«Ich will nicht, dass meine Oma mich küsst»

Die neunjährige Fiona stört es, dass sie von ihrer Grossmutter immer abgeknutscht wird. Sie traut sich aber nicht, ihr das zu sagen, und bittet unsere Expertin Sarah Zanoni um Hilfe.
«Frag doch mal Sarah»
Ich mag es nicht, wenn meine Oma mich immer abküsst, wenn ich zu ihr gehe. Sie sagt, sie liebt mich, und ich mag sie ja auch sehr gern. Aber trotzdem möchte ich das nicht. Ich kann ihr das nicht sagen, weil sie dann bestimmt traurig wäre.
Fiona, 9
Liebe Fiona
Ich finde es sehr schön, wie einfühlsam du deiner Oma gegenüber bist. Du möchtest ihre Gefühle nicht verletzen. Das ist äusserst nobel von dir.
Gleichzeitig spürst du aber, dass sich etwas in dir sträubt, sich von ihr abküssen zu lassen. Ich hatte eine Gotte, die das mit mir genauso gemacht hat. Ich musste jedesmal Anlauf nehmen, um diese Begrüssung über mich ergehen zu lassen. Und ich mochte es auch nicht – so wie du. Aber ich habe meine Gotte trotzdem geliebt – so wie du deine Oma.
Früher war es üblich, dass Kinder ihren Verwandten ein Küsschen geben mussten: zur Begrüssung, zum Abschied und natürlich zum Danke sagen für ein Geschenk. Man erwartete das von Kindern. Es war auch völlig normal, dass sogar fremde Erwachsene kleinen Kindern ins Gesicht fassten. Das alles gibt es zwar auch heute noch ab und zu, aber eigentlich finde ich das nicht in Ordnung. Man läuft ja auch nicht durch die Strasse und wenn man eine erwachsene Person sieht, geht man hin und streichelt ihr über den Kopf, oder?
Jeder Mensch hat ein anderes Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt. Und dieses Bedürfnis sollte auf jeden Fall respektiert werden. Das heisst: Wenn du keine Küsschen magst, darfst du das sagen – und zwar mit gutem Gewissen! Denn du nimmst deiner Oma damit nichts weg. Sie darf dich ja trotzdem sehen und Zeit mit dir verbringen. Vielleicht fragst du sie einfach, ob du sie kurz umarmen oder drücken kannst anstatt der Küsschen. Sag ihr, dass du jetzt schon gross bist und lieber nicht mehr geküsst werden willst.
Bedürfnisse wahrnehmen
Du kannst mit dieser Sache etwas ganz Wichtiges für dein ganzes Leben lernen. Es geht nämlich darum, dass du wahrnimmst, was dir guttut und was nicht. Man sagt dazu: du nimmst deine Bedürfnisse wahr.
Im zweiten Schritt geht es darum, dass du deine Bedürfnisse auch mitteilen kannst. Es bringt ja nichts, wenn nur du weisst, was du brauchst und was nicht. Die anderen Menschen um dich herum sollten es ebenfalls wissen. Ob deine Bedürfnisse in jedem Fall erfüllt werden können, ist zwar nicht garantiert, aber wenn dein Umfeld darüber Bescheid weiss, ist die Chance deutlich höher.
Du darfst deinen Eltern gerne erklären, dass es äusserst wichtig ist, dass das Nein eines Kindes respektiert wird.
Und als dritter Schritt kannst du lernen, wie du selbst deine Bedürfnisse umsetzen kannst. Das ist zugleich auch der schwierigste Punkt. Gerade als Kind hast du leider nicht immer die Möglichkeit, zu entscheiden, ob und was du dir Gutes tun kannst oder worauf du lieber verzichten möchtest. Es lohnt sich aber, es immer wieder zu versuchen, vor allem wenn es wirklich wichtige Bedürfnisse sind.
Kommen wir nochmals auf die Küsschen deiner Oma zurück: Gut möglich, dass deine Eltern es nicht in Ordnung finden, wenn du ab jetzt keine Küsschen von Oma mehr akzeptierst. Dann darfst du ihnen aber gerne erklären, dass man als Kind gerade bei solchen – eigentlich kleinen – Dingen lernt, Nein zu sagen. Und dass es äusserst wichtig sei, dass das Nein eines Kindes auch respektiert wird.
Ein Nein kann lebenswichtig sein
Hast du gewusst, dass viele Kinder gerade am Esstisch Nein sagen, weil sie schon satt sind und den Teller nicht leer essen mögen? Ihr Bedürfnis nach Essen ist buchstäblich gesättigt. Sie merken, dass ihr Magen voll und sie keinen Appetit mehr haben. Leider gibt es aber viele Eltern, die dieses Nein nicht akzeptieren.
Sie wollen, dass ihr Kind lernt, den Teller leer zu essen. Selbstverständlich steckt da eine wichtige Botschaft dahinter: Man soll ja keine Lebensmittel wegwerfen. Der Weg sollte jedoch der sein, dass das Kind lernt, so viel auf seinen Teller zu schöpfen, wie es auch aufessen kann. Das klappt halt nicht immer und es bleibt manchmal trotzdem ein Rest übrig. Das ist nicht so schlimm.
Jedes Kind, das erleben darf, dass sein Nein respektiert wird, lernt, sich vor grösseren Gefahren mit einem Nein zu schützen. Zum Beispiel kann ein Nein zum Mitgehen mit fremden Menschen lebenswichtig sein. Es ist ein Nein zu Risiken.
Ein «Nein, danke» zum Küsschen von der Oma ist nur ein Nein zum Küsschen und nicht ein Nein zur Oma. Sie wird das bestimmt verstehen.
In unserer Rubrik «Frag doch mal Sarah» beantwortet Jugendcoach Sarah Zanoni Fragen von Kindern und Jugendlichen.
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