(NL / 4 Augen) Die entfesselten Grosseltern
Unser Sohn liebt seine Grosseltern. Leider sieht er sie nur sehr selten. Die einen wohnen weit weg, weshalb er sie hauptsächlich als Protagonisten der Serie «Face-Time» kennt. Die anderen wohnen nur ein paar Strassen weiter. Trotzdem begegnet er ihnen nicht viel häufiger. Es gab eine Zeit, als alle Generationen unter einem Dach gelebt haben. Die Kinder wuchsen mit ihren Grosseltern auf, die dabei häufig die eigentliche Erziehung übernahmen. Goldene Zeiten.
Auf einmal befinden sich unsere Rentner nicht mehr zu Hause im Lehnstuhl, sondern in einem Campingwagen in Tasmanien.
Sie endeten, als die Grosseltern herausfanden, dass es für sie auch nach der Pensionierung noch ein Leben gab. Schuld haben all diese Ratgeberbücher: «Mit 60 noch einmal durchstarten», «Das Beste kommt zum Schluss», «Friedhof? Nein danke». Damit war die Büchse der Pandora geöffnet.
Sponge Bob und Peppa Big
Auf einmal befinden sich unsere Rentner nicht mehr zu Hause im Lehnstuhl, sondern in einem Campingwagen in Tasmanien. Und die Kinder gucken in die Röhre. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn natürlich muss das Fernsehen jetzt die Lücke schliessen, die die entfesselten Adventure-Rentner hinterlassen haben. Statt Grossmami Erika und Grosspapi Heinz also Sponge Bob und Peppa Pig.
Bei uns ist es allerdings nicht ganz so schlimm. Zum einen haben wir keinen Fernseher, zum anderen stehen meine Schwiegereltern durchaus als Hütehilfe zur Verfügung. Sie brauchen nur einen guten Grund. Die Eltern meiner Frau gehören einer Generation an, für die Hedonismus noch keine Selbstverständlichkeit ist, sondern der Lohn für harte Arbeit.
Man gönnte sich ihn in den Ferien und zu besonderen Gelegenheiten: Hochzeiten. Taufen. Beerdigungen. Aber sicher nicht einfach nur so! Wenn wir also meine Schwiegereltern bitten, auf unseren Sohn aufzupassen, weil wir ins Kino möchten, fragen sie: Warum? Warum wollt ihr ins Kino? Kino – was ist das überhaupt? Und so weiter …
Wenn man Verständnis für den eigenen Hedonismus schaffen will, muss man ihn erst in den anderen wecken.
Das neue Zauberwort
Wir haben uns daher angewöhnt, unsere Pläne als wichtige Termine zu kaschieren. Das Zauberwort lautet: Amtsgänge. Jeder weiss, dass Amtsgänge von höchster Dringlichkeit sind und unter keinen Umständen aufgeschoben werden dürfen.
Auch meine Schwiegereltern wissen das. Und so vergeht mittlerweile keine Woche, da wir nicht angeblich auf irgendwelchen Ämtern und Behörden vorstellig werden, Dokumente erneuern, Formalitäten bereinigen, Rechtslagen klären, während uns zu Hause die Grosseltern den Rücken stärken.
Ich muss sagen, in diesen Tagen habe ich unsere Bürokratie erstmals lieben gelernt. Doch es gibt ein Problem. Die Ämter schliessen um fünf. Was machen wir, wenn wir mal am Abend ausgehen wollen? Was kann so wichtig sein, dass man es zwischen acht und elf Uhr abends erledigen muss, wollen die Grosseltern wissen.
Kann ich euch sagen: Romantische Abendessen. Kinobesuche! Theater! Spaziergänge in die laue Dämmerung hinein! Einmal habe ich eine Darmspiegelung vorgetäuscht, die auf den Abend verlegt wurde. Aber so etwas funktioniert auch nur einmal in zehn Jahren. Bis dahin sind meine Frau und ich getrennt.
Nein. Es gibt leider keine andere Möglichkeit. Wenn man Verständnis für den eigenen Hedonismus schaffen will, muss man ihn erst in den anderen wecken. Ich habe meinen Schwiegereltern jetzt den Bestseller «80 ist das neue 20» geschenkt.