«Social Media macht so süchtig wie Kokain» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Social Media macht so süchtig wie Kokain»

Lesedauer: 5 Minuten

Der Psychiater Dr. Kurosch Yazdi gehört zu den führenden Suchtmedizinern Österreichs. Vor kurzem veröffentlichte er das «Facebook-Aufhörbuch». Im Interview mit dem Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi spricht Yazdi über die «digitale Droge» Social Media und die Gefahr für Kinder und Jugendliche, sich darin zu verlieren. 

Herr Yazdi, Sie schreiben über die Social-Media-Sucht, haben selber aber kein einziges Konto in den Sozialen Medien. 

Nun, ich treffe lieber Menschen persönlich auf einen Kaffee, als über einen virtuellen Kanal zu kommunizieren. 

Was hat Sie zu diesem Buch bewogen? 

Als wir vor acht Jahren die Ambulanz für Verhaltenssüchte in Linz eröffneten, hatten wir internetabhängige Patienten, die meist schon erwachsen waren – viele von ihnen Studenten, die süchtig waren nach dem Online-Rollenspiel «World of Warcraft». Das hat sich seither drastisch geändert: Unsere Patienten werden immer jünger. Jetzt behandeln wir schon 12- und 13-Jährige. Auch Eltern mit 9-Jährigen kommen bereits zu uns. Zum Vergleich: die anderen Suchtkrankheiten, mit Ausnahme von Cannabis, sind in dieser Zeit konstant geblieben. Die Social Media- und Onlinesucht ist die einzige Sucht, die in einem so grossen Ausmass Kinder betrifft. Das Suchtpotenzial von Social Media ist mit jenem von Kokain oder Heroin vergleichbar, zumal das Gehirn wenig zwischen Abhängigkeit von Suchtmitteln oder Abhängigkeit von gewissen Verhaltensweisen unterscheidet. 
Dr. Kurosch Yazdi ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut. Seit 2010 leitet er in Linz die Ambulanz für Spielsucht, seit 2012 eine Krankenhausabteilung für Suchtkranke. 
Dr. Kurosch Yazdi ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut. Seit 2010 leitet er in Linz die Ambulanz für Spielsucht, seit 2012 eine Krankenhausabteilung für Suchtkranke. 

Instagram oder Snapchat sind heute bei den Jugendlichen viel beliebter als Facebook, trotzdem konzentriert sich Ihr Buch auf Facebook?

Einerseits steht hier Facebook generell für sogenannte soziale Medien, die übrigens nicht sozial sind. Auf der anderen Seite wurde Facebook schon oft tot gesagt und ist immer noch die bei weitem erfolgreichste Plattform mit über 2 Milliarden Mitgliedern. 

Warum macht die Onlinewelt so extrem süchtig? 

Jede Droge stimuliert das Belohnungssystem. Dieses reagierte bei Neugierde und wenn wir mit anderen Menschen kommunizieren. Das extrem Verführerische beim Internet respektive bei Social Media ist diese Scheinwelt, die vermittelt, dass man scheinbar viele wertschätzende Freunde hat, scheinbar attraktiv und beliebt sein kann und dabei erst noch, scheinbar, Abenteuer erleben kann. 

Gibt es ein bestimmtes Persönlichkeitsprofil, das besonders anfällig ist dafür?

Kinder und Jugendliche, die Mühe haben sich zurechtzufinden, laufen besonders Gefahr, sich in der Onlinewelt komplett zu verlaufen. Aber auch Kinder, die ein gutes Sozialleben haben, können sich darin verlieren. Wenn Jungs süchtig sind, dann meist nach Onlinespielen, Mädchen hingegen überwiegend nach sozialen Medien wie Instagram. 

«Das Gehirn unterscheidet wenig zwischen Abhängigkeit von Suchtmitteln oder Abhängigkeit von gewissen Verhaltensweisen.»

