Jugend im Kraft­sport-Hype

Aus Ausgabe
07+08 / Juli + August 2025
Lesedauer: 11 min

Jugend im Kraft­sport-Hype

Immer mehr Teenager zieht es in die Fitnessstudios, vor allem Jungs. Ihr Ziel: mehr Muskeln! Worauf sollte man dabei in der Wachstumsphase achten? Und welchen Nutzen haben die beliebten Proteinshakes? Eine Sportmedizinerin und ein Personal Trainer geben Antworten.
Text: Kristina Reiss

Bild: Getty Images

Der 15-jährige Sohn einer Freundin trainiert neuerdings viermal pro Woche und vertilgt jede Menge Quark und Protein­shakes. «Damit ich mehr Muskeln bekomme», sagt er. Der 17-jährige Nachbarsjunge stemmt vier- bis fünfmal pro Woche Gewichte, an den anderen Tagen joggt er. Und auch der 14-jährige Neffe will plötzlich ins Fitnessstudio gehen.

Sein Vater ist hin- und hergerissen: Einerseits findet er es gut, wenn das Kind Sport macht. Aber so früh schon Krafttraining? Ist das okay? Und woher kommt überhaupt dieser Wunsch nach Muskeln?

Influencer und Prominente machen es vor. Auf ihren geposteten Bildern in sozialen Netzwerken wie Instagram, Youtube oder Tiktok präsentieren sie sich möglichst stark und fit. Das hat Folgen: Männliche Jugendliche in der Schweiz sind immer häufiger unzufrieden mit ihrem Körper, zeigt die internationale HBSC-Studie, die alle vier Jahre das Gesundheitsverhalten von Schulkindern untersucht.

Am besten ist, wenn Kinder und Jugend­liche so lang wie möglich mit eigenem Körpergewicht hüpfen, rennen, werfen, fangen und über Hürden springen.

Loris Novo, Personal Trainer

Meistens fühlen sie sich zu schwach, nicht muskulös genug. Während viele Jahre vor allem Mädchen mit ihrem Körperbild unzufrieden waren, haben die Jungs zuletzt aufgeholt. Sie sind es auch, die Gewichte drücken und Muskeln aufbauen wollen. 

Jenseits der Grenze zeigt sich ein ähnliches Bild. So kam der Verband Deutsche Sportjugend in der 2023 vorgestellten Datenerhebung Move zum Ergebnis, dass Kraftsport inzwischen zu den am häufigsten ausgeübten Sportaktivitäten bei 13- bis 17-Jährigen zählt. Der Anteil an Sportvereinsmitgliedern bei Heranwachsenden wiederum ist den Daten zufolge in den letzten zehn Jahren gesunken. Das dürfte hierzulande nicht viel anders sein.

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Entweder viel Sport oder gar keinen

Loris Novo ist Personal Trainer in seinem eigenen Studio in Zürich und war bis vor zwei Jahren noch Sportlehrer. Fragt man ihn, wie sich das Sportverhalten von Jugendlichen verändert hat, nennt er vor allem zwei Trends. «Während einige immer mehr trainieren, darunter vor allem junge Männer, bewegen sich andere immer weniger und machen fast nichts für ihre ­Fitness.»

Tatsächlich kommt auch die Weltgesundheitsorganisation zum Schluss, dass sich in den westlichen Ländern mehr als 80 Prozent der Jugendlichen zu wenig bewegen – nämlich weniger als die empfohlene eine Stunde am Tag.

Bei gezieltem Krafttraining ab 14 oder 15 Jahren sollte eine Fachperson hinzugeholt werden. (Bild: iStockphoto)

Da ist es doch toll, wenn Kraftsport bei Teenagern immer beliebter wird – oder? «Grundsätzlich ist Sport immer eine gute Idee», findet Friederike Wippermann. Sie ist Sportmedizinerin und Kinderärztin im Medical Center Wankdorf BE und betreut unter anderem den Nachwuchs der Fussball-Nationalmannschaft der Frauen.

«Je früher Bewegung zum Alltag gehört und je besser das Körpergefühl dadurch wird, desto besser», so die Ärztin. «Zudem ist Bewegung für die körperliche und psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen einfach enorm wichtig.»

Kraftsport fördert die Gesundheit

Hinzu kommt, dass die Beanspruchung von Muskeln und damit der Aufbau von Kraft nichts ist, was erst mit dem Besuch des Fitnessstudios beginnt, sondern zum natürlichen Bewegungsverhalten eines Menschen gehört. «Im Prinzip machen Kinder von klein auf Krafttraining», sagt Personal Trainer Loris Novo: Ein wenige Wochen altes Baby, das den Kopf hebt und ihn dann wieder ablegt, um sich zu erholen. Das Kleinkind, das kurz aufsteht und sich gleich wieder hinsetzt. Später kommt Kindern ihr Bewegungsdrang zugute: Sie hüpfen, springen, bewegen das eigene Gewicht.

Auch für Erwachsene ist Kraftsport wichtig, wie Studien belegen: Er stärkt den Bewegungsapparat, Knochen gewinnen durch Belastung an Stabilität, man wird resistenter gegenüber Schmerzen und Krankheiten und beugt Haltungsschäden vor. Zudem sorgt Kraft­training für psychisches Wohlbefinden und ist eine wichtige Grundlage für andere Sportarten.

Das Training im Fitness­studio muss gut begleitet werden. Dann ist auch das Verletzungsrisiko gering.

Friederike Wippermann, Sportmedizinerin

Natürlich ist die Intention der Jugendlichen, die in den Fitnessstudios pumpen, in der Regel anders gelagert: Ihnen geht es weniger um ihr psychisches Wohlbefinden, sondern meist eher um reinen Muskelaufbau. Bedenklich sei das grundsätzlich nicht, so der Personal Trainer. Am besten findet Loris Novo, wenn Kinder und Jugend­liche so lang wie möglich mit eigenem Körpergewicht hüpfen, rennen, werfen, fangen, über Hürden springen.

«Wenn sie dann später mit 14 oder 15 mit dem gezielten Krafttraining beginnen wollen, sollten sie eine Fachperson hinzuholen, die die richtige Ausführung und die korrekten Bewegungen zeigen kann und langsam Hanteln und Maschinen einbaut.»

Jugendliche, die auch sonst Sport machen, wie etwa Tennis, Ballsport oder Turnen, könnten vom Krafttraining enorm profitieren – und in ihrer Sportart besser werden. Es müsse einfach darauf geachtet werden, dass die Bewegungsabläufe zuerst perfektioniert werden, bevor man dem Körper schwere Gewichte zumutet, denn sonst bestehe ein Verletzungsrisiko.

Gut begleitetes Training vonnöten

Dies unterschreibt auch Friederike Wippermann. «Das Training im Fitnessstudio muss vor allem gut begleitet sein», findet die Kinderärztin und Sportmedizinerin. Im Sinne von: Passen die Geräte? Die Gewichte? Machen die Bewegungsabläufe Sinn? Versteht der Jugendliche, was er macht? Dies alles treffe natürlich auch auf Erwachsene zu, die im Fitnessstudio trainieren. Bei einem sich im Wachstum befindenden Körper sei dies aber doppelt wichtig.

Früher dachte man, Krafttraining schädige die sogenannten Wachstumsfugen der Knochen bei Jugendlichen. «Heute weiss man: Das ist nicht der Fall – zumindest nicht, wenn das Training richtig ausgeführt wird», entwarnt Wippermann. Wachstumsfugen sind knorpelige Bereiche in Röhrenknochen – zum Beispiel in Armen und Beinen –, an denen die Knochen wachsen, bis die endgültige Körpergrösse erreicht ist.

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Danach schlies­sen sich die Wachstums­fugen und werden durch Knochen ersetzt. In der Regel geschieht dies bis zum 20. Lebensjahr. «Wird die Belastungsintensität adäquat gewählt und richtig gesteuert, birgt Krafttraining ein vergleichsweise geringes Verletzungsrisiko», sagt Wippermann. In Spiel- oder Kontaktsportarten wie Fussball oder Eishockey sei die Verletzungshäufigkeit höher.

Übungen immer wieder anpassen

Trotzdem gelte es bei Jugendlichen, die in Fitnessstudios Krafttraining betreiben, genau hinzuschauen. Denn zum einen ist der Organismus von Kindern und Jugendlichen in bestimmten Phasen des Wachstums verletzungsanfälliger. Zum anderen wachsen Jugendliche in der Pubertät häufig sehr viel in kurzer Zeit. Damit ändern sich ­Hebelverhältnisse und Muskelkräfte.

«Ich habe das schon oft bei Turnerinnen oder Eiskunst­läufern gesehen, die ich betreue», sagt Wippermann. «Auf einmal klappen Übungen oder Sprünge, die sie zuvor perfekt beherrschten, nicht mehr so gut – weil die Jugendlichen gewachsen sind.» Für das Gerätetraining in Fitnessstudios bedeutet das: Übungen oder Ausführungen müssen immer wieder überprüft und gegebenenfalls angepasst werden.

«Jeden Tag ins Studio zu gehen, ist zu viel. Zwei- bis dreimal wöchentlich reicht», empfiehlt Friederike Wippermann, Sportmedizinerin. (Bild: iStockphoto)

Ausserdem sollten Jugendliche nicht zu früh zu viele Gewichte verwenden oder mit einer zu hohen Intensität trainieren. «Jeden Tag ins Studio zu gehen, ist zu viel.» Zwei- bis dreimal wöchentlich, rät die Sportmedizinerin und Kinderärztin – aber nicht öfter. Dabei nicht zu einseitig trainieren – etwa nur Arme oder nur Beine – und nicht zu sehr belasten. 

«Gerade in dem Alter, in dem man sich leicht von anderen mit­ziehen lässt, ist es wichtig, als Eltern einen Blick darauf zu haben, dass der Junior nicht fünfmal pro Woche ins Studio geht», findet auch Personal Coach Loris Novo.

Letztendlich, da sind sich beide Fachpersonen einig, komme es bei Jugendlichen im Fitnessstudio vor allem auf die fachkundige Betreuung an. «Ob jemand 17,5 oder 18 Jahre alt ist, macht keinen gros­sen Unterschied», findet Friederike Wippermann. «Aber bei 14-jährigen Teenagern kann selbst innerhalb eines Jahrgangs die Spannweite der Entwicklung riesig sein.»

Wahl des Studios gut begleiten

In der Schweiz gibt es kein gesetzliches Mindestalter für eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio. Die meisten Anbieter jedoch haben dieses auf 14 oder 16 Jahre festgelegt. Bis zum 18. Geburtstag brauchen Jugendliche, die trainieren wollen, die Unterschrift ihrer Eltern.

Sind sich die Mitarbeitenden der Fitnessstudios über die unterschiedlichen Bedürfnisse von jugendlichen Trainierenden bewusst? «Häufig nicht», ist Loris Novos Erfahrung. Oft sei das Training für Jugendliche nicht optimal.

Viele Nahrungsergänzungsmittel sind unnötig.

Friederike Wippermann, Sportmedizinerin

«Als Mutter oder Vater würde ich deshalb die Wahl des Studios genau begleiten und mit den Fachpersonen reden und schauen, ob sie sich mit Training im Jugendalter auskennen. Und auch eine Runde durch die Garderobe drehen. Schliesslich hört man immer wieder von illegalen Substanzen, die im Umlauf sind. Gerade Jungs kann es nicht schnell genug gehen mit dem Muskelaufbau.»

Beliebte Proteinshakes

Nicht zufällig sind Proteinshakes und andere Nahrungsergänzungsmittel unter jugendlichen Fitnessstudiobesuchern extrem beliebt. «Mein Sohn gibt sein halbes Taschengeld dafür aus», klagt die eingangs erwähnte Nachbarin. Sportmedizinerin und Kinderärztin Friederike Wippermann hat dazu eine eindeutige Meinung: «Viele Nahrungsergänzungsmittel sind unnötig.»

Bei online bestellten Substanzen aus dem Ausland sollte man besonders vorsichtig sein. Sie sind häufig mangelhaft deklariert. (Bild: Stocksy)

Eine ausgewogene Ernährung genüge völlig. Wem dies nicht ausreiche, der könne auch mit proteinhaltigen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Eiern und Quark viel erzielen. Die Medizinerin warnt insbesondere vor online bestellten Substanzen aus dem Ausland: «Während in der Schweiz ausgewiesen wird, was Nahrungsergänzungsmittel enthalten, ist dies bei Mitteln aus dem Ausland nicht immer zuverlässig der Fall.»

Hellhörig werden sollten Eltern also, wenn Jugendliche auf einmal diverse Pülverchen konsumieren. Aber auch, wenn der Nachwuchs die Signale des Körpers ignoriert und trotz Krankheit oder Verletzung weiter trainiert. Wenn er regelrecht getrieben ist von seinem Sport, Freunde nicht mehr trifft, viele Lebensmittel nicht mehr isst und seine Ernährung streng auf den Sport ausrichtet.

Vergleichsweise hohe Kosten

Was aber tun, wenn der Sohn oder die Tochter häufiger als die empfohlenen zwei- bis dreimal pro Woche trainiert und sich eine fragwürdige Diät auferlegt? «In solchen Fällen sollten sich Eltern an ihren Kinderarzt oder eine Sportmedizinerin wenden», sagt die Ärztin.

«Wir können Untersuchungen durch­führen, um eine Mangel- oder Fehl­ernährung auszuschliessen, Risiken für Über­lastungsverletzungen erkennen und das Gespräch mit Kindern und Jugendlichen zur Aufklärung suchen.» Man könne aber auch die Ernährungsberatung hinzuziehen, die den Ernährungsplan mit den Sportlerinnen und Sportlern genau ansieht. «Das nehmen Jugendliche und Eltern oft gerne an.»

Krafttraining im Jugendalter

Dos
Das richtige Fitnessstudio: Ab 14 oder 16 Jahren bieten viele Studios Jugendmitgliedschaften an. Bei der Auswahl darauf achten, dass das Personal auf Jugendliche geschult ist. Für ein mass­geschneidertes Training den körperlichen Entwicklungsstand bestimmen lassen. Die Übungen sollten zudem intensiv begleitet werden.
Saubere Ausführung, stufenweise Erhöhung der Gewichte: Nur wer sich Zeit nimmt für sein Training, kann gesund Kraft aufbauen. Bei mehrmals wöchentlichem Training braucht es zudem Pausen und Erholung. Denn in Ruhephasen legt der Körper an Muskelmasse zu.
Don'ts
Unter Schmerzen zu trainieren, macht keinen Sinn. Tut eine Bewegung weh, schadet sie dem Körper und wird vermutlich falsch ausgeführt. Ein Alarmzeichen, auf das man hören sollte.
An zu grossen Geräten zu trainieren, bringt nichts und ist sogar schädlich. Auch schnell riesige Hanteln heben ist nicht sinnvoll. Muskelzerrungen und ­Sehnenüberdehnungen drohen. Lieber mehr Wiederholungen mit der richtigen Technik und leichteren Gewichten.
Proteine aus dem Internet locken mit einer schnelleren Zunahme an Muskelmasse. Das Problem: Oft ist nicht klar, was in den Mitteln enthalten ist. Eine ausgewogene Ernährung reicht vollkommen aus, um den Körper mit allem zu versorgen, was er braucht.

«Generell würde ich mich als Eltern aber freuen, wenn mein Kind ins Fitnessstudio will», sagt Loris Novo. «Denn durch regelmässigen Sport werden sich seine Leistung und sein Wohlbefinden drastisch erhöhen.» Was sich oft in einem besseren Schlafrhythmus zeige, zu weniger Stimmungsschwankungen führe und zu besserer Konzentration. «Gerade in der Pubertät, wenn Jugendliche auf der Suche sind, können sie aus einem Sport viel Selbstbewusstsein ziehen», findet Friederike Wippermann.

Ein Nachteil sind allerdings die Kosten: Während Turn- oder Fussballvereine aufgrund ihrer Vereinsstruktur vergleichsweise günstig sind, können bei einer Jugendmitgliedschaft im Fitnessstudio gut 800 Franken und mehr pro Jahr anfallen. «Wir schenken es unserem Sohn immer zu Weihnachten», sagt die Nachbarin. «Wir zum Geburtstag», sagt die Freundin. Und ergänzt: «Seitdem unser Sohn ins ­Studio geht, ist er viel ausgeglichener und hängt vor allem nicht mehr so viel am Handy. Das ist mir das Geld wert.»