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Autismus: Was ist dran an dem Boom?

Aus Ausgabe
07+08 / Juli + August 2025
Lesedauer: 16 min

Autismus: Was ist dran an dem Boom?

Vor 40 Jahren betraf Autismus 1 von 1000 Personen, heute sind damit verbundene Störungsbilder nebst ADHS die häufigste Verdachtsdiagnose bei auffälligem Verhalten. Der Druck auf Abklärungsstellen ist enorm, der mediale Hype ebenso. Was hat es damit auf sich? Auf Spurensuche im Spektrum.
Text: Virginia Nolan

Bilder: Silas Zindel / 13 Photo

Es konnte ein Blatt sein, das vom Baum gefallen war, welches die Aufmerksamkeit von Matthias fesselte. Dann drehte und wendete es der Bub, studierte es eingehend. Er schien wie versunken in solche Betrachtungen – das war seinem Vater früh aufgefallen. Wie war es möglich, dass ein Kind sich so lange mit einer Sache beschäftigte?

Abends ordnete Matthias die Gegenstände in seinem Zimmer nach dem immer gleichen Muster an, sonst konnte er nicht schlafen. Wenn die Mutter sagte, man werde in fünf Minuten zum Einkaufen aufbrechen, wurde Matthias ungehalten, wenn daraus sieben Minuten wurden. Forderten die Leute ihn auf, gut aufzupassen, vergrub er zuweilen den Kopf in den Armen, und in Gesprächen wandte er den Blick ab. Er konnte sich besser auf Gesagtes konzentrieren, wenn er die Zuckungen ausblendete, die vom Gesicht des Gegenübers ausgingen: Mimik lenkte ihn ab.

Beim Fussballspielen sah Matthias nur den Ball, nicht die Kinder dahinter.

Im Spiel anderer Kinder erkannte Matthias keine Regeln. «Du könntest mitspielen», schlugen die Mutter oder die Lehrerinnen vor. Aber Spielen, was bedeutete das? Sich hinsetzen oder dazustehen? Welche Tätigkeiten und Bewegungen ausführen? Am Ende ging Matthias meist zu der Beschäftigung über, die ihm am liebsten war: Er bildete mit farbigen Würfeln Mosaike und starrte sie an.

Beim Klettern machte er mit, den Baum hoch und wieder runter, auch beim Fussball, denn da war klar: Der Ball muss ins Tor. In welches, musste Matthias stets aufs Neue fragen. Wenn er rannte, sah er nur den Ball, nicht die Kinder dahinter. Es war, als hätte ein nebliger Dunst sie verschluckt.

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Unter Daueranspannung

In der Schule galt Matthias als still. In seinem Kopf dagegen war es laut, prasselten Sinneseindrücke wie Trommelregen auf ihn ein. Sagte der Lehrer etwas, verstand er oft nicht, was gemeint oder wer angesprochen war. Dann ahmte er nach, was die anderen machten. So ging es bis zur Berufsausbildung.

Weil seine Mutter oft im Spital gewesen und er mit dieser Umgebung vertraut war, entschied er sich zunächst für die Pflege. Matthias gefiel, dass in diesem Beruf vieles reglementiert war: medizinische Abläufe, Handgriffe rund um den Patienten, alles, was zu dessen Versorgung gehörte. Der Faktor Mensch blieb eine Herausforderung.

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«Als Kind und Jugendlicher stand ich unter Daueranspannung», sagt Matthias Huber heute. Er war Mitte 20, als ihm ein Berufsberater zur medizinischen Abklärung riet – sein Verhalten wirke autistisch. Es stellte sich heraus, dass einen Namen hatte, was Matthias Huber den Ruf als Sonderling bescherte: Er hatte das Asperger-Syndrom, eine Form von Autismus.

Der mittlerweile 57-Jährige kennt Autismus nicht nur aus der Betroffenenperspektive. Als Psychologe war er an der Uniklinik UPD in Bern viele Jahre in der Diagnostik tätig. Heute leistet er als Berater und Referent seinen Beitrag dazu, dass Menschen mit und ohne Autismus die Welt der «anderen» besser verstehen.

