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Autismus: «Lasst euch nicht aufhalten»

Aus Ausgabe
07+08 / Juli + August 2025
Lesedauer: 3 min

Autismus: «Lasst euch nicht aufhalten»

Jalia, 5, aus Zürich hat frühkindlichen Autismus. Ihre Mutter Josefine, 35, ist alleinerziehend – und überzeugt, dass die Diagnose ihrer Tochter kein Grund ist, sich vom Leben fernzuhalten.
Aufgezeichnet von Virginia Nolan

Bild: Silas Zindel / 13 Photo

Bis vor neun Monaten sprach Jalia nicht. Dann löste sich ein Knoten, kamen Worte aus ihrem Mund: «Water», «Mami», «Apple». Sie sprechen zu hören, ist unbeschreiblich. Man kann sich nicht vorstellen, wie das ist: Wenn ein Kind verzweifelt, weil es einem nicht begreiflich machen kann, was es ausdrücken will. Wir feiern jedes neue Wort. Manche Dinge sagt Jalia nur auf Englisch – sie hört englischsprachige Kinderlieder. Musik ist ihre Freude und ihr Rückzugsort.

Autismus äussert sich bei jedem anders.

Josefine, Mutter von Jalia

Nicht nur deshalb ist das iPad ihr ständiger Begleiter. Auf dem Gerät befindet sich ein Programm, das Jalia in der Kommunikation unterstützt. Es bietet ihr eine Übersicht mit Orten, Personen und Tätigkeiten aus ihrem Alltag, die bildlich dargestellt und beim Anklicken versprachlicht werden. Ihr Talker ermöglicht Jalia Kommunikation da, wo Worte fehlen. Auch mir haben sich dadurch neue Möglichkeiten eröffnet.

Ich kann meiner Tochter etwa verständlich machen, was wir vorhaben. Dadurch gerät sie nicht mehr so oft in Situationen, die zu Überforderung führen, weil Jalia nicht weiss, was sie erwartet. Dann schreit sie aus nackter Panik, man kann sofort alles abbrechen.

Ungewöhnliches Spielverhalten

Früh äusserten Bezugspersonen, dass Jalias Spielverhalten ungewöhnlich sei. Sie hatte kein Interesse an Bilderbüchern, Bällen oder Spielzeugautos. Wenn sie sich über etwas freute, teilte sie ihre Freude nicht, indem sie Blickkontakt aufnahm. Ich vermutete, dass ihre soziale und sprachliche Entwicklung noch Zeit brauchten, weil Jalia motorisch weit war: Sie hatte mit neuneinhalb Monaten Laufen gelernt.

Bei der Zweijahreskontrolle überwies die Kinderärztin Jalia zur Entwicklungsabklärung. Dort fiel erstmals der Autismus-Verdacht. Was ich während der Wartezeit auf die Abklärung im Internet las, verunsicherte mich. Ja, Jalia flatterte mit den Händen, sprach und spielte nicht wie andere. Aber sie suchte doch stets Nähe und Kontakt zu anderen Kindern!

Wir arbeiten an kleinen Dingen: am Tisch essen statt auf dem Boden oder Aufgaben wie Filzstifte versorgen zu Ende bringen.

Josefine, Mutter von Jalia

In den Beschreibungen vom abgekapselten autistischen Kind erkannte ich Jalia nicht wieder. Erst im Zug der Abklärung – die Diagnose frühkindlicher Autismus kam vor dem dritten Geburtstag – verstand ich, was ein Spektrum bedeutet: Autismus äussert sich bei jedem anders.

Sich Hilfe holen

Ich nahm Abschied von meinen Idealvorstellungen über Mutterschaft, hängte mich rein: Jalia und ich lernten Gebärdensprache, mithilfe von Fachpersonen übten wir täglich, ihre Aufmerksamkeit und Fantasie zu fördern. Wir arbeiten an kleinen Dingen: am Tisch essen statt auf dem Boden, Aufgaben wie Filzstifte versorgen zu Ende bringen, ein Spiel ausprobieren und jedes Mal etwas länger dranbleiben. Ich habe mich mit der Situation abgefunden, statt damit zu hadern.

Ich habe mit Jalia Glück, vieles ist möglich. Wir flogen sogar nach Südafrika. Solche Dinge brauchen bei uns dreimal so viel Vorbereitung und Kraft. Dennoch will ich Eltern sagen: Lasst euch nicht aufhalten, weil eine Behinderung mit im Spiel ist. Da draussen gibt es Hilfe. Wir müssen uns leider mehr darum bemühen als andere – geht jedoch nur ein Bruchteil der Pläne auf, macht das alles wett.