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Geschwisterstreit: «Warum darf er das und ich nicht?»

Lesedauer: 8 min

Geschwisterstreit: «Warum darf er das und ich nicht?»

Unsere Autorin kämpft mit den täglichen Rivalitäten ihrer Söhne und sucht nach Lösungen für ein friedlicheres Zusammenleben. Doch geht das überhaupt?
Text: Nathalie Klüver

Bild: Adobe Stock

Mein Sohn ist wütend auf mich. Auf seinem Handy hat sich die Bildschirmsperre eingeschaltet. Nix mehr mit Zocken, sagt die Kindersicherung. Türen knallend verschwindet der Zehnjährige in seinem Zimmer, nicht ohne zum Abschied «Wieso darf der das und ich nicht?» zu brüllen.

«Der» ist sein zweieinhalb Jahre älterer Bruder, der mit seinen 13 Jahren keine begrenzte Bildschirmzeit mehr hat, breit grinst und seelenruhig weiterzockt. «Dein Bruder hatte in deinem Alter noch gar kein Handy», rufe ich hinterher, reiner Reflex, ich weiss, dass ich mit rationalen Gründen nicht weiterkommen werde.  

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Denn das ist ja nicht das erste Mal, dass sich der Jüngere benachteiligt fühlt und das auch lautstark kundtut. Der Grosse darf allein mit seinem Kumpel ins Kino? Unfair! Der Film ist aber erst ab 12? Na und, er will trotzdem. Der Grosse hat auf einem Kindergeburtstag (oder sagt man Teenie-Geburtstag?) Cola getrunken? Er will auch! Der Grosse darf im Auto vorne sitzen? Gemein! Er ist doch aber noch gar nicht gross genug dafür? Egal! 

Die Grossen kämpfen den Weg frei

Dass der Grosse in vielen Dingen aber auch den Weg für ihn «freigekämpft» hat, wovon er, der Jüngere, heute profitiert, übersieht er grosszügig. Dabei fing das schon im Babyalter an: Während mein älterer Sohn tatsächlich fast die ersten zwei Jahre lang zuckerfrei lebte, bekam der kleinere schon im zarten Alter von sechs Monaten seinen ersten Löffel Eis zu essen. Sein Bruder spendierte ihm damals freudig eine Portion von seinem Pinocchio-Becher.

Zweitgeborene wachsen damit auf, dass da immer jemand ist, der irgendetwas besser kann.

Die ersten Kinderfilme gucken? Dürfen die jüngeren Geschwister meistens schon viel früher als es die älteren durften. Einfach, weil sie dabei waren, als der erste Videoabend anstand. Achterbahn im Freizeitpark, das erste Handy, der erste Computer: Die Liste der Beispiele ist lang.

Je mehr Fairness, umso mehr Wettbewerb

Dabei habe ich mich für eine faire Mutter gehalten. Immer schön alle Kekse unter allen drei Kindern aufgeteilt, wenn das eine Kind an einem Tag etwas mehr Medienzeit hatte, es den beiden anderen Kindern am nächsten Tag auch gestattet. Dass sich ja niemand benachteiligt fühlt. Hat, siehe oben, nicht geklappt.

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Hätte ich doch vorher den Elternratgeber «Good inside» von Becky Kennedy gelesen, die eindeutig sagt, dass Fairness Konflikte nicht vermeidet, sondern eher anheizt. Denn, so die US-Amerikanerin, das bringe die Kinder dazu, über die Fairness zu wachen. Je mehr Fairness, umso mehr Wettbewerb.  

Eine naive Vorstellung

Ich bin nicht die einzige Mutter, die mit derart naiven Vorstellungen an die Familienplanung ging, zumindest wenn es nach Autorin Becky Kennedy geht: «Viele Eltern klammern sich an eine verbreitete, aber recht unrealistische Ansicht: Geschwister sollten wie beste Freunde sein.» 

Ich hatte es mal für eine gute Idee gehalten, Kinder in möglichst engem Altersabstand zu bekommen. Dann können sie schön miteinander spielen, praktisch! Und dann noch zwei Jungs, das werden die besten Freunde. Es war eine Illusion. Dieser Plan ging für eine kurze Zeit auf, einige Monate, als die Jungs drei und fünf waren.