Was ist da los?

In den 1980er-Jahren betraf die Diagnose Autismus 1 von 1000 Personen, heute soll es je nach Datenquelle 1 von 80 sein. An der Psychiatrischen Uniklinik in Zürich haben sich Autismus-Abklärungen bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen vier Jahren verdoppelt, an der Uniklinik Basel häuften sich damit verbundene Anfragen in ähnlichem Mass.

Auch die Interkantonale Schule für Heilpädagogik hält fest: «In den letzten Jahren wurde in den Schulen immer häufiger die Verdachtsdiagnose Autismus gestellt. Zusammen mit ADHS ist Autismus die häufigste Verdachtsdiagnose im Bereich der Verhaltensprobleme. Erhebungen zeigen, dass die Anzahl betroffener Menschen in den letzten 40 Jahren markant zugenommen hat.»

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Diese Entwicklung folgt einem internationalen Trend, der sich in hochentwickelten städtischen Ballungsgebieten besonders akzentuiert zeigt: Einer Studie im Fachmagazin «Pediatrics» zufolge ist die Zahl der Autismus-Diagnosen in der Region New York und New Jersey zwischen 2000 und 2016 um bis zu 500 Prozent gestiegen.

Was ist da los? Oder, um ganz vorne zu beginnen: Worum handelt es sich bei Autismus genau? Ist damit eine Krankheit gemeint, ein psychisches Leiden oder ein soziales Manko? Eine Superkraft gar, wie Medien mitunter suggerieren? Warum ist heute bei Autismus von einem Spektrum die Rede? Wie machen sich damit verbundene Auffälligkeiten bemerkbar, an welchen Kriterien orientiert sich die Wissenschaft? Ist Autismus eine Modediagnose? Diesen und weiteren Fragen geht das vorliegende Dossier nach.

Das autistische Gehirn

Neurodiversität ist im Zusammenhang mit Autismus ein beliebtes Schlagwort. Der Begriff bezieht sich auf die Tatsache, dass das autistische Gehirn anders arbeitet. Was macht seine Besonderheiten aus? «Wir gehen davon aus, dass ein genetisch veränderter Code beim Fötus zu einer andersartigen Gehirnentwicklung führt», sagt Inge Kamp-Becker, Professorin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg. «Dies betrifft insbesondere die neuronalen Verbindungen zwischen Gehirnarealen, die für die Verarbeitung von sozialen Reizen zuständig sind.»

So zeigten Untersuchungen, dass die Konnektivität zwischen weit auseinanderliegenden Gehirnarealen im autistischen Gehirn reduziert ist, die zwischen benachbarten dafür umso stärker: «Daher verfügen manche Personen mit Autismus über eine ausgeprägte Merkfähigkeit und ein Auge für Kleinigkeiten, die anderen entgehen.»

Die verschiedenen Ausprägungen von Autismus unterscheiden sich stark voneinander. Daher rührt der Begriff des Spektrums.

Der Überfokus aufs Detail bewirke jedoch, dass der Blick aufs Gesamtbild fehlt – wie bei Matthias Huber, der nur den Ball sah, aber keine Notiz nahm von den Kindern, die diesem nachjagten. Oder wie bei autistischen Kleinkindern, die sich auf Teilobjekte wie die Räder eines Spielzeugautos fokussieren, ohne das Auto als Ganzes zu erfassen.

«Damit wir übergeordnete Zusammenhänge erkennen, zum Beispiel Kommunikationssignale entschlüsseln können, müssen entfernte Gehirnareale gut zusammenarbeiten» sagt Kamp-Becker. Etwa der Stirnlappen mit der Amygdala im Mittelhirn. Während Ersterer eine tragende Rolle spielt bei Selbststeuerung, Planung oder Emotionskontrolle, ist die Amygdala an der Entstehung von Gefühlen beteiligt.

Sie verknüpft diese mit Erinnerungen und hat einen Einfluss darauf, wie wir Sinnesreize emotional bewerten, etwa Gefahren einschätzen. «Ist die Verbindung zwischen Stirnlappen und Amygdala eingeschränkt, stehen Menschen vor Herausforderungen, die für Autismus typisch sind», sagt Kamp-Becker. «Sie können Mimik und Gestik schwer deuten und haben Mühe, Emotionen oder soziale Signale einzuschätzen.»

