Bewegt lernt es sich am besten

Bewegung macht Spass und ist gut für die Gesundheit. Aber macht sie auch schlau? Wo die Wissenschaft noch im Dunkeln tappt, zeigen sich in der Praxis die Stärken von bewegtem Unterricht. Zu Besuch in einer Schulklasse.
Was ist ein guter Arbeitsplatz?» Die Hände der Dritt- und Viertklässler schnellen in die Höhe. Die meisten der 21 Kinder kennen die Frage ihrer Lehrerin Martina Nicolussi, wissen die Antwort und haben sich vorab überlegt, wo sie sich heute am liebsten einrichten möchten.
Die Fensterplätze sind schnell vergeben. Auch das hellblaue Balancekissen ist beliebt. Damit wird das Arbeiten am Stehpult etwas spannender, denn auf dem luftgefüllten Kissen kann man je nach Wunsch ruhig balancieren oder aktiv schaukeln. Und die Noppen kitzeln dabei angenehm an den Fusssohlen.
Zum Leidwesen der Kinder steht der Klasse nur ein einziges dieser Kissen zur Verfügung. Dafür hat Martina Nicolussi zum ersten Mal auch noch zwei mit Klebeband umwickelte Handtuchrollen mitgebracht. Auch auf ihnen lässt sich dynamisch stehen. Wie alles, was neu ist, wollen es die Schülerinnen und Schüler sofort ausprobieren.
Beim Lernen bildet das Gehirn neue Vebindungen zwischen Nervenzellen. Bewegung hilft dabei.
Petra Jansen, Sportwissenschaftlerin
Der Rest der Klasse richtet sich an den Pulten und auf dem Boden ein. Sitzbänke werden zu einem Podest zusammengeschoben, auf dem es sich herrlich herumlümmeln lässt. Martina Nicolussi und ihre Teamteaching-Kollegin zählen mit der Klasse einen Countdown: zehnmal klatschen, patschen, stampfen, neunmal, achtmal, siebenmal …
Es ist laut, lustig und auch ein bisschen wild. Bei eins angekommen, reiben sich die Schulkinder die Hände, legen sie auf die Augen und murmeln leise: «Ich bin ruhig, ich bin konzentriert.» Dann machen sich alle an ihre Aufgaben. Im Klassenzimmer der Schule Engelwies in St. Gallen wird es still.
Mehr Schwung fürs Gehirn
Wer konzentriert arbeiten und lernen will, muss sich wohlfühlen. Dazu gehört auch, dass die Kinder nicht stocksteif am Tisch sitzen, sondern sich ihre Arbeitsposition selbst aussuchen können. Und dass sie sich bewegen dürfen, wenn die Konzentration nachlässt.
Viel spricht für mehr Bewegung in der Schule. Zehnjährige verbringen gemäss Bundesamt für Gesundheit über sieben Stunden pro Tag im Sitzen. In der Schule, aber auch zu Hause bei den Hausaufgaben sowie in der Freizeit über ihre digitalen Geräte gebeugt. Haltungsschäden und Rückenschmerzen plagen heutzutage bereits Kinder und Jugendliche.

Bewegung tut aber nicht nur der Gesundheit gut, sondern bringt auch unser Gehirn in Schwung. Sie steigert die Aufmerksamkeit und hat einen positiven Effekt auf das Gedächtnis. In Studien zeigt sich ausserdem, dass Bewegung das Problemlösen sowie das kreative Denken beeinflussen kann.
Wie das genau geht, weiss Petra Jansen, Professorin für Sportpsychologie an der Universität Regensburg und Co-Autorin des Buches «Macht Bewegung wirklich schlau?». Sie interessiert sich besonders für die Zusammenhänge von Kognition und Motorik: «Beim Lernen arbeitet unser Gehirn auf Hochtouren. Es bildet neue Verbindungen zwischen Nervenzellen, was uns hilft, Informationen besser zu speichern.»
Jonglieren verbessert visuell-räumliche Fähigkeiten
Bewegung unterstützt diesen Prozess, indem sie die Durchblutung und die Sauerstoffzufuhr im Gehirn erhöht. «Und sie setzt wichtige Botenstoffe frei, die das Wachstum der Nervenzellen anregen», ergänzt Jansen. «So wird das Gehirn leistungs- und aufnahmefähiger.»