Je kleiner der Altersabstand, umso grösser die Rivalität unter Geschwistern. Das gleiche Geschlecht verstärkt dies noch.

Ansonsten eher: «Er hat mich angeguckt! Er hat geschummelt!» und Frust vom Kleinen, wenn er nicht so schnell laufen oder nicht so gut Tischtennisspielen kann wie der Grosse. Oder dumme Sprüche vom Grossen, wenn ihm etwas besser gelingt. Zweitgeborene kommen auf die Welt und wachsen damit auf, dass da immer jemand ist, der irgendetwas besser kann. Besser Bauklötze stapeln, besser Schleife binden, besser Sandkuchen backen.

Rivalitätsvolltreffer gelandet

Ganz ehrlich: Mir graut davor, wie das werden soll, wenn sie 15 und 17 sind und Themen wie Ausgehen, Nächte durchtanzen und – noch schlimmer – Alkohol ins Spiel kommen. Ich frage Nicola Schmidt um Rat. Sie hat das Buch mit dem vielversprechenden Titel «Geschwister als Team» geschrieben und gibt erst einmal Entwarnung.

Es sei ganz normal, wenn das kleinere Geschwisterkind mit dem grösseren miteifern will und das grössere Kind wiederum über seine Privilegien wacht. Je kleiner der Altersabstand, desto grösser die Rivalität, erklärt mir die Sozialwissenschaftlerin, selbst Mutter von zwei Kindern. Noch einmal stärker werde die Rivalität, wenn die Geschwister dasselbe Geschlecht haben. Bingo, ich habe also den Rivalitätsvolltreffer gelandet. 

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Ein Spiel aus Rechten und Pflichten

Was hilft denn nun, damit das ständige «aber der darf auch schon» ein Ende hat? Den Kindern klar machen, dass mit einem bestimmten Alter Rechte, aber auch Pflichten einhergehen, sagt Nicola Schmidt: «Der Grosse darf mehr, aber dafür muss er auch mehr machen.» Dann werde es auch in den Augen des Kleineren gerechter. Es ist also quasi ein Spiel aus Rechten und Pflichten.

So weit, so logisch, aber es hört sich einfacher an, als es ist. Denn auch bei den Pflichten versuche ich, sie möglichst gleich zu verteilen, damit sich keiner benachteiligt fühlt. Alles andere hielt ich bisher für ungerecht.

Nun ist es also an mir, nach Aufgaben zu suchen, die der Grosse erledigen muss und der Kleine vom Alter her noch nicht kann. Damit er versteht, warum er noch nicht «Herr der Ringe» schauen darf. Finde ich wirklich Aufgaben, die nur der Ältere kann? Altpapier zum Container bringen tun sie beide, Pfandflaschen im Supermarkt abgeben auch.

Fehlende gesellschaftliche Regeln

Dass es schwierig umzusetzen ist, sieht auch Nicola Schmidt: «Uns fehlt in der Gesellschaft eine kulturelle Vorgabe, also allgemeingültige Regeln.» Früher seien die Dinge klarer gewesen. Da wäre es vorrangig um Pflichten gegangen, die mit einem bestimmten Alter einhergingen.

Typisches Beispiel sind Initiationsriten indigener Völker, wo man ab einem bestimmten Alter bestimmte Dinge tun darf, aber eben auch andere Dinge tun muss. Heute sind die meisten Regeln von Familie zu Familie unterschiedlich. Individualität ist etwas Positives, aber in diesem Fall erschwerend. 

Siege, aber triumphiere nicht: Man kann besser sein, sollte damit aber nicht vor anderen angeben.

Würde ich auf einem Bauernhof leben, wäre das wesentlich einfacher, da gibt es Tiere zu füttern, Sitzrasenmäher zum Draufrumfahren. Wir wohnen aber in der Innenstadt, haben keinen Rasen und noch nicht einmal eine Katze, deren Klo man reinigen muss. 

