucht sind, zeigt sich in der Tendenz das folgende Bild: Positive Affirmationen wie «Ich schaffe das!» scheinen vor allem dann positive Effekte zu haben, wenn jemand bereits im Vorfeld eher optimistisch ist und über eine hohe Selbstwirksamkeit verfügt.

Es gibt aber Hinweise darauf, dass sie Menschen mit Selbstzweifeln zusätzlich verunsichern können. Fast verzweifelt suggerieren sie sich «Ich kann alles erreichen!» oder «Ich bin liebenswert» und geraten dabei in einen inneren Konflikt: Die Aussage passt nicht zu ihrem Selbstbild, es fühlt sich an, als würden sie sich selbst belügen, was ihr Stress­level erhöht.

Gleichzeitig führt das häufige Aufsagen von Affirmationen dazu, mehr über den entsprechenden Bereich nachzudenken. Wer sich immer wieder «Ich liebe meinen Körper» sagt, beschäftigt sich in der Folge zunehmend mit seinem Aussehen. Wenn wir damit unzufrieden sind, werden wir fast automatisch auch an viele Aspekte denken, die uns daran stören.

Zeit für einen Selbstversuch

Vielleicht haben Sie Lust auf einen Selbstversuch? Lesen Sie die folgenden Affirmationen und schauen Sie, was passiert: «Ich bin fast jeder Herausforderung gewachsen.» – «Ich bin liebenswert.» – «Ich liebe meinen Körper.» Achten Sie auf Folgendes: Wie sehr hätten Sie dieser Aussage im Vorfeld bereits zugestimmt? Und wie fühlt es sich an, die Affirmation zu lesen?

Wahrscheinlich merken Sie: Je eher Sie die Aussage innerlich bejahen können, desto positiver ist die Wirkung. Sie lesen die Affirmation, fühlen sich bestätigt und sind vielleicht einen Moment dankbar dafür, dass es so ist. 

Wir könnten uns mit unseren Werten verbinden und uns fragen, was uns in unserem Leben wirklich wichtig ist.

Was aber, wenn Sie sich selbst anders wahrnehmen? Dann wird Ihnen die Aussage wahrscheinlich nicht dazu verhelfen, Ihre Sichtweise zu verändern. Vielmehr werden Sie einen inneren Widerstand spüren und Ihnen werden Beispiele und Erfahrungen einfallen, die dagegensprechen.

Manche Vertreter positiver Affirmationen gehen davon aus, dass dies eine Frage der Zeit ist: Würden die positiven Affirmationen über Wochen und Monate aufgesagt, verschwänden die Zweifel mit der Zeit und sickerten die Affirmationen ins Unbewusste. Leider konnte ich keine Studie zu solchen Langzeitversuchen finden. Es gibt aber viele andere Möglichkeiten, um Kindern und Jugendlichen dabei zu helfen, hilfreichere Überzeugungen zu entwickeln, die laut Wissenschaft tatsächlich zu positiven Effekten führen.

Mehr Akzeptanz kann helfen

Bei der Therapiemethode der kognitiven Umstrukturierung hinterfragen Menschen ihre Gedanken: «Tut mir dieser Gedanke gut? Stimmt er überhaupt? Und angenommen das, was ich befürchte, würde tatsächlich eintreten: Wie schlimm wäre das wirklich?»

Eine Jugendliche kann auf diese Weise merken, dass der Satz «Ich schaffe das sowieso nicht!» genauso falsch ist wie die positive Affirmation «Ich schaffe das ganz sicher!». Sie könnte einen realistischen, aber hilfreichen Satz formulieren wie: «Wenn ich heute für die Prüfung lerne, wird es wahrscheinlicher, dass ich es schaffe.» Gleichzeitig könnte sie sich bewusst werden, dass ein Misserfolg nicht das Ende der Welt ist: «Wenn ich es nicht schaffe, wäre ich enttäuscht. Aber meine Eltern und Freunde würden mich trösten.»

Auch Verfahren, die dabei helfen, den eigenen Sorgen und Gefühlen mit mehr Selbstmitgefühl und Akzeptanz zu begegnen, haben sich als hilfreich erwiesen. Anstatt sich die positive Affirmation «Ich habe einen schönen Körper» aufzusagen, könnten wir uns bewusst werden, dass fast niemand mit seinem Aussehen zu hundert Prozent zufrieden ist.

Wir könnten uns mit unseren Werten verbinden und uns fragen, was uns in unserem Leben wirklich wichtig ist. Vielleicht gelangen wir zur Überzeugung: «Ja, es gibt ein paar Dinge, die mich an meinem Körper stören. Und das geht in meinem Freundeskreis allen so. Egal, was ich tue, ich werde nie ganz zufrieden sein. Und es gibt so viele Dinge, die mir wichtiger sind als ein perfekter Körper.»

Zu guter Letzt können auch Dankbarkeitsübungen dabei helfen, zu einer positiveren Sichtweise zu gelangen. Anstatt uns davon zu überzeugen, dass alles perfekt ist, machen wir uns bewusst, dass es in unserem Leben viel Schönes und Wertvolles gibt, an dem wir uns erfreuen können. Je mehr wir diese Aspekte sehen und schätzen, desto eher kommen wir damit zurecht, wenn anderes nicht ganz so ist, wie wir es gerne hätten.

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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