Weshalb wir Prüfungsängste ernst nehmen sollten

Manche Kinder haben so grosse Angst vor Prüfungssituationen, dass sie sich selbst zu Höchstleistungen antreiben. Wir sollten ihnen diesen Druck nehmen.
Eine gewisse Aufgeregtheit vor Prüfungen ist normal und kann der Konzentration auch zuträglich sein. Doch in fast jeder Klasse sitzen Kinder und Jugendliche, die unter Prüfungsängsten leiden. Sie können vor Tests nicht einschlafen, sind manchmal schon Tage davor nervös oder klagen über Bauchschmerzen und Übelkeit.
Hilfe erhalten sie selten. Vor allem dann nicht, wenn sie zu den leistungsstarken Schülerinnen und Schülern gehören, die fleissig sind und gute Noten schreiben.
Prüfungsängstliche brauchen die glaubhafte Versicherung, dass sie Fehler machen dürfen.
Lehrkräften fällt diese Problematik oft kaum auf, weil diese Kinder und Jugendlichen im Unterricht angenehm und angepasst sind. Und auch von Eltern hört man oft Sätze wie: «Sie ist schon sehr nervös vor Prüfungen. Aber sie ist doch gut.»
Oft schwingt in diesem Satz auch Unverständnis mit: «Die Prüfungsängste sind doch gar nicht nötig, du warst bisher immer gut, du schaffst das, ich glaube an dich!» Solche Aussagen führen bei Prüfungsängstlichen meist nicht zu Entspannung und mehr Selbstvertrauen. Stattdessen beginnen sie sich für ihre Ängste zu schämen und sprechen diese nicht mehr an.
Was Prüfungsängstliche fürchten
Eine Studentin erzählte mir: «Meine Eltern können sich gar nicht vorstellen, dass ich durchfalle oder eine schlechte Note schreibe. Die hätten dann sicher ein ganz anderes Bild von mir!» Prüfungsängstliche messen Noten eine ungeheure Bedeutung bei: «Wenn ich die Prüfung nicht schaffe, werden meine Eltern und meine Lehrerin enttäuscht von mir sein» oder «Wenn ich eine Ungenügende schreibe, bin ich der totale Versager» und «Wenn ich beim Vortrag rot werde oder den Faden verliere, werden mich alle auslachen».
Sie fürchten sich nicht vor der schlechten Note per se, sondern davor, dass diese ihre soziale Stellung, ihre Beziehungen und ihren Selbstwert gefährdet. Solchen Sorgen begegnet man oft mit guten Argumenten: «Aber du hast doch bisher schon so vieles geschafft, auf das du stolz sein kannst!»
Damit stösst man bei Prüfungsängstlichen unweigerlich auf Widerstand. Das liegt an ihrer Art, mit Erfolgen und Misserfolgen umzugehen. Erstere schreiben sie meist äusseren Umständen zu: «Die Prüfung war einfach. Das haben alle geschafft» oder «Die Lehrerin hat es halt nett mit mir gemeint».
Misserfolge hingegen werden gnadenlos auf mangelnde Begabung zurückgeführt: «Wenn ich eine schlechte Note habe, sehen alle, dass ich dumm bin!» oder wie es eine andere Studentin formuliert hat: «Tief in mir drin weiss ich, dass ich eine Versagerin bin. Und eine schlechte Note würde das bestätigen und alle könnten es sehen.»
Zeigen Sie Ihrem Kind oder Ihren Schülerinnen und Schülern, dass ihr Wert nicht von Noten abhängt.
Prüfungsängstliche haben einen bedingten Selbstwert. Sie messen ihren Wert als Mensch sehr stark an ihren Leistungen und Bestätigung von aussen. Misserfolge werden dadurch zu einer immensen Bedrohung. Für manche fühlt es sich fast so an, als würde bei jedem Test ihr Leben oder zumindest ihre Zukunft auf dem Spiel stehen. So können Eltern und Lehrkräfte für Entspannung sorgen:
Tipps zum Umgang mit Prüfungsangst
Zeigen Sie Ihrem Kind oder Ihren Schülerinnen und Schülern, dass ihr Wert nicht von Noten abhängt. Prüfungsängstliche brauchen die glaubhafte Versicherung, dass sie Fehler machen dürfen. Vielen Schülern habe ich in Beratungen den Auftrag gegeben, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, wie sie bei einem Misserfolg reagieren würden.
Es tut diesen Kindern und Jugendlichen unheimlich gut, wenn ihre Eltern ihnen glaubhaft versichern können, dass sie weder wütend noch enttäuscht, gestresst oder traurig sein würden, wenn ihr Kind einen Misserfolg erlebt. Und dass sie stattdessen da sein, ihr Kind unterstützen und es genauso liebhaben werden, wie wenn es eine gute Note mit nach Hause bringt.