Mein grosser Sohn und ich haben uns nun darauf geeinigt, dass er sein Zimmer selbst aufräumt, staubsaugt und seine Klamotten im Kleiderschrank verstaut. Das muss der Kleine noch nicht. Ich muss zugeben, das mit dem Kleiderzusammenlegen hat mein Sohn besser drauf als ich. Ich bin wirklich nicht böse drum, diese Pflicht abgegeben zu haben und freue mich, wenn ich sie auch an mein mittleres Kind übertragen kann. 

Weniger Eifersüchteleien

Die Eifersüchteleien auf Privilegien des Grossen werden geringer, seit unterschiedliche Pflichten eingezogen sind – aber das ständige Mithalten-Wollen wird nicht weniger und damit auch das ständige Unter-die-Nase-Reiben, dass man der Grössere ist. Was hilft denn nun, damit Geschwister wirklich ein Team werden, frage ich Nicola Schmidt.

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Den Kindern mit auf den Weg geben, «siege, aber triumphiere nicht», rät sie mir. Man kann besser sein, sollte damit aber nicht vor anderen angeben. Logisch, das kommt nicht nur bei Geschwistern nicht gut an. Dem grossen Kind sollten Eltern in Triumphmomenten auch klarmachen, dass der Triumph mit dem Altersvorsprung zu tun hat.

Kinder nicht vergleichen

Noch einen Rat hat sie: Die Kinder nicht vergleichen. Das lässt sich relativ einfach umsetzen. Leider haben Eltern das nicht immer unter Kontrolle: Wie also reagieren, wenn Grosseltern, Lehrkräfte oder Nachbarn den Geschwisterkindern unter die Nase reiben, dass der grosse Bruder in dem Alter schon so toll Schwimmen konnte?

Nicola Schmidt rät, direkt darauf hinzuweisen, dass man solche Vergleiche nicht möchte und sie unterlassen werden sollten. Das ist nicht immer einfach, aber ich werde mich anstrengen, in dieser Sache klarer zu kommunizieren.

Eltern sollten ihren Kindern die Gefühle nicht ausreden, sondern sie benennen und Verständnis zeigen. Neid und Eifersucht gehören zum Leben dazu.

Fürs Geschwister-Teambuilding empfiehlt sie, regelmässig «Kinder gegen Erwachsene»-Situationen zu schaffen. Ballspiele, Verstecken, Fangen, so etwas. Oder den Kindern gemeinsame Projekte übergeben oder Aufgaben, die man nur im Team lösen kann. Ich habe es mit «wenn ihr zwei den Geschirrspüler schnell einräumt, dann können wir noch einen Film gucken» gelöst.

Die Aussicht auf einen Kinoabend hat die Jungs sich in Windeseile organisieren lassen: Der eine brachte das Geschirr vom Esstisch, der andere räumte die Spülmaschine ein. Ohne Gestreite, konstruktiv gelöst und kein Teller ging zu Bruch.

Ich habe sie dafür gelobt und damit alles richtig gemacht, so Nicola Schmidt: «Wenn etwas gut im Team funktioniert, kann man das auch ruhig häufiger hervorheben.» Den Fokus also auf das Benennen der guten Dinge setzen, statt ständig zu meckern. Was, nebenbei gesagt, auch in anderen Erziehungsfragen den Familienfrieden fördert.

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Enorme Bandbreite an Gefühlen

Letztlich hilft wahrscheinlich nur ein Stück weit Akzeptanz. Unsere Kinder suchen sich ihre Geschwister nicht aus. Weshalb also setzen so viele Eltern voraus, dass sie die dicksten Freunde werden, nur weil sie zufällig miteinander verwandt sind?

Das sagt auch die US-Autorin Becky Kennedy: «Die Eltern müssen akzeptieren, dass Kinder ihren Geschwistern eine enorme Bandbreite an Gefühlen entgegenbringen.» Was für eine schöne Umschreibung für den Alltagswahnsinn mit Kindern: «enorme Bandbreite an Gefühlen»!

Noch einen Tipp hat Becky Kennedy parat: Eltern sollten ihren Kindern die Gefühle nicht ausreden, sondern sie benennen und Verständnis zeigen. Neid und Eifersucht gehören zum Leben dazu. Auch und eben unter Geschwistern.