Ein vielschichtiges Störungsbild

Autismus steht mit einer ganzen Reihe neurobiologischer Abweichungen in Verbindung, die die Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten und funktionaler Sprache beeinträchtigen können. «Knapp die Hälfte der Menschen mit einer Autismus-Diagnose ist von einer Intelligenzminderung betroffen», sagt Kamp-Becker. «Die anderen verfügen über durchschnittliche und in einigen Fällen auch sehr gute kognitive Fähigkeiten.»

Mit der Sprache verhält es sich ähnlich: Die einen lernen nie oder nur bruchstückhaft sprechen, die anderen haben diesbezüglich keine Probleme. Oder nicht ganz so einschneidende: Ihre eingeschränkte Sprachverarbeitung äussert sich beispielsweise dadurch, dass sie Sprache wörtlich nehmen und Redewendungen, Dinge im übertragenen Sinn oder Ironie nicht verstehen.

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Autismus äussert sich in jedem Fall anders, doch gibt es einen gemeinsamen Nenner: Kommunikation und Interaktion mit der sozialen Umwelt sind beeinträchtigt, die Interessen und Aktivitäten von Betroffenen eingeschränkt und ihr Verhalten oft vom Verlangen nach festen Routinen und Wiederholung gekennzeichnet.

«Qualität und Intensität der Symptomatik», sagt Psychologe Huber, «variieren von Mensch zu Mensch. Den einen ist ein normaler Alltag unmöglich, die anderen funktionieren auf den ersten Blick weitgehend unauffällig.»

Schubladisierung hat ausgedient

Weil das Störungsbild so vielschichtig ist, hat die moderne Medizin den Begriff des Autismus-Spektrums eingeführt: Er macht deutlich, dass Symptome unterschiedlich, Übergänge fliessend und Kategorien wenig hilfreich sind.

«Wir sprechen von Autismus-Spektrum-Störungen, weil wir wissen, dass die Krankheit eine Bandbreite von Entwicklungsstörungen umfasst, die zwar ähnliche neurobiologische Ursachen haben, sich in ihrer Ausprägung aber stark voneinander unterscheiden», sagt Alain Di Gallo, Direktor der Klinik für Kinder und Jugendliche an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.

Wird die persönliche Schilderung höher gewichtet als die klinische Beobachtung, ist das problematisch.

Matthias Dose, Psychiater

«Heute können wir auch weniger offensichtliche Symptome medizinisch einordnen und Betroffenen helfen, die früher als sonderbar abgestempelt worden wären.» Zum Beispiel Matthias Huber: In seiner Kindheit traf die Diagnose nur diejenigen mit frühkindlichem Autismus, der schwersten Form einer autistischen Störung. Erst 1993 nahm die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Asperger-Syndrom und den atypischen Autismus als weitere Subtypen in die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD) mit auf.

Zwar sind die drei Autismus-Kategorien noch gebräuchlich, in der Diagnostik haben sie aber bald ausgedient. In der elften Auflage der ICD fasst sie die WHO übergreifend unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammen. Neu differenziert die WHO autistische Störungen danach, ob und wie stark Intelligenz und funktionale Sprache beeinträchtigt sind, auch berücksichtigt sie sensorische Besonderheiten.

Viel Spielraum in der Deutung

Die ICD-11 trat 2022 in Kraft, doch haben Mitgliedsstaaten mindestens fünf Jahre Zeit, ihre Gesundheitssysteme anzupassen. In der Schweiz orientieren sich Diagnostiker zur Einordnung der Symptomatik mancherorts bereits an der ICD-11, abgerechnet wird noch nach dem alten Kategoriensystem.

Zwar sind sich Fachpersonen einig, dass ein Spektrum zum Verständnis von Autismus besser taugt als Schubladisierung. Es gibt aber auch Kritik am neuen Klassifikationssystem. «Die ICD-11 lässt eine sehr offene Interpretation von Autismus zu», moniert Psychologin Kamp-Becker.

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«Zum Beispiel setzt sie nicht explizit voraus, dass in allen drei Referenzbereichen – soziale Interaktion, soziale Kommunikation und repetitive, stereotype Verhaltensmuster – Beeinträchtigungen vorliegen. Es gibt keine Vorgaben dazu, in welchem Bereich wie viele Auffälligkeiten gegeben sein müssen. Da bleibt viel Spielraum in der Deutung. Salopp gesagt ist für alle etwas dabei, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellig werden.»

«Auch ein Spektrum hat Grenzen»

Der deutsche Psychiater und Autismus-Experte Matthias Dose teilt die Sorge: «Wir bewegen uns weg von sichtbaren Auffälligkeiten – hin zu subjektiv empfundenen, wenig objektivierbaren Symptomen. Wird die persönliche Schilderung höher gewichtet als die klinische Beobachtung, ist das problematisch. Auch ein Spektrum hat Grenzen.»

Für den sprunghaften Anstieg von Autismus-Diagnosen gibt es verschiedene Gründe, weiss Charlotte Gwerder, Leiterin der Fachstelle für Autismus an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Dabei spiele nicht nur die verfeinerte Diagnostik eine Rolle, die leichtere Formen der Störung miteinschliesst, sagt die Kinder- und Jugendpsychologin: «Zentral ist die Sensibilisierung von Fachpersonen und Bevölkerung. Nicht nur Kinderärztinnen und Lehrer sind heute über Auffälligkeiten besser im Bild, auch Eltern ziehen Autismus als mögliche Erklärung eher in Betracht, wenn das Verhalten ihres Kindes Fragen aufwirft.»

Die Entstigmatisierung von Autismus hat oft nicht die Anerkennung, sondern die Negierung einer medizinischen Störung im Sinne.

Inge Kamp-Becker, Psychologin

Zudem verfüge man über mehr ausgebildete Fachleute, die eine Autismus-Spektrum-Störung erkennen, wo sie vor zehn Jahren unbemerkt geblieben wäre: «Was früher als geistige Behinderung eingestuft wurde, offenbart sich heute bei genauerem Hinsehen oft zusätzlich als frühkindlicher Autismus.» Diese schwere Störungsform trifft auf 25 bis 30 Prozent aller Autismus-Betroffenen zu.

«Bei diesen Fällen ist jedoch kaum ein Anstieg an Diagnosen festzustellen», hält der «Bericht Autismus-Spektrum-Störungen» des Bundes fest. «Eine Zunahme ist hingegen bei den weniger schwer betroffenen Kindern erkennbar.»

Zehn Milliarden Aufrufe pro Tag

Was die Sensibilisierung der Öffentlichkeit betrifft, spielen Medien eine Schlüsselrolle. Von «Rain Man» über «Big Bang Theory» bis «Dr. House»: Über 30 Filme und Serien mit autistischen Helden haben zur Bekanntheit entsprechender Störungsbilder beigetragen. «Diese Beiträge haben die Ansicht vieler Menschen über Autismus geprägt», weiss Psychiater Matthias Dose.

«Einmal befragten hier in München Studierende Passanten, was ihnen zu Autismus einfalle. Die häufigste Antwort lautete: Das sind schrullige, aber hochbegabte Menschen. Das Image von Autismus ist mehrheitlich positiv.»

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Die mediale Präsenz habe viel zur Entstigmatisierung und Sensibilisierung beigetragen, sagt Dose: «Das ist der positive Effekt.» Die Kehrseite: Einerseits vermittelten viele Formate ein klischiertes Bild autistischer Störungen, etwa vom Nerd mit Inselbegabung, andererseits würden Symptome so beliebig ausgelegt, dass sich fast jeder darin wiederfinde.

Sie haben keine Lust auf Smalltalk oder ein Auge fürs Detail, wippen zur Beruhigung mit dem Oberkörper oder klagen über Reizüberflutung: Im Netz kursieren zahlreiche Beiträge, in denen Menschen, die sich selbst als autistisch bezeichnen, ihr Erleben beschreiben.

«2023 registrierten Forscher auf Tiktok an einem Tag zehn Milliarden Aufrufe zum Thema Autismus», sagt Dose. «Da wundert es mich nicht, dass immer mehr junge Leute diese Diagnose aktiv einfordern, weil irgendwelche Influencer damit ihre Einzigartigkeit unterstreichen. Ich habe nie erlebt, dass jemand auf eine Zwangsstörung oder eine Psychose bestanden hätte – aber es kommt vor, dass Menschen eine Autismus-Spektrum-Störung als einzige Erklärung für ihre psychosozialen Probleme akzeptieren, selbst wenn sie im Rahmen einer sorgfältigen Diagnostik ausgeschlossen wurde.»

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Störung oder Superkraft?

Das Internet ist eine schlechte Anlaufstelle für verlässliche Informationen zu Autismus, stellte Forscherin Kamp-Becker bei der Auswertung von über hundert Onlinequellen fest: «Besonders problematisch: Es fehlt die Abgrenzung gegenüber anderen Störungsbildern. Viele Symptome, die mit Autismus in Verbindung stehen, treten auch im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen auf. Diese Tatsache geht völlig unter.»

So hätten sich Jugendliche, aber auch Eltern oft bereits ein Konzept von autistischem Verhalten gebildet: «Mütter und Väter sehen es etwa als verdächtig an, dass ihr Kind Dinge sortiert oder schlecht mit Planänderungen umgehen kann. Ich muss sorgfältig abklären, wie Eltern solche Symptome einordnen. Viele Kinder sortieren gerne. Die Frage ist: Inwiefern sind nebst Sortieren noch andere Dinge möglich?»

Ich empfinde Autismus als Störung. Die sollten wir beim Namen nennen.

Christine Preissmann, Ärztin mit Asperger-Syndrom

Derweil häuft sich die Anzahl Prominenter, die angeblich Autismus haben und diesen als Superkraft bezeichnen. Eine solche Entstigmatisierung sei ein zweischneidiges Schwert, sagt Psychologin Kamp-Becker: «Weil sie nicht die Anerkennung, sondern die Negierung einer medizinischen Störung im Sinne hat. In meine Sprechstunde kommen immer mehr Jugendliche, die eine Autismus-Spektrum-Störung für sich als Identität entdeckt haben. Die sagen: Da ist die Antwort, nach der ich gesucht habe, damit geht es mir besser. In vielen Fällen muss ich ihnen dann aber vermitteln, dass die Ursache für ihre Probleme nicht Autismus, sondern etwas anderes ist.»

Bagatellisierung schadet Betroffenen

«Autism is not a disability, it's a different ability», lautet ein zigfach geteilter Sinnspruch, der besagt: Autismus ist keine Beeinträchtigung, sondern eine besondere Fähigkeit. Was die Medizin als Einschränkungen beschreibt – Probleme im Sozialen oder beim Sprachverständnis –, legt die sogenannte Neurodiversitätsbewegung als Charakterstärken aus: Autisten seien authentisch und direkt, heisst es etwa, sie könnten nicht lügen oder hätten kein Interesse an seichter Unterhaltung.

Nian (Mitte) erhielt erst spät die Diagnose Autismus. Seine Eltern (links) wünschten sich mehr Unterstützung. Lesen Sie hier mehr dazu.

Eine Bagatellisierung, die mit der Realität vieler Betroffener nichts gemein habe, findet Christine Preissmann, Ärztin und Autismus-Expertin mit Asperger-Syndrom: «Ich würde mich nicht als neurodivers bezeichnen. Ich bin seit je beeinträchtigt. Jeder Tag ist eine Herausforderung, weil trotz geregelter Abläufe Unvorhersehbares geschieht. Ich bin seit über 25 Jahren in Psychotherapie und zusätzlich auf die Hilfe einer Ergotherapeutin angewiesen. Ich empfinde Autismus als Störung. Die sollten wir beim Namen nennen, für Neurodiversität gibts nämlich keine Hilfe.»

Herausforderungen der Diagnostik

Wird Autismus zur Modediagnose? «Je länger, je mehr», ist Kinder- und Jugendpsychologin Kamp-Becker überzeugt. «Manche Eltern pochen schon fast darauf. Möglicherweise, weil die Diagnose weniger stigmatisierend ist, nicht mit dem elterlichen Erziehungsverhalten in Verbindung gebracht wird und damit auch Hilfen verbunden sind. Wenn wir am Uniklinikum die Diagnose Autismus nicht bestätigen, versuchen manche Eltern, sie an anderer Stelle zu bekommen.»

Auch die sogenannte Normalität weist ein breites Spektrum auf. Das sollten wir nicht vergessen.

Charlotte Gwerder, Psychologin

«Hilfe und Förderung sollen denjenigen zuteilwerden, die sie brauchen», sagt Charlotte Gwerder von der Uniklinik Basel. «Darum halten wir uns in der Diagnostik an hohe Standards. Ich glaube, das gilt für alle Schweizer Unikliniken.»

Beruhigung statt Alarmismus

Die grösste Schwierigkeit im Rahmen einer Autismus-Abklärung ist Expertinnen zufolge die Differenzialdiagnostik, die Abgrenzung zu anderen Störungsbildern mit überlappenden Symptomen. «Gerade im Grenzbereich», sagt Gwerder, «braucht es eine Spezialausbildung und viel Erfahrung, um die Symptomatik richtig zu erfassen.» Besagte Ausbildung, über die Gwerder und ihr Team an der Uniklinik verfügen, ist aber kein Muss, um Autismus-Abklärungen anbieten zu dürfen.

Spielerisch versucht Josefine, die Aufmerksamkeitsspanne ihrer Tochter Jalia zu verbessern.

«Es gibt sicher Fachpersonen, die auch so gute Arbeit leisten, weil sie durch Erfahrung einen geschulten Blick haben», sagt Gwerder. «Aber angesichts der aktuellen Entwicklung fände ich es sinnvoll, dass diese Spezialschulung absolviert, wer Diagnostik macht. Das wird jedoch kontrovers diskutiert.»

Wenn Jalia weiss, was sie erwartet, kann man vieles mit ihr unternehmen. Eine gute Vorbereitung ist daher wichtig.

Der Druck auf Abklärungsstellen sei enorm, so Gwerder: «Werden Kriterien im Netz so beliebig ausgelegt, verlieren Eltern oder Lehrpersonen den Durchblick in der Frage, was noch normal ist.» Sensibilisierung kippe zunehmend in Alarmismus: «Wir sehen dieses Problem nicht nur im Zusammenhang mit Autismus-Spektrum-Störungen, aber dort besonders ausgeprägt.»

Fokus auf Störungen nimmt überhand

So forderten zunehmend auch Schulen Autismus-Abklärungen. «Wir legen viel Wert auf deren Beobachtungen», betont Gwerder. «Sie kommen teilweise auch sehr differenziert daher.» Schulen wollten nichts verpassen, zudem ermögliche eine Autismus-Diagnose personelle Entlastung.

«Es sind Autismus-Checklisten im Umlauf, die Schulen selbst angefertigt haben», so Gwerder. «Solche Bemühungen sind gut gemeint, aber heikel. Mir scheint, der Fokus auf Störungen nehme überhand. Es hiess jahrelang zu Recht, Autismus werde zu wenig beachtet und unterdiagnostiziert. Jetzt kippt es fast ins Gegenteil.»

Die Kinder- und Jugendpsychologin wünscht sich eine Beruhigung. Dass in den Köpfen wieder präsenter wird, was oft vergessen geht: «Die Tatsache, dass auch die sogenannte Normalität ein breites Spektrum aufweist – und im Rahmen einer gewöhnlichen kindlichen Entwicklung so einiges möglich ist.»

Anlaufstellen

Verein Autismus Schweiz Informationen und Beratung für Autismus-Betroffene und Angehörige: www.autismus.ch
Stiftung Kind & Autismus Beratung und Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung und ihre Eltern, Kurse und Weiterbildungen für Betroffene, Eltern, Fachpersonen, Schulen und Institutionen: www.kind-autismus.ch