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Was sollen Eltern tun, wenn das Kind sie beim Sex überrascht?

Lesedauer: 10 min

Was sollen Eltern tun, wenn das Kind sie beim Sex überrascht?

Wie gesund und authentisch ist unser Umgang mit der eigenen Körperlichkeit? Die sexologische Körpertherapeutin Beate Wanka über die Vorbildfunktion von Müttern und Vätern, sexuelle  Freiräume und schlechte Aufklärungsbücher.
Interview: Jana Avanzini

Bild: Lina Scheynius

Frau Wanka, jede Mutter, jeder Vater würde sich heute als aufgeklärt bezeichnen. Sind wir unseren Kindern gute Vorbilder in Sachen Sexualität? 

Lassen Sie mich auf das Wort «aufgeklärt» eingehen und damit Ihre Frage beantworten. Aus meiner Sicht hat sexuelle Bildung in unserer Gesellschaft noch viel Entwicklungspotenzial. Ist der G-Punkt Mythos oder Realität?

Ich muss erst einmal meine eigene Scham überwinden, um sie meinen Kindern nicht mitzugeben.

Zudem sind auch die weiblichen Genitalien weit mehr als nur «Vagina», wie sie zumeist definiert werden. Dazu kommt, dass wir in vielen Bereichen, die unseren Körper und unsere Sexualität betreffen, sehr schambehaftet sind. Und all dies geben wir als Vorbilder weiter.

Kinder spüren viel. Beispielsweise auch, ob sich ihre Eltern aus Verbundenheit küssen und umarmen oder ob es bloss Geste und Gewohnheit ist. Deshalb ist es wichtig, Nähe und Zärtlichkeit zum Partner bewusst und ehrlich zu leben. 

Wie sieht denn ein authentischer Umgang mit der eigenen Körperlichkeit aus? Sollten Eltern zu Hause auch mal nackt herumlaufen?

Wenn ich mich als Mutter beziehungsweise als Vater dabei wohlfühle und es für die anderen Familienmitglieder stimmt, gerne. Aber viel wichtiger als mein Verhalten ist meine innere Haltung zum Thema.

Beate Wanka ist 54 Jahre alt, Mutter einer erwachsenen Tochter und lebt im luzernischen Malters. Sie praktiziert als diplomierte sexologische Körpertherapeutin IISB und unterrichtet am Institut für somatische Körperarbeit und sexologische Körpertherapie in Zürich. Bild: zVg
Beate Wanka ist 54 Jahre alt, Mutter einer erwachsenen Tochter und lebt im luzernischen Malters. Sie praktiziert als diplomierte sexologische Körpertherapeutin IISB und unterrichtet am Institut für somatische Körperarbeit und sexologische Körpertherapie in Zürich. Bild: zVg

Mit anderen Worten: Ich muss erst einmal meine eigene Scham überwinden, um sie meinen Kindern nicht mitzugeben. Vortäuschen funktioniert vor Kindern nicht. Wichtig ist, sich als Paar den Raum zu nehmen, auch mal die Schlafzimmertüre für Zweisamkeit zu schliessen. Die Kinder können lernen zu respektieren, dass die Eltern ein Paar mit Bedürfnissen sind – auch sexuellen. 

Auch mitten am Tag? Schwierig vorstellbar, dass ein 5-Jähriger das akzeptiert.

Zu Beginn wird das vielleicht nicht funktionieren. Kinder wollen spüren, wie ernst es den Eltern damit ist. Sie testen die Grenzen aus. Irgendwann wird die geschlossene Schlafzimmertür als «Paarzeit» akzeptiert. 

Und wenn das Kind dann doch in der Tür steht und einen beim Sex überrascht? Sollten Eltern den Akt thematisieren?

Auf jeden Fall. Einem Fünfjährigen würde ich erklären, dass Mama und Papa sich so ihre Liebe zeigen, als Mann und Frau: «Das macht uns Freude und ist wichtig für uns.» Vielleicht kann das Kind die geschlossene Türe dann immer positiver wahrnehmen, weil es weiss, dass die Eltern jetzt miteinander Freude teilen und später wieder mit ihm Zeit zum Spielen haben werden. 

Wie sollen sich Eltern verhalten, wenn das Kind keine Fragen stellt?

Dann würde ich auf das Kind zugehen. «Du hast doch vorhin gesehen, dass wir Liebe gemacht haben.» Oder: «Vielleicht hast du vorhin Geräusche gehört. Möchtest du uns dazu etwas fragen?» Bei älteren Kindern kann man direkter formulieren: «Wir hatten gerade Sex miteinander. Das tut uns als Paar gut.» Und gerne nachfragen: «Wie geht es dir damit?»

Beim Thema Kinder und Sexualität gibt es eindeutig Grenzen. Wo sollten Eltern diese ziehen?

Es gibt klare gesetzliche Regeln und Vorgaben. Und das ist gut so. Darüber hinaus gilt es diese Frage aber individuell zu beantworten. In welcher Situation fühlt man sich als Mutter oder Vater nicht mehr wohl? Wenn beispielsweise der Vater mit der Tochter badet, sie den Penis des Vaters lustig findet und damit U-Boot spielen will? Darf sie den Penis anfassen oder ist das für ihn ein No-Go? Auch wenn Kinder sich öffentlich berühren, sich gerne nackt zeigen – stets müssen wir mit uns selbst ausmachen: Was stimmt für uns? Ist das Kindeswohl noch gewährleistet und was wird gesellschaftlich toleriert? 

Das Nichtbeachten des sogenannten «da unten» kann letzten Endes zu einer Taubheit im Genitalbereich führen.

Und wenn für mich eine Grenze erreicht ist?

Dann muss ich diese dem Kind klar kommunizieren: «Es ist toll, wenn du dich berührst und es dir Spass macht. Das darfst du gerne tun, am besten zu Hause in deinem Zimmer.» 

Die 7-jährige Tochter geniesst beim Baden den Wasserstrahl im Intim­bereich. Wäre dies eine gute Situation, über Lust zu sprechen? Soll man sie einfach gewähren lassen? 

Ich habe meine eigene Tochter den Wasserstrahl geniessen lassen und mich an ihrer Freude mitgefreut. Solange sie durch lüsterne Blicke anderer nicht gefährdet ist, ist alles gut. Wenn das Kind noch jünger ist, muss man dieses Verhalten nicht unbedingt thematisieren. Ich tue das ja auch nicht, wenn meine Tochter freudig einem Schmetterling hinterherrennt. Wenn, dann geht es darum, ihr Erleben zu spiegeln und offen zu sein, wenn sie sich dazu mitteilen möchte.

Was meinen Sie mit «spiegeln»?

«Ich habe vorhin gesehen, wie viel Freude dir der Wasserstrahl an deiner Yoni (Anm. d. Red.: tantrischer Begriff für die weiblichen Genitalien) gemacht hat.» Ich zeige damit als Mutter oder Vater wertneutral, dass ich es wahrgenommen habe und dass es okay ist. Das Kind fühlt sich gesehen. 

Wie gehe ich damit um, dass mein Kind sich auch bei den Grosseltern oder bei anderen Menschen, die es betreuen, selbst berührt? 

Besprechen Sie dies mit den jeweiligen Personen. «Uns ist es wichtig, dass unser Kind sich anfassen darf, zum Beispiel wenn es badet.» Wir erwarten ja auch, dass sich die Grosseltern daran halten, wenn wir bei der Ernährung unsere Haltung und unsere Regeln kommunizieren. Sexualität ebenso zu thematisieren, ist für uns ungewohnt. Doch der Umgang wird offener, und wir können und sollen dabei eine Vorreiterrolle einnehmen. 

Sexualität ist per se Thema. Wir sind sexuelle Wesen. Von Geburt an bis ins hohe Alter.

Sie sagen, Mütter sollen ihre Töchter lehren, dass ihre Genitalien toll seien. Weshalb ist das besonders bei  Mädchen ein Thema?

Penis und Hoden sind nun mal vorne am Körper und für die Jungen sehr präsent. Sie sehen ihre Genitalien jeden Tag und fassen sich oft an. Je häufiger wir uns berühren, desto mehr Nervensynapsen wachsen im Gehirn. Die Körperstellen werden differenzierter wahrnehmbar, es entstehen «Fühl-Autobahnen», wie ich sie nenne. Unsere Vulva jedoch sehen wir selbst nur, wenn wir uns aktiv bemühen, einen Spiegel in die Hand nehmen und uns betrachten. Und im traurigsten Fall berühren wir uns intim nur der Hygiene wegen.

«Wir hatten gerade Sex miteinander. Das tut uns als Paar gut.» Beate Wanka plädiert dafür, dass Eltern ganz offen mit ihren Kindern über Sexualität sprechen. Bild: iStock
«Wir hatten gerade Sex miteinander. Das tut uns als Paar gut.» Beate Wanka plädiert dafür, dass Eltern ganz offen mit ihren Kindern über Sexualität sprechen. Bild: iStock

Wie baue ich als Frau eine solche «Fühl-Autobahn» aus?

Indem ich mich betrachte, berühre und berühren lasse. So wachsen neue Nervenverbindungen – in jedem Alter. Dazu müssen viele Frauen erst ihre Schamgrenze überwinden. Während Buben offener über Selbstbefriedigung sprechen, haben Mädchen einen weniger ungezwungenen Umgang damit. Dazu tragen noch heute solche Sätze bei: «Fass dich da nicht an, das ist schmutzig.»

Es braucht einen Paradigmenwechsel: