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Mein Kind hat Angst              

Lesedauer: 7 min

Mein Kind hat Angst              

Die Angst vor der Schule, vor Monstern, dem Fremden — Ängste sind bei Kindern etwas ganz Normales. Aber woher kommt dieses Gefühl und wie kann es überwunden werden?
Text: Jesper Juul

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Das Wichtigste zum Thema

Ängste bei Kindern sind völlig normal. Ob ein dunkles Zimmer oder das Monster unter dem Bett: Verantwortlich fürs Fürchten ist unter anderem die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Das Kind benötigt die Nähe der Eltern oder anderen Bezugspersonen und die Gewissheit, dass es selbst den richtigen Umgang mit der Situation erlernen wird.

Teilweise leidet ein Kind aber auch an einer Angst, die von den Eltern übertragen wird. Kinder sind äusserst sensibel, wenn es um die Gefühle von Familienmitgliedern geht. 

Wie Sie Ihrem Kind in einer Angstsituation konkret helfen und eine vertrauensvolle Basis schaffen können und warum Sie die Aussagen Ihres Kindes unbedingt ernst nehmen sollten, erfahren Sie im Text. Lesen Sie ausserdem, welche Elterntypen es gibt. Welcher Typ sind Sie?

Die meisten Kinder lei­den zeitweise mehr oder weniger unter Angst. Oft hat diese Angst wenig oder gar nichts mit dem psychischen Zustand der Eltern zu tun. Aber manchmal spielt sehr wohl das bewusste oder auch unbewusste innere und äussere Verhalten der Eltern eine grosse Rol­le. Insbesondere im Vorschulalter haben die Kinder häufig eine 24­Stunden­«Hotline» zu den Ge­fühlen und Stimmungen ihrer Eltern. Es ist selbstverständlich, dass Kinder Angst bekommen, wenn ihre Eltern viele destruktive Konflikte haben, laut miteinander schreien und wenn verbale oder physische Gewalt Alltag ist. 
Gleichzeitig kann Angst bei Kin­dern aber auch Ausdruck für eine versteckte Angst der Eltern sein, zum Beispiel die Leistungsangst des Vaters, die er zu verstecken gelernt hat, oder der Perfektionismus der Mutter, der ja auch eine Art Leis­tungsangst ist. Es kann auch eine Mutter sein, die in der Beziehung zu ihren Kindern eine permanent ängstliche Einstellung entwickelt hat. Oder es geht um die Unsicher­heit der Eltern in der Elternrolle und ihre Angst, etwas falsch zu machen. Diese Unsicherheit entsteht eben etwa dann, wenn das Kind häufig unter Angst leidet – und somit ein Teufelskreis eingeleitet ist. 
Generell ist es aber so, dass die Angst der Kinder mit ihrem noch nicht vorhandenen Wissen und der fehlenden Erfahrung zusammen­ hängt. Die ganz kleinen Kinder haben vor fremden Menschen, Ge­sichtern und Situationen Angst. Spä­ter entsteht Angst vor Trennung, Dunkelheit, vor dem Einschlafen und neuen Situationen mit fremden Menschen und Ähnlichem. Diese Ängste hängen mit der Entwicklung des Gehirns zusammen.

Die Infrastruktur des Gehirns

Das Gehirn kann vereinfacht ausge­drückt mit einer Infrastruktur ver­glichen werden – ein komplexes Netzwerk von Verbindungen, die mit einer Geschwindigkeit und Komple­xität entwickelt werden, die wir uns gar nicht vorstellen können. Einige dieser Verbindungen entstehen von alleine, während andere eine Konse­quenz von Handlungen, Verhaltens­ mustern, Gewohnheiten und Erfah­rungen sind. 
Wenn viele Kinder zum Beispiel davor Angst haben, was passieren könnte, wenn sie die Augen zuma­chen, um zu schlafen, kann das damit verglichen werden, wie ein unerfahrener Langläufer reagieren würde, der bisher nur gespurte Loi­pen gelaufen ist und dann plötzlich in einen dunklen Wald ohne Spur geschickt wird. Oft helfen in dieser Situation die physische Nähe der Eltern und ein bisschen Licht beim Bett. So kann sich das Kind langsam an die Situation gewöhnen und sei­ne eigene sichere Spur finden.

Die Ängste der Kinder hängen mit der Entwicklung des Gehirns zusammen.

In dieser Phase sind die Bereit­schaft der Eltern, präsent zu sein, und die Qualität der Beziehung zum Kind ganz entscheidend dafür, wie sich die Muster des Kindes entwi­ckeln. Ein ruhiger Erwachsener, der darauf vertraut, dass das Kind schon selbst den richtigen Weg finden wird, ist die optimale Begleitung. Ein nervöser, gestresster, frustrierter oder mental abwesender Erwachse­ner ist hingegen kein guter Begleiter. Die fehlende innere Ruhe und das Misstrauen der Eltern in Bezug auf den Lernprozess behindern die Ent­wicklung eines Kindes.

Was Eltern tun können

Genau dieser Aspekt, der den Zu­stand der Erwachsenen beleuchtet, wurde früher nicht in Betracht gezo­ gen. Eltern haben über Generatio­nen den Rat bekommen, sichere, überschaubare und fixe Rahmen für ihre Kinder zu schaffen, damit diese «gesunde Gewohnheiten» entwi­ckeln. Dies ist ohne Zweifel eine wichtige Voraussetzung, um bei­spielsweise schlafen zu lernen.
 Die Kombination aus dem natür­lichen Bedürfnis des Organismus, zu schlafen, und dem Vertrauen in die Führung der Eltern hilft dem Kind, sich auf die dunkle und unbe­kannte Loipe zu begeben. Wenn das Kind sich auf diesem Weg verloren, desorientiert und ängstlich fühlt und Mama oder Papa ruft, ist es wichtig, ein balanciertes und ver­trauensvolles Echo zurückzube­kommen. Vergessen Sie nicht: Kin­ der müssen aus eigenem Bedürfnis schlafen – nicht der Eltern wegen!

Entscheidend für die Bewältigung der Ängste durch das Kind ist die Befindlichkeit der Erwachsenen in seiner Umgebung.

Viele Eltern brauchen in Wahr­heit das gleiche Training; nämlich die Entwicklung eines gesunden Verhaltensmusters in der Rolle als «Einschlaf­Coach». Auch Erwach­sene haben oft einen allzu rationalen Zugang: Betrachten Sie die Zeit, die Sie mit Ihrem Kind verbringen, als ein Privileg. Eine halbe oder eine ganze Stunde, in der Sie Ihrem Kind ganz nahe sind und auch spüren, wie wichtig Sie füreinander sind. Ent­spannen Sie sich in dieser Situation bewusst, auch wenn es nach einem langen Tag schwerfällt. 
Auch im Kleinkindalter gelten die gleichen Grundregeln im Umgang mit der Angst. Nehmen Sie diese ernst, aber nicht persönlich. Wenn ein Dreijähriger über Monster unterm Bett redet, ist es keine gute Idee, ihre Existenz zu leugnen. Es ist besser, das Kind dazu aufzufordern, die Monster zu zeichnen, oder mit ihm darüber zu reden. Zeichnen ist eine Ausdrucksform, in der sich Menschen manchmal besser mittei­len können als durch Worte. Die Antwort auf die Frage, was wir als Eltern tun können, um unse­ren Kindern zu helfen, wenn sie Angst bekommen, ist: Empathie und Anerkennung entgegenbringen. Bei Eltern gibt es drei typische verschie­dene Stilarten:

  • Die überbeschützenden und über­besorgten Eltern, die in Wirklich­keit sich selbst zu beruhigen ver­suchen oder nicht vertragen, dass ihre Kinder ganz normale Gefüh­le haben. 
  • Die verständnisvollen Eltern, wel­che die Erlebnisse des Kindes von ihren eigenen Erlebnissen unter­ scheiden können. 
  • Die pragmatisch­intellektualisie­renden Eltern, die nicht viel Nähe bieten. 

Beispiel: Ein Zweijähriger wacht wegen eines Gewitters mitten in der Nacht auf, weint und ruft nach Mama und Papa. Der erste Elterntyp nimmt das Kind zu sich, ist aber selbst so aufgewühlt, dass es lange dauert, bis sich das Kind beruhigt. Der zweite Elterntyp nimmt das Kind zu sich, streichelt es und sagt: «Ja, ich weiss. Man kann grosse Angst bekommen, wenn es draussen so donnert und blitzt, aber hier bei uns passiert nichts.» Der dritte Elterntyp hält das Kind vor sich hin und erklärt die Physik des Gewitters in der unrealistischen Erwartung, dass das rationelle Ich des Kindes diese Information aufnehmen kann. 
Wenn ein Kind Angst erlebt, werden wir mit unserem Drang konfrontiert, das Kind bestmöglich zu beschützen – in äusserster Kon­sequenz wollen wir die Angst und ihre Ursache vom Kind fernhalten. 
Das ist ein schöner Gedanke, aber leider nicht möglich. Die frü­hen Episoden in der Kindheit sind eine gute Übung für Eltern, sich aus der Symbiose mit ihrem Kind zu lösen und zu lernen, dass die vor­nehmste Rolle von Eltern die ist, sich mit all ihrer Lebenserfahrung und ihrem Überblick zur Verfügung zu stellen. Damit wird dem Kind ermöglicht, seine eigene Art und Weise zu entwickeln, wie es sein Le­ben meistern kann.