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Altersgrenzen für Social Media: Vorsorgen statt zuwarten

Aus Ausgabe
11 / November 2025
Lesedauer: 4 min

Altersgrenzen für Social Media: Vorsorgen statt zuwarten

Ein Diskussionspapier setzt sich dezidiert mit der Einführung von Altersgrenzen in sozialen Medien auseinander – und empfiehlt pragmatisches Handeln.
Text: Thomas Feibel

Illustration: Petra Duvkova / Die Illustratoren

Oft wird die Ära der grossen Digitalkonzerne mit der Zeit des kalifornischen Goldrauschs verglichen. Im Wilden Westen herrschte damals das Recht des Stärkeren. Heute springen die Anbieter digitaler Dienste ähnlich rücksichtslos mit Themen wie Datenschutz, Privatsphäre und Urheberrecht um.

Auch der Jugendschutz ist ihnen im Grunde vollkommen gleichgültig. Zwei Beispiele: Im Februar 2024 nahm sich ein Jugendlicher in den USA das Leben, nachdem ihn eine KI in seinen suizidalen Absichten bestärkt hatte. Und Meta liess im August 2025 Kinder zu Testzwecken mit Chatbots flirten. Es ist also nur folgerichtig, wenn in vielen Ländern staatliche Regulierungen vorangetrieben werden. Australien hat bereits den Zugang zu sozialen Medien unter 16 Jahren untersagt, eine EU-Kommission arbeitet an einem Antrag auf Altersverifizierung bei sozialen Medien. 

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Da aber die Verbotsdebatten häufig undifferenziert bis ideologisch geführt werden, sind faktenbasierte Erkenntnisse besonders gefragt. Die liefert das Diskus­sionspapier «Soziale Medien und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen» der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle (D). Die 80 Seiten starke Abhandlung bietet eine unaufgeregte Analyse der gegenwärtigen Studienlage.

Die Studienlage ist diffus

Die Wissenschaftler räumen dabei ein, dass selbst in der Forschung die Frage nach den Auswirkungen sozialer Medien recht kontrovers diskutiert wird. Die meisten Studien zeigten lediglich, dass gewisse Sachverhalte und Social Media gemeinsam auftreten, ohne dass klar ist, ob sie kausal zusammenhängen.

Und die Frage, wie soziale Medien tatsächlich auf das Gehirn einwirken, sei «bislang noch kaum neurowissenschaftlich untersucht, die empirische Studienlage daher recht dünn». Erschwerend komme hinzu, «dass sich die grossen digitalen Plattformen der Schaffung von öffentlichem Wissen und dem Austausch von Daten zum Zwecke der wissenschaftlichen Analyse häufig widersetzen».

Soziale Medien stärken soziale Bindungen und den Selbstwert, wenn sie verantwortungsvoll genutzt werden, schreiben die Wissenschaftler in ihrer Studie.

Das Papier beleuchtet die positiven und negativen gesundheitlichen Auswirkungen sozialer Medien auf Kinder und Jugendliche. Sie seien «wichtige Plattformen für junge Menschen, um sich selbst und ihre Meinung auszudrücken und eine eigene politische Stimme zu finden. Bekommen sie positives Feedback von anderen oder nutzen sie soziale Medien, um über sich selbst zu reflektieren, kann das ihr Selbstwertgefühl stärken.»

Insbesondere die authentische Selbstdarstellung im Netz hänge positiv mit dem psychischen Wohlbefinden zusammen. Der Austausch privater Nachrichten in den Netzwerken helfe, soziale Kontakte zu pflegen und im Netz eine stärkere soziale Unterstützung zu erhalten, die das Selbstvertrauen stärke. 

Eine klare Empfehlung

Auch die negativen Seiten von Social Media werden ausgeführt: Cybermobbing, Hasskommentare und Falschinformationen üben einen negativen Einfluss auf das Wohlbefinden junger Menschen aus. «Die hohe Dichte biologischer, psychologischer und sozialer Entwicklungsaufgaben in Kindheit und Jugend macht diese Lebensphase besonders anfällig für die Entstehung psychischer Störungen», so die Verfasser der Studie. Dadurch können Depressions- und Angstsymptome, Stress, Schlafprobleme und Essstörungen ausgelöst oder verstärkt werden. 

«Angesichts dieser Situation sprechen wir uns für die Anwendung des Vorsorgeprinzips aus», schreiben die Wissenschaflter. Dabei gehe es um Verhaltensempfehlungen, «wenn der wissenschaftlich begründete Verdacht einer erheblichen Schädigung der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt besteht, die empirischen Belege aber nicht ausreichen, um die Existenz, die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Grösse eines Schadens schlüssig nachzuweisen». 

Die Position der Schweizer Behörden

In der Schweiz wird die deutsche Studie aufmerksam verfolgt. Dennoch existieren derzeit keine konkreten Pläne für eine Altersverifikation, heisst es auf Nachfrage beim Bundesamt für Sozialversicherungen, das für den Jugendmedienschutz auf Bundesebene zuständig ist. Auch eine Einschätzung, ob die Schweiz bei den Bestrebungen der EU nachziehen würde, sei nicht möglich.

«Die Schweiz wird meiner Einschätzung nach nie etwas «einfach so» übernehmen, sondern immer zuerst eine Analyse der Situation vornehmen», sagt Yvonne Haldimann, stellvertretende Bereichsleiterin Kinder- und Jugendfragen. «Abgesehen davon sind sich die Anbieter von Social-Media-Plattformen ja durchaus gewöhnt, dass es länderspezifische Eigenheiten oder Regelungen gibt, denen sie sich anpassen müssen.»

Wissenschaftliche Studie

Empfehlungen

Altersabhängige Zugangsregelungen
  • Unter 13 Jahren: striktes Nutzungsverbot
  • 13–15 Jahre: Nutzung nur mit Zustimmung und in Begleitung der Eltern
  • 13–17 Jahre: altersgerechte Gestaltung der Plattformen mit eingeschränkten Funktionen
  • Verpflichtende Altersverifikation

Gestaltung sozialer Medien für Minderjährige

  • Für unter 18-Jährige: keine personalisierte Werbung, keine Profile, keine Monetarisierung, einfache Datenschutzrichtlinien
  • Für unter 16-Jährige: nur bestätigte Kontakte, kein Live-Streaming, keine Push-Nachrichten, kein Autoplay / unendliches Scrolling
  • Verpflichtende Pausen nach beispielsweise 45 Minuten Nutzung

Bildungseinrichtungen

  • Smartphone-Verbot in Kitas und Schulen bis 10. Klasse
  • Digitaler Bildungskanon: reflektierter Umgang, Medienkompetenz, KI-Wissen
  • Suchtprävention integrieren
  • Nutzung sozialer Medien für schulische Zwecke kritisch begrenzen

Hier gehts zur Studie «Soziale Medien und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen».