Früher, da trafen Eltern andere Eltern in der örtlichen Krabbelgruppe oder als die Kinder grösser waren im Kindergarten oder beim Elternabend in der Schule. Erziehungstipps gab es in Büchern oder von der Schwiegermutter, aber die Menge derjenigen, die einem in das Familienleben hineinredeten, war kleiner. Deutlich kleiner als heute.
Denn heute gibt es die sozialen Medien – insbesondere Instagram, was bei Müttern beliebt ist – und damit eine unübersichtliche Flut an Tipps und Vergleichsmöglichkeiten. Sogenannte Momfluencer berichten aus ihrem Mama-Alltag und setzen damit nicht selten Massstäbe, die ein «normaler» Mensch offline gar nicht erfüllen könnte. Dazu gibt es eine ganze Menge Erziehungstipps. Nicht immer ist dabei die Qualifikation der Tippgebenden ersichtlich – oft scheint es ganz einfach zu reichen, Mutter zu sein.
«Aber das habe ich bei Insta gesehen»
«Instagram hat das, was früher die Eltern im Bekanntenkreis waren, vergrössert», beobachtet auch die Pädagogin Inke Hummel. Die Bestseller-Autorin von Elternratgebern («Nicht zu eng, nicht zu streng») berät Familien in Erziehungsfragen und hat festgestellt: «Bei Insta fehlt das Korrektiv.» Natürlich sieht sie auch die Vorteile der Social-Media-App: die Kontakte, der Austausch, das Finden von Gleichgesinnten, die Anregungen und Impulse. Social Media kann auch ein Weg aus der Einsamkeit sein, das Tor zur Aussenwelt.
Dem Kind alles abnehmen? So funktioniert Erziehung nicht. Eltern müssen auch mal unbequem sein.
Inke Hummel, Pädagogin
Aber gleichzeitig auch: Noch mehr Vergleiche, noch mehr Tipps, ein fast undurchschaubarer Dschungel. Für jede Fragestellung und Diagnose scheint es bei Instagram eine Antwort zu geben. «Zu mir in die Beratung kommen gebildete Frauen, die sagen: Aber das habe ich bei Insta gesehen», sagt Inke Hummel. «Vielen Müttern ist nicht klar, dass sie immer nur einen Ausschnitt gezeigt bekommen.»
Wo bleibt reale Zeit mit der Familie?
Dieser Ausschnitt kann nicht nur bei der Frage «Müsste mein Kind nicht auch schon laufen können?» unter Druck setzen, sondern auch beim Kochen, Reisen oder dem Haushalt. Wieso sieht die immer so entspannt und frisch aus, obwohl sie auch drei Kinder hat, so wie ich? Wieso ist das Wohnzimmer immer so top aufgeräumt? Wie können die sich diese unglaublichen Reisen leisten?
Stories am laufenden Band, die alle Details aus dem Familienalltag zeigen, sorgfältig aufgenommene Reels, in einer unglaublich dichten Frequenz. Auch der Kinderarzt und Buchautor Herbert Renz-Polster («Mit Herz und Klarheit») fragt sich, wo angesichts der Bilderflut bei den Familien noch wirkliche Zeit für die Familie bleibe.
Die sorgfältig kuratierten Accounts setzen viele Mütter unter Druck, die zu Inke Hummel in die Beratung kommen. Immer häufiger muss sie ihnen versichern, dass sie nicht verkehrt sind, nur weil das Mutterleben, der Haushalt, die Erziehung bei ihnen nicht so perfekt aussieht wie bei den Instagrammerinnen.
Zwei Erziehungstrends auf Insta
«Der Algorithmus mag Extreme und die Profile passen sich dem Algorithmus an, um die Reichweite zu steigern», erklärt sie. Das gilt nicht nur für extrem schicke Häuser und extrem gesunde Frühstücksboxen, sondern auch für die extrem perfekte Erziehung. Zwei Trends hat sie ausgemacht: das Überbehütende und das Vernachlässigende.
Letzteres zeigt sich im Predigen davon, dass man auch mal Fünfe grade sein lassen sollte, eigentlich ein gut gemeinter Ratschlag: Aber was einst als Entlastung für stressgeplagte Mütter gedacht war, sei mittlerweile bei vielen ins Extreme umgeschlagen, so Hummel.
Dem Zehnjährigen noch den Schulthek tragen? Je nach Insta-Blase völlig normal.
Das, was als Ausnahme völlig in Ordnung ist, wie die Fertigpizza zum Abendessen, wird zur Regel. Ist bequemer, stressfreier und doch an den Bedürfnissen der Kinder orientiert, finden viele Momfluencer. So funktioniere Erziehung aber nicht, sagt Hummel: «Eltern müssen auch mal unbequem sein.»
Eltern suchen Okay-Signal
Pädagogin Hummel hat regelmässig Eltern in der Beratung sitzen, die sich nicht anders helfen zu wissen und stets zur Geheimwaffe Videos gucken greifen. Kind will keine Fingernägel schneiden? Video an. Kind will nicht Zähneputzen? Video an. Kind quengelt im Restaurant? Video an.
Stressbewältigung, Frustrationstoleranz, der Umgang mit Langeweile: All diese fürs Grosswerden notwendigen Dinge werden so nicht mehr geübt. «Viele Eltern suchen bei Instagram nach Absolution», sagt Inke Hummel.
Ähnliches hat auch Kinderarzt Renz-Polster beobachtet: Eltern seien oft auf der Suche nach einem Okay-Signal: «So in die Richtung: Dein Kind ist in Ordnung, du musst es nur in seiner Eigenart verstehen. Ein Kind, das noch als Siebenjähriger von Wutanfall zu Wutanfall schlittert, wird dann eben willensstark genannt.» Das entlaste zwar zunächst, mache den Alltag aber auch nicht leichter.