Das kommt unserer Leistungsgesellschaft entgegen, die gern nach schnellen und effizienten Lösungen sucht. Wie schön wäre es, wenn eine einfache Bewegungsübung uns das oftmals mühsame Lernen abnehmen würde: Fünf Minuten Seilspringen und schon sitzen die Französisch-Wörter. Täglich jonglieren und die mathematischen Gleichungen bringen uns nicht mehr ins Rotieren.
Zappeln ist eine normale Reaktion des ermüdenden Geistes, sich über körperliche Bewegung zu regulieren.
Patrick Fust, Lehrer
So einfach ist es leider nicht. Gemäss Petra Jansen ist noch nicht klar, welche Art von Bewegung auf welche kognitiven Fähigkeiten einwirkt. Ein paar Hinweise gibt es trotzdem schon: «Wir stellen immer wieder fest, dass koordinative Bewegungen wie Jonglieren die visuell-räumlichen Fähigkeiten verbessern können», so Jansen. Ausdauertraining, beispielsweise Joggen, scheint hingegen das Arbeitsgedächtnis zu stärken.
Fünf Minuten austoben
Während die Wissenschaft den Zusammenhängen von Körper und Geist erst langsam auf die Spur kommt, ist man in der Praxis längst überzeugt, dass Bewegung den Lernprozess ungemein erleichtern kann. Zum Beispiel in Form von Bewegungspausen.
Auch die Lehrerin Martina Nicolussi schickt Buben oder Mädchen, die sich nicht mehr konzentrieren können, hin und wieder mit einem Springseil aus dem Schulzimmer. Oder einmal das Treppenhaus hoch und runter. Dabei gelten klare Regeln: fünf Minuten austoben und dann zurück in die Klasse.
Der Zappelphilipp hat denn auch zu Unrecht einen so schlechten Ruf. «Zappeln ist eine normale und gute Reaktion des ermüdenden Geistes, sich über körperliche Bewegung zu regulieren und zu stimulieren», erklärt Patrick Fust.
Der erfahrene Lehrer hat sich intensiv mit unterschiedlichen Konzepten der bewegten Schule auseinandergesetzt und gibt sein Wissen seit 17 Jahren in schulischen Weiterbildungen und Workshops an andere Lehrpersonen weiter. «Die Aufmerksamkeitsspanne ist beschränkt», betont Fust. «Man kann das ignorieren oder aber eine gute Balance zwischen Konzentration und lustvoller Zerstreuung suchen.»
Volle Aufmerksamkeit im Schulzimmer
Unterdessen sind im Schulhaus Engelwies zwanzig Minuten konzentriertes Arbeiten vergangen. Das entspricht ungefähr der Aufmerksamkeitsspanne der Neun- und Zehnjährigen. Als Martina Nicolussi das Smartboard startet, jubeln die Kinder. In der Art eines Jump-and-Run-Games rennen sie auf der Stelle, hüpfen über imaginäre Bananen und ducken sich unter am Bildschirm vorbeifliegenden Raketen. Alle sind voll dabei, es ist ihre liebste Bewegungspause. «Manchmal singen wir aber auch einfach ein Lied mit einer einstudierten Bewegungsabfolge», schmunzelt die Lehrerin.
Bevor sich die Schülerinnen und Schüler wieder an ihre individuellen Arbeiten setzen, reiben sie erneut die Hände aneinander. Es ist faszinierend, wie sich mit dieser Handlung fast augenblicklich eine Atmosphäre energiegeladener Aufmerksamkeit im Schulzimmer ausbreitet. Das Ruheritual ein magischer Trick, das Konzentrationsmantra ein Zauberspruch? Martina Nicolussi lacht: «Ich bin überzeugt, dass Bewegungspausen insgesamt für mehr Ruhe und Fokus während der Arbeitsphasen sorgen.»

Bei allen Vorteilen: Bewegter Unterricht hat seine Herausforderungen. «Eine Schulklasse, die sich viel bewegt, braucht klare Regeln und Strukturen, damit die kindliche Bewegungsfreude nicht überbordet», betont Martina Nicolussi.
Und Patrick Fust ergänzt: «Die Lehrperson muss Kontrolle abgeben und die Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen lassen.» Denn Unruhe bedeutet nicht unbedingt, dass ein Kind nicht lernt. Genauso wenig ist jemand, der mucksmäuschenstill dasitzt, in jedem Fall hochkonzentriert. Als Lehrerin könne sie sich nicht immer auf ihr Gefühl verlassen, sagt Nicolussi.
Lernen ist individuell
Deshalb versammelt sich die Klasse im Schulhaus Engelwies im Verlauf des Morgens im Kreis. Wie ist es den Kindern beim stillen Arbeiten ergangen? Wer konnte sich gut konzentrieren, wer hatte Mühe? Ein Mädchen erzählt, dass es in Zukunft nicht mehr am Stehpult arbeiten möchte. Es habe ihr nicht gefallen.
Die Selbstreflexion hilft den Schülerinnen und Schülern zu spüren, was sie brauchen und was ihnen im Moment guttut. So können sie ihr Lernen immer besser selbst steuern und Eigenverantwortung für ihr Wohlbefinden übernehmen. Dazu müssen sie jedoch zuerst ein breites Spektrum an Bewegungsmöglichkeiten kennenlernen. Da ist wiederum die Schule gefragt.
Einen wahren Schatz an Ideen offenbaren die Workshops von Patrick Fust. Hier reiht sich ein Bewegungsspiel ans andere. Die Teilnehmenden kommen kaum dazu, sich auf die kleinen, unbequemen Kinderstühle zu setzen. Das ist gewöhnungsbedürftig. Denn anstatt mit gutem Beispiel voranzugehen, legen auch wir Erwachsene immer mehr Sitzfleisch zu.
Dabei wissen wir doch allzu gut, dass die besten Ideen oft unter der Dusche nach einer Runde Fahrradfahren kommen. Oder wie sich neue Blickwinkel auftun, wenn wir im Büro vom Schreibtisch aufstehen, um uns einen Kaffee zu holen und aus dem Fenster in den wolkenverhangenen Himmel zu blicken.
Nur wenn Bewegung Spass macht, kann sie ihre volle Kraft entfalten.
Bewegungsformen am besten mischen
«Die Mischung machts aus», meint Patrick Fust auf die Frage, welche Bewegungsformen denn den grössten Effekt hätten und den Schülerinnen und Schülern erfahrungsgemäss am meisten Spass machen würden. Deshalb deckt er mit seinen Anregungen die ganze Bandbreite von bewegtem Unterricht ab: Die Bewegungsspiele für zwischendurch sorgen auch bei den erwachsenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops für kindlichen Spass.
Koordinative Aufgaben erfordern höchste Konzentration: Wem gelingt es zum Beispiel, zwei Jonglierbälle – in jeder Hand einen – gleichzeitig senkrecht in die Luft zu werfen und sie mit überkreuzten Armen wieder aufzufangen? Ausserdem liefert Patrick Fust Tipps, wie sich aus Alltagsmaterialien einfach und günstig Hilfsmittel herstellen lassen. So dient ein Zeitungsbündel auf plattgedrückten Papierbällen als Ersatz für das beliebte Balancekissen.
Die erste Frage, die sich Kinder und Eltern stellen sollten, ist: Wie kann der Lernprozess mit Bewegung angereichert werden, damit die Hausaufgaben oder das Üben auf eine Prüfung mehr Spass machen? Danach heisst es, verschiedene Ideen auszutesten und zu reflektieren, was geholfen und was sich weniger gut angefühlt hat.
Zum Schluss kann das Kind ein Plakat gestalten mit seinen liebsten Bewegungsformen. So hat es sie auch dann vor Augen, wenn der Kopf mit anderen Gedanken beschäftigt ist und Arme und Beine vielleicht schon zappelig sind vom Arbeiten.
Eltern können ihre Kinder bei der Suche nach passenden Bewegungsaktivitäten dadurch unterstützen, dass sie Anteil nehmen, Ideen beisteuern und selbst in Bewegung kommen. Zum Beispiel indem sie die Vorschläge ihrer Kinder ausprobieren.
In der bewegten Schule wird unterschieden zwischen Bewegungspausen, Lernen in Bewegung sowie Lernen durch Bewegung. Auch daheim bieten sich unzählige Möglichkeiten für diese drei Bewegungsformen:
- Bewegungspausen
Phasen, in denen eine hohe Konzentration gefordert ist, werden von Pausen unterbrochen, die dem kindlichen Bewegungsdrang entgegenkommen. Sie erfrischen den Geist und sorgen für Abwechslung. Wichtig ist eine klare Zeitbegrenzung: fünf Minuten Fussball spielen, ein Lied lang tanzen oder einmal um den Block rennen. - Lernen in Bewegung (lernbegleitende Bewegung)
Kognitive Aktivitäten werden mit körperlichen Tätigkeiten kombiniert: auf dem Trampolin hüpfend Zahlenreihen üben oder während eines Spaziergangs mit den Eltern Vokabeln repetieren. Entscheidend ist, dass die Bewegung automatisch abläuft, ansonsten fehlen den kognitiven Prozessen notwendige Ressourcen. - Lernen durch Bewegung (lernerschliessende Aktivitäten)
Durch den Einbezug des eigenen Körpers können gewisse Zusammenhänge besser erfasst und nachhaltiger verankert werden. Wer einen Kuchen bäckt, schärft gleichzeitig sein Gefühl für Mengen- und Gewichtsangaben – und wird am Schluss erst noch mit einem feinen Zvieri belohnt.
Mit dem Körper erleben wir die Welt
Eine weitere Möglichkeit, die eigene Körpererfahrung stärker in den Unterricht einzubeziehen, bietet sich dann, wenn der Lerngegenstand direkt über Bewegung erschlossen werden kann: Redewendungen pantomimisch umsetzen, Distanzen ablaufen, Gummitwist-Geometrie. «Verstehen» bedeutet schliesslich nicht ohne Grund «be-greifen» und «er-fassen».
Trotzdem ist Bewegung keine Pauschallösung. Als ehemalige Physiotherapeutin weiss das Martina Nicolussi ganz genau. Nur wenn Bewegung Spass macht, kann sie ihre volle Kraft entfalten. Denn Spass motiviert und Motivation ist ein Grundpfeiler für erfolgreiches Lernen. Davon sind die Lehrpersonen Nicolussi und Fust überzeugt.
Wer sich wohlfühlt, lernt leichter. Und für mehr Wohlbefinden reicht oft schon ein wenig Bewegung.
Wie Motivation, Emotionen und Kognition zusammenhängen, ist auch in Petra Jansens Augen eine wichtige Frage, die noch viel zu wenig untersucht sei. Erwiesen ist jedoch, dass sich körperliche Aktivität bei ängstlichen Kindern besonders positiv auswirkt. «Wenn emotionale Prozesse das Arbeitsgedächtnis in Anspruch nehmen, stehen den kognitiven Prozessen weniger Kapazitäten zur Verfügung», erklärt Jansen.
Hier schliesst sich der Kreis: Wer sich wohlfühlt, lernt leichter. Und für mehr Wohlbefinden reichen oft schon unscheinbare Bewegungen oder Haltungsänderungen: Aufrecht sitzen hilft bei Prüfungsangst, sich gross machen führt zu mehr Selbstvertrauen und lachen bringt gute Laune.
Notfalls habe ein künstliches Grinsen denselben Effekt, weiss Fust. Wobei er sich lieber an sein Credo hält: «Schule muss Spass machen – nicht immer, aber immer wieder.» Zum Glück führt das gemeinsame Bewegen und Spielen automatisch auch zu einer lockeren Klassenatmosphäre und stärkt den Gruppenzusammenhalt.
Nach einem abwechslungsreichen Morgen heisst es im Schulhaus Engelwies: ab in die verdiente Mittagspause. Die beiden Lehrerinnen verabschieden jedes Kind an der Tür mit Handschlag. Je nach Wunsch und Bewegungsdrang drehen sie dabei auch mal eine schwungvolle Pirouette.
- Patrick Fust hat eine Ideenkiste mit 160 Karten zu bewegtem Unterricht sowie eine Ideenmappe mit verschiedenen Lernpositionen, Mobilisierungsübungen und bewegten Lernformen zusammengestellt.
- Ein Engagement von Swiss Olympic; die gesammelten Bewegungsaufgaben lassen sich nach körperlicher Intensität, Gruppengrösse, erforderlicher Zeit oder benötigtem Material filtern.
- Die Website des Lerncoachs Eduard Buser-Batzli. Mit Fachartikeln und Bildmaterial bietet sie einen guten Einblick in sein Konzept.
- Buchtipp: Petra Jansen, Stefanie Richter: Macht Bewegung wirklich schlau? Zum Verhältnis von Bewegung und Kognition. Hogrefe 2016, 304 Seiten, ca. 36 Fr.