Zeigen Sie Prüfungsängstlichen, dass sie nicht alleine sind. Viele Schülerinnen und Schüler schämen sich für ihre Ängste: «Was ist, wenn ich rot werde?» oder «Hoffentlich sehen die anderen nicht, dass ich nervös bin!».
Eine Sekundarlehrerin sprach vor dem ersten Vortrag ihrer Schülerinnen an, dass sie in ihrer eigenen Schulzeit oft Angst vor Referaten hatte. Sie schilderte ihre Gedanken wie «Hoffentlich ist es bald vorbei» oder «Was ist, wenn ich den Faden verliere oder plötzlich nicht mehr sprechen kann?».
Vermitteln Sie Ihrem Kind, dass Lernen wichtiger ist als Noten.
Jugendliche in ihrer Klasse berichteten von ähnlichen Sorgen und erkannten dabei: Den anderen geht es ähnlich! Beim Vortragen war die Angst bei einigen zwar noch da, aber sie hatten das Gefühl, dass die anderen ihre Nervosität sehen dürfen und sie unterstützen, anstatt sie zu verurteilen. In so einem Klima fällt es leicht, jedes Mal ein wenig mutiger zu werden und freier zu sprechen.
Vermitteln Sie Ihrem Kind, dass Lernen wichtiger ist als Noten. Nicht nur Prüfungsängstliche, auch Eltern und Lehrkräfte legen oft zu viel Gewicht auf Noten. Ich durfte oft erleben, dass es für Schülerinnen und Schüler motivierend und gleichzeitig entspannend ist, wenn sie ihre Ziele anders ausrichten. Anstatt «Ich möchte in Englisch eine gute Note» könnte das Ziel lauten: «Ich möchte am Ende meiner Schulzeit auch anspruchsvolle englische Texte lesen und einfachere Gespräche führen können.»
Fokussieren wir uns auf die nächste Zeugnisnote, können wir beim Lernen gewinnen oder verlieren. Konzentrieren wir uns darauf, eine Sprache zu lernen oder unser Allgemeinwissen zu erweitern, können wir jede Lektion nutzen, um uns zu verbessern, und uns über unsere Fortschritte freuen.
Als Eltern und Lehrkräfte können wir Kindern und Jugendlichen dabei helfen, eigene Ziele zu formulieren, und uns über ihre Fortschritte freuen, anstatt ständig zu beobachten, wie der Nachwuchs abschneidet.
Wir alle können zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen. Ein Vater meinte einmal zu mir, dass sich die Kinder halt auch daran gewöhnen müssten, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, in der es Gewinner und Verlierer gibt.
Wie wäre es, wenn wir stattdessen alle daran arbeiten würden, das ein Stück weit zu ändern, und Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, den für sie richtigen Platz zu finden, anstatt ihnen zu zeigen, wo sie im Vergleich zu anderen stehen?
In unseren Schulen findet seit einigen Jahren ein spürbarer Wandel statt. Es wird mehr auf das Kind eingegangen, der Unterricht stärker individualisiert. Vielerorts wird mit alternativen Bewertungsformen experimentiert. Ein Lehrer schilderte mir beispielsweise Folgendes: «Bei uns lernen die Schüler im Fach Mathematik in Lernateliers.
Sie entscheiden selbst, wann sie sich für den Test bereit fühlen. Bestehen sie diesen, können sie im Stoff weiterfahren. Falls nicht, befassen sie sich nochmals mit den Inhalten.» Auf diese Weise fühlen sich Schülerinnen durch Prüfungen nicht als Person bewertet, sondern sehen einfach, was sie bereits können und ob sie nochmals etwas Zeit und Übung investieren müssen – eine schlechte Leistung wird zu einer Momentaufnahme und lässt sich verbessern.
Die Prüfungsaufgaben werden dabei von einem Computerprogramm zusammengestellt und teilweise auch ausgewertet, um die Lehrkraft zu entlasten. Der mit der Individualisierung verbundene Aufwand wird damit durch entsprechende Lehrmittel aufgefangen und nicht durch die einzelne Lehrperson.
Zu guter Letzt möchte ich Sie ermutigen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Prüfungsängste lassen sich oft gut behandeln – beispielsweise in einer Psychotherapie oder im Rahmen eines Lerncoachings.
Büchertipps

Huch, die Angst ist da! Hogrefe 2021, 160 Seiten, ca. 30 Fr.

Clever lernen. Hogrefe 2018, 240 Seiten, ca. 37 Fr.