Gefangen in der eigenen Insta-Blase
Ein Problem bei Instagram ist – wie bei allen sozialen Medien – der Algorithmus, der den Usern das anzeigt, was zu ihrer Bubble, ihren Vorlieben und ihren Sehgewohnheiten passt. Und ehe man sich versieht, ist man drin in der Blase, in der alle Mamas den Zehnjährigen den Schulthek in die Schule tragen, und hält das für die Normalität. Über den Tellerrand schauen? Da macht es einem der Algorithmus nicht leicht.
Kinder müssen lernen, eigene Lösungen zu finden, und Erfolgserlebnisse haben.
Julia Theeg, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin
Die Kinder bewusst zu verwöhnen, dafür sprechen sich aktuell viele Mutter-Profile in den sozialen Medien aus. Die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Julia Theeg sieht diesen Trend kritisch. Da müssen Kinder ihren Schulthek nicht selbst tragen, da dürfen sie so lange zocken, wie sie wollen, oder müssen nur essen, was ihnen schmeckt, und die Mütter posten das stolz.
Überprotektive Eltern
Problematisch, so Julia Theeg: «Wenn Eltern Kindern beispielsweise immer nur das Lieblingsessen kochen, um mögliche Konflikte oder Frust am Esstisch zu vermeiden, dann bekommen Kinder das Gefühl: Meine Eltern halten nicht aus, dass ich etwas nicht mag. Und daraus kann sich langfristig das Gefühl entwickeln: Meine Eltern halten mich nicht aus.»
Sie hat ausserdem viele überprotektive Eltern beobachtet, die durch das Behüten der Kinder auch eigene Ängste kompensieren. Das führe dazu, dass sich Kinder nichts zutrauen, diese erlernte Hilflosigkeit könne zu Ängsten und Depressionen führen. «Kinder müssen lernen, eigene Lösungen zu finden, und Erfolgserlebnisse haben.»
ADHS-Schnelldiagnose via Insta
Noch einen weiteren Punkt sehen sowohl Theeg als auch Hummel als problematisch an: Der Umgang mit Diagnosen wie beispielsweise ADHS, die eigentlich ärztlich abgeklärt werden müssten. «Viele Eltern suchen Experten bei Instagram und bekommen dort vermeintlich einfache Lösungen präsentiert, doch es gibt meistens keine Universallösungen, denn ein bestimmtes Verhalten von Kindern kann ganz verschiedene Ursachen haben», so Hummel.
Bei vielen Momfluencer-Profilen gehe es nur um Reichweite und nicht um sachlich-fundierte Informationen.
Problematischer Umgang mit Kinderfotos
Theeg kritisiert auch den allzu unbedachten Umgang mit Kinderfotos und persönlichen Infos über die Kinder in den sozialen Medien, wie Details aus dem Leben der Kinder, aus denen man leicht Rückschlüsse über die Kinder ziehen kann, wie Schulprobleme oder die Angst vorm Alleine-Einschlafen eines 14-Jährigen. Den reflektierten Umgang sollten Eltern ihren Kindern vorleben, denn nur so lernen sie auch selbst, wie man sicher in den sozialen Medien unterwegs ist.
Oft fehlende Qualifikationen
Aber wie schafft man selbst den bedachten Umgang mit Insta und Co.? Genau kuratieren, wem man folgt und was man nicht in seiner Timeline sehen möchte, rät Inke Hummel: «Dazu gehört auch, den Background der Profile zu überprüfen: Wer bezahlt sie? Welche Qualifikation haben sie? Welchen Forschungsschwerpunkt?»
Eine Vollzeitmutter weiss zwar eine Menge darüber, was bei ihren eigenen Kindern funktioniert, ist aber deshalb noch keine studierte Pädagogin, die wissenschaftlich fundierte Erziehungstipps geben kann. Man sollte immer die Quellen von Infos abgleichen, zum Beispiel mit Ärzten oder Beratungsstellen, so Julia Theeg: «Und immer im Hinterkopf haben: Reichweite sagt nichts über Qualität aus.»
Wie Sie Instagram in den Griff bekommen
- Den Profilen entfolgen, die Ihnen nicht guttun, und gezielt nach positiven Inhalten suchen
- Sich bewusst hinterfragen: Wieso nutze ich diese App? Kann ich mir Informationen nicht auf eine andere Art und Weise einholen?
- Bei Tipps von Social Media immer die Quellen überprüfen
- Sich mit dem Algorithmus von Instagram auseinandersetzen, um bewusst die Blasenbildung zu umgehen
- Feste Zeiten für den Insta-Konsum einhalten und instafreie Tage einführen
- Bei starkem Suchtverhalten: Eine Pause einlegen und Social-Media-Apps vom Smartphone entfernen
- Dem Kind ein gutes Vorbild sein: aufzeigen, was das analoge Leben zu bieten hat. Vorleben, in der Freizeit lieber eine Zeitschrift oder ein Buch zu lesen, statt am Handy zu scrollen
- Gemeinsames Scrollen mit dem Kind, um über Instagram-Scheinwelten, Influencertum und die Wirkweise des Algorithmus ins Gespräch zu kommen
- Bei Ausflügen bewusst offline sein und keine Bilder für Instagram machen
- Den Austausch im realen Leben suchen und dafür regelmässige Termine und Treffen mit Freundinnen und Freunden vereinbaren