Dr. Kurosch Yazdi, Psychiater und Suchtmediziner

Wie äussert sich dies? 

Sie sind nonstop online, egal ob sie unterwegs sind, essen oder in der Schule sind. Oder sie sind die ganze Nacht auf und schlafen dann in der Schule auf dem Pult ein. Mit dem Resultat, dass sich diese Kinder und Jugendliche in der realen Welt sozial völlig isolieren. 

Ab wann ist der Internetkonsum aus psychiatrischer Sicht kritisch?

Solange ein Kind vielfältig ist, also Freunde trifft, in der Schule eine akzeptable Leistung bringt, Hobbys hat oder Sport macht, brauchen sich Eltern keine Sorgen zu machen, wenn es mal ein paar Stunden online verbringt, solange das nicht täglich der Fall ist. Ungesund wird es, wenn diese Vielfältigkeit wegfällt, es sich nur mit dem Internet beschäftigt und nur im Kinderzimmer sitzt und alles andere vernachlässigt. 

Äussert sich die Internetsucht eines Kindes im Vergleich zu der eines älteren Jugendlichen oder eine Erwachsenen unterschiedlich? 

Ja, es gibt Unterschiede. Ein Erwachsener, der onlinesüchtig ist, handelt sich momentan Probleme ein, indem er zum Beispiel unter chronischem Schlafmangel leidet, seine Arbeit vernachlässigt oder in seinem Studium nicht mehr nachkommt. Bei Kindern ist die Onlinesucht tiefgehender. 

«Wenn Kinder sehr viel Zeit online verbringen, verpassen sie es, soziale Fertigkeiten zu lernen».

Inwiefern?

Kinder lernen in dieser Phase ihres Leben wichtige Dinge, die sie später im Leben benötigen. Ich denke dabei nicht an Algebra sondern an Sozialverhalten, Konfliktfähigkeit und die Kommunikation mit anderen Menschen – Dinge, die sie in ihrem weiteren Leben brauchen werden und sie erfolgreich machen. Wenn Kinder sehr viel Zeit online verbringen, verpassen sie es, genau diese Fertigkeiten zu lernen und können das später nur sehr schwer nachholen.

Wie ich kommuniziere, kann ich auch online lernen. Im Internet habe ich doch auch Sozialkontakte?

Wenn Sie 800 Onlinefreunde haben und mit einem von ihnen in einen Konflikt geraten, können Sie ihn einfach ausblenden. In der realen Welt haben Sie vielleicht acht Freunde. Geraten Sie mit einem dieser acht realen Freunde in einen Streit, werden Sie sich um die Freundschaft bemühen und den Konflikt versuchen zu bereinigen. Kinder müssen auch lernen, ein stabiles Ich zu entwickeln. Dafür müssen sie sich mit ihrer eigenen Realität auseinandersetzen: Wie gehe ich mit vermeintlichen Schönheitsidealen um und was bedeutet das für meinen Selbstwert? Wie ist mein Umgang mit Menschen? Habe ich den Mut, meinen eigenen Weg zu gehen? Das sind alles Fragen, an denen wir wachsen.

Nun zeigen Studien, dass die Zahl der internetsüchtigen Jugendlichen stetig und rasant steigt.

Allein bei den 15-Jährigen sind gemäss verschiedenen Untersuchungen bereits vier bis sieben Prozent internetsüchtig. Das heisst, dass sie beruflich oder sozial eigentlich funktionsunfähig sind. Die Frage ist, wie geht es weiter? Müssen wir mit einer Epidemie rechnen? Ich fürchte, dass der Höhepunkt dieser Entwicklung längst nicht erreicht ist. Denn das Problem an dieser Sucht ist vor allem die dauernde Verfügbarkeit der Droge Internet.

«Ich bin nicht dafür, dass man einem 9-Jährigen ein Handy schenkt». 

Das sind düstere Aussichten. Was wird aus diesen Kindern später als Erwachsene? 

Darüber muss man gar nicht spekulieren. Man braucht sich nur hochtechnologisierte Länder wie Taiwan oder Südkorea anschauen, wo dieses Problem schon länger besteht. Wenn ich an Kongressen mit meinen Kollegen aus diesen Ländern spreche, erzählen sie mir, dass es dort eine immer grössere Anzahl an jungen Erwachsene zwischen 20 und 30 gibt, die nicht fähig sind, selbständig sozial zu überleben. Sie leben mit 30 immer noch zu Hause, sitzen im Kinderzimmer am Computer, während sich die Eltern um alles kümmern. 

Was können Eltern präventiv tun? 

In Taiwan und Südkorea wird in der Schule und bei den Eltern viel mehr Aufklärungsarbeit geleistet, als es hier der Fall ist. Das muss noch intensiver betrieben werden. Wichtig ist, dass Eltern ihre Kinder beim Internetkonsum begleiten. Ich bin zum Beispiel nicht dafür, dass man einem 9-Jährigen ein Smartphone schenkt.

So mancher 9-Jähriger kann aber schon ziemlich aggressiv reagieren, wenn man ihm das Smartphone wieder wegnimmt. 

Man muss verstehen, wieso das Kind aggressiv reagiert. Das Internet steht für das Rudel, zu dem wir Menschen als soziale Wesen dazu gehören wollen. Wenn sie also diesem Kind den Zugang zu seinem (virtuellen) Rudel wegnehmen, wird es wütend. Ein Wolf reagiert auch so, wenn man ihn aus seinem Rudel nimmt. 
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Wie können Eltern eine solche Situation entschärfen? 

Sie müssen dem Kind ein anderes Beziehungsangebot machen, um ihm das virtuelle Rudel wegnehmen zu können. Die Frage ist, was kann ich ihm anbieten? Da ist in erster Linie die Familie und der reale Freundeskreis. Oft haben süchtige Jugendliche den Kontakt zu ihren Familien und Freunden verloren. Diesen Kontakt gilt es mühsam wieder aufbauen. Eltern müssen da «lästig» sein und diese Aggression aushalten. 

Das heisst konkret: Grenzen setzen.

Das ist nun mal der Job der Eltern – aber Grenzen setzen mit Wertschätzung. Das heisst: Sagen sie nicht «leg dein blödes Handy weg» sondern «ich verstehe, dass du lieber weiter Computer spielen willst, aber ich schalte es jetzt aus, weil du mir wichtig bist». Das funktioniert bei Kindern. Bei Jugendlichen müssen Sie als Eltern in einen Dialog treten und ihm erklären, dass Sie sich Sorgen machen. Und vor allem versuchen, mit ihrem jugendlichen Kind aktiv etwas zu unternehmen. 

Wie möchten Sie internetsüchtige Jugendliche dazu bringen, ein Buch zu lesen? 

Eine berechtigte Frage. Das erste Buch, das ich herausgebracht habe, stiess auf ein sehr positives Feedback – bei all denen, die meiner Meinung waren. Aber es ging leider an der Zielgruppe vorbei. Wir haben es diesmal anders gemacht: Wir haben ein Buch speziell für junge Menschen konzipiert, die normalerweise nur kurze Sachen wie Twitternachrichten lesen. Kurz und knapp, viele Bilder und mit hoffentlich viel Humor.

Bilder: fotolia & gespag


Zum Buch: 

Gemeinsam mit dem Autor Ben Springer hat Dr. Kurosch Yazdi das Buch «Klick und weg. Das Facebook-Aufhörbuch» veröffentlicht. Darin geben die Autoren eine Anleitung, wie man seinen Social-Media-Konsum in gesunde Bahnen lenkt und wie man wieder zurück in das reale Leben findet. 
 
Ben Springer, Kurosch Yazdi: Klick und weg. Das Facebook-Aufhörbuch. Verlag edition a, Wien 2018. 203 S., ca. 29.90 Fr.

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