OMG! Sie lesen wieder!!
Kaum ein Teil unserer Gesellschaft gilt als dermassen lesefaul wie Kinder und Jugendliche. Sobald es ums Lesen geht, reagieren viele Erwachsene mit Vorurteilen und Vorwürfen. Meist spielen sie dabei Medien gegeneinander aus: die bösen Digitalmedien versus das gute Buch!
Zum Beispiel heisst es, Kinder, die viel gamen, würden nicht mehr lesen – bloss haben sie das meist schon vorher nicht getan. Oft wird ihnen auch grosse Leseunlust attestiert, weil sie pausenlos auf ihre Smartphones stieren. Tatsächlich liest diese Generation sogar ungeheuer viel. Etwa in ihrer täglichen Kommunikation miteinander, in den sozialen Medien oder wenn sie im Internet zu einem Thema recherchieren – nur halten das eben viele Eltern für das falsche Lesen.
Dahinter steckt der alte Irrglaube, dass Lesen immer nur etwas mit Bildung zu tun haben darf. Das hatten wir alles schon bei Comics und Mangas erlebt. Doch was Jugendliche lesen wollen, entscheiden sie immer noch selbst. Eigentlich müsste der gegenwärtig stärkste Lesetrend unter jungen Menschen alle Vorbehalte widerlegen, denn er kommt direkt aus den sozialen Medien: Die Rede ist von Booktok.
Eine internetaffine Lesebewegung
Weil Lesen eine einsame Angelegenheit ist und Austausch verbindet, hat sich auf dem sozialen Netzwerk Tiktok mit Booktok eine besonders lesehungrige und aktive Community entwickelt. Unter dem Hashtag #Booktok und sehr zahlreichen Untergruppierungen postet die junge Generation ihre persönlichen Buchempfehlungen.
Diese internetaffine Lesebewegung ist eine zeitgemässe Fortsetzung des sogenannten Social Reading, bei dem sich schon früher Lesebegeisterte in Foren und Blogs austauschten.
Young-Adult-Literatur greift Coming of Age, erste Liebe und Identitätsfragen auf, aber auch Themen wie Depressionen, Ängste und Queerness.
Zwar gab es bereits literarische Anregungen auf Youtube und Instagram, aber erst Booktok hat das soziale Lesen mit rund 60 Millionen Beiträgen – Tendenz stark steigend – endgültig aus seiner Nische katapultiert. Seinen Anfang nahm dieser Trend während der Corona-Pandemie, als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Isolation das Lesen wiederentdeckten.
Starke Emotionen im Mittelpunkt
Diese internationale Community bei Booktok besteht überwiegend aus weiblichen Kreatorinnen. In kurzen Videos inszenieren sie sich und das Lesen. Mal stehen sie vor farbig sortierten Bücherregalen, mal liegen sie in ihre Lektüre vertieft auf dem Bett. Zusätzlich setzen sie dramaturgische Elemente ein, wie etwa Musik, schnelle Schnitte oder einordnende Texteinblendungen.
Bei Booktok stehen starke Emotionen im Mittelpunkt. Sie reichen von grosser Begeisterung über tiefe Trauer bis hin zu Wut, Empörung oder Enttäuschung. Gehen Inhalte besonders nahe, wird in diesen Videos auch hemmungslos geschrien und geweint. Das wird von Erwachsenen gerne belächelt. Warum eigentlich? Mit elaborierten Rezensionen ist diese Zielgruppe jedenfalls nicht zu erreichen.
Intensive Gefühle hingegen packen Jugendliche. Denn in der Adoleszenz durchleben sie selbst täglich emotionale Höhenflüge und Tiefpunkte. Da sich viele Heranwachsende zudem von klassischen Gattungen wie Kinder- oder Jugendbuch nicht mehr abgeholt fühlen, haben sich inzwischen neue Kategorien etabliert: Young Adult und New Adult.
Für jedes Alter ist etwas dabei
Young Adult richtet sich unter anderem mit Dystopien, Thrillern oder Fantasy an 12- bis 18-jährige Lesende. Während im klassischen Jugendbuch oft ein pädagogischer Ansatz spürbar ist und der Stil anspruchsvoll bleibt, sind diese Werke deutlich niederschwelliger, wirken authentischer und emotionaler.
Young-Adult-Literatur greift Coming of Age, erste Liebe und Identitätsfragen auf, behandelt aber auch schwierige Themen, die Jugendliche verunsichern und beschäftigen. Zum Beispiel Ängste, Depressionen, toxische Beziehungen oder Queerness. Auch sexuelle Inhalte kommen vor, gehen dabei aber nicht zu sehr ins Detail.
Wir haben alle einmal Geschichten verschlungen, die literarisch nicht hochstehend waren – uns aber dennoch begeistert haben.
Anders als im New Adult, das sich an 16- bis 25-Jährige richtet und deutlicher zur Sache geht. Unter dem Stichwort Spice hat diese Kategorie mit ihren expliziten Szenen einen grenzwertig pornografischen Ruf erhalten. Dabei wird aber ein wichtiger Aspekt häufig übersehen: Da viele dieser Werke meist von Autorinnen stammen, zeigen die spicigen Szenen vor allem eine weibliche Perspektive auf die Sexualität.
Ein durchkommerzialisierter Markt
Genremässig und inhaltlich ist New Adult ebenfalls breit aufgestellt. Es geht immer wieder um Selbstfindung, gesellschaftliche Kontroversen oder den Start ins Studenten- und Berufsleben. Auch wenn Vampire, Dämonen und viele Klischees hier Hand in Hand gehen – die Themen bei Young Adult und New Adult sind so vielschichtig wie die jungen Erwachsenen selbst.
Booktok entstand seinerzeit direkt aus der Zielgruppe. Ohne Plan und ausgeklügelte Marketingstrategien. Heute ist daraus ein durchkommerzialisierter Markt geworden. Viele Buchverlage springen mit eigenen Reihen und Imprints auf den Zug auf. Für sie ist die lebendige Community eine kostenlose Marketingplattform mit enormer Reichweite.
CH Booktok im Überblick
#Booktokschweiz
#Booktokswitzerland
#Swissbooktok
Begrifflichkeiten (Auswahl)
Dark Romance: düster angehauchte Romanzen
Reading slump: Leseflaute, keine Lust
Rereads: Bücher, die man immer wieder lesen kann
Slowburn: Lovestory mit wachsender Spannung
Spicybooks/Smuttok: konkrete Liebes- und Sexszenen
SuB: Stapel ungelesener Bücher
Tbr: to be read
Trope: Handlungsmuster, etwa «Enemy to Lovers»
Auf den entsprechenden Büchern selbst prangen Booktok-Sticker, die die junge Käuferschicht ansprechen sollen. In Buchhandlungen werden grosszügige Regal- und Stapelflächen zur Verfügung gestellt.
«Wir gehen davon aus, dass die Ausgabebereitschaft der Jugendlichen für Bücher durch New Adult gestiegen ist», sagt Tanja Messerli vom Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband. «Die Abteilungen New/Young Adult sind im stationären Handel in den Zentren und Einkaufszentren die, die am besten laufen und die zu den wenigen Abteilungen gehören, wo der Absatz steigt.»
Auch leichte Kost ist ein guter Einstieg
Booktok schafft mühelos etwas, an dem viele Eltern und pädagogische Fachkräfte scheitern: Es spricht besonders Nichtleser an. Dennoch stufen viele Erwachsene Young Adult und New Adult als banal ein und vergleichen sie mit den Groschen- oder Arztromanen früherer Zeiten. Dabei haben wir doch alle einmal Geschichten verschlungen, die literarisch nicht hochstehend waren – uns aber dennoch begeistert haben.
Leichte Kost kann ein guter Einstieg sein, um das Tor zu anspruchsvolleren Werken zu öffnen. Schon jetzt erleben durch Booktok klassische Autoren wie Franz Kafka ein Revival. Lesen ist etwas Gutes.