Der Einstieg in den Kindergarten bringt für alle Kinder viele neue Eindrücke. In kürzester Zeit lernen sie beispielsweise Dutzende neue Menschen kennen: Lehrpersonen und Betreuer beziehungsweise Betreuerinnen und natürlich die vielen Gspänli. Sie stellen sich herausfordernden Aufgaben wie dem selbständigen An- und Ausziehen, dem Stillsitzen und der Trennung von den Eltern oder Bezugspersonen. All dies ist auch emotional anstrengend. Kein Wunder also, wenn die Kinder in der ersten Chindsgi-Zeit oft müde oder sehr aufgekratzt sind.
Durch das Vorlesen können Kinder besser über ihre Gefühle und Erlebnisse sprechen und Erfahrungen verarbeiten und teilen.
Für einen guten Umgang mit den vielen Veränderungen im familiären Alltag können Rituale helfen. Sie vermitteln Geborgenheit und vermögen die stressigen Situationen aufzufangen. Das Vorlesen zu Hause bietet sich hierbei besonders an. Es bringt die erwachsene Person und das Kind nicht nur körperlich, sondern auch gedanklich nahe zusammen und beschert so innige Momente während des aufreibenden Kindergartenstarts.
Die Vorlesesituation bietet ausserdem eine Möglichkeit, durch Geschichten und Bilder über Gefühle und Erlebnisse ins Gespräch zu kommen, ohne diese direkt anzusprechen. Das kann dem Kind helfen, Erfahrungen zu verarbeiten und zu teilen.
Interesse des Kindes im Zentrum
Unter dem Begriff «Vorlesen» darf man sich dabei unterschiedliche Situationen vorstellen. Klassische Bilderbücher lassen sich auch frei erzählen, ohne dem vorgegebenen Text zu folgen. Vor allem wenn zu Hause Dialekt oder auch eine andere Sprache gesprochen wird, passt diese Form für alle Beteiligten oft am besten.
In Wimmelbüchern laden grossformatige Bilder mit vielen kleinen Szenen ganz ohne Text zum gemeinsamen Entdecken ein. Und manche Kinder lassen sich von Kinderzeitschriften oder Sachbüchern eher begeistern als von Geschichten. Sowieso sollten bei der Auswahl der Bücher die Interessen der Kinder im Zentrum stehen.
Bei einem Besuch der örtlichen Bibliothek finden Sie gemeinsam bestimmt den richtigen (Vor-)Lesestoff. Sowieso sind Bibliotheken ein attraktiver Freizeitort, wo die ganze Familie blättern und lesen, verweilen, Spiele spielen und Vorleseveranstaltungen besuchen kann.
Förderung der Sprache
Seinen Ruf als wahres «Wundermittel» in der kindlichen Entwicklung hat das Vorlesen auch durch seine wichtige Rolle in der Sprachförderung – und damit in der Hinführung des Kindes ans Lesen und Schreiben. Erstes Lesen beginnt nicht mit Buchstaben: Kleinkinder erkennen auf Bildern und in ersten Pappbüchern bekannte Gegenstände wieder.
Später erfassen sie beispielsweise einzelne Szenen in Wimmelbüchern und lesen und verstehen irgendwann ganze Bildabfolgen. Bestimmt hat Ihr Kind bereits viele Zeichen und Symbole wie die Figuren an Toilettentüren oder die Verbotstafeln im Bus entdeckt.
Die Lieblingsgeschichte, die das Kind ständig hören will, behandelt oft ein Thema, das es gerade beschäftigt.
Im Gespräch mit Ihnen lernt es, wofür diese Zeichen stehen. Auch das gehört im weiteren Sinne zum Vorlesen und kann unterwegs stattfinden. Dieses «Lesen» von Bildern – mit oder ohne Buch – und die dazugehörenden Gespräche spielen im Kindergarten ebenfalls eine wichtige Rolle.
Gut belegt ist auch, dass Kinder, denen regelmässig vorgelesen wird, über einen grösseren Wortschatz verfügen. In Büchern begegnen sie Wörtern und Sprachformen, die über die Alltagssprache hinausgehen. Im Mündlichen gilt dies für Verse, Reime und Lieder. Auch sie führen Kinder spielerisch und kreativ an eine literarische Sprache heran. Sie lassen sich auch besonders gut in den Familienalltag integrieren: als lustige Sprüche vor dem Essen, als Unterstützung beim Zähneputzen, zum Trösten oder als Einschlafhilfe.
Sprach- und Leseentwicklung fördern
- Sprechen Sie mit Ihrem Kind in der Sprache, die Sie am besten beherrschen. Damit geben Sie ihm eine sichere Grundlage für das Erlernen weiterer Sprachen.
- Ihr Kind entwickelt seine Sprache im Gespräch mit Ihnen. Wenn Sie mit ihm über seine Beobachtungen sprechen, erweitert es seinen Wortschatz und bekommt Lust auf neue Entdeckungen.
- Mit Sprache kann man wunderbar spielen. Reime, Lieder und Bewegungsspiele lassen Ihr Kind erleben, wie lustig Sprache sein kann.
- Geschichten und Bilder eröffnen Ihrem Kind neue Welten. Beim Vorlesen kann es sie mit Ihnen zusammen erkunden und viele neue Begriffe kennenlernen.
- Schriftzeichen und Symbole faszinieren Ihr Kind. Mit Ihrer Hilfe kann es deren Geheimnissen auf die Spur kommen.
- Bücher als gute Freunde: In Bibliotheken können Sie gemeinsam mit Ihrem Kind Bücher und andere Medien ausleihen.
- Die Medienvielfalt gehört zum kindlichen Alltag: Begleiten Sie Ihr Kind beim Entdecken von Geschichten in Filmen, Hörbüchern und Apps.
- Kritzeln und Malen auf Papier, gemeinsames Fotografieren und Gestalten mit Smartphone und Tablet regen Ihr Kind an, sich in Bild und Sprache auszudrücken.
Die Bindung zum Kind vertiefen
Doch zurück zum Vorlesen: Natürlich profitieren Kinder in ihrer Fantasie- und Sprachentwicklung auch von Geschichten, die sie als Hörbücher oder Hörspiele hören, wovon ein grosses Angebot zur Verfügung steht. Im emotional nährenden Moment des Vorlesens und im direkten Austausch mit einer nahen Bezugsperson kann Ihr Kind aber noch deutlich mehr mitnehmen.
Wenn Vorlesen für Erwachsene ermüdend ist, weil gerade jüngere Kinder ihre Lieblingsgeschichte auch gerne fünfmal hintereinander hören, hilft es, zu wissen, dass dies dem kindlichen Bedürfnis nach Wiederholung entspricht und den Verstehensprozess unterstützt.
Nicht selten behandelt die Lieblingsgeschichte ein Thema, welches das Kind zu diesem Zeitpunkt beschäftigt. Vorlesen ist so auch eine wunderbare Gelegenheit, die Bindung zum Kind zu vertiefen und ihm dabei ein Geschenk zu machen, von dem es das ganze Leben zehren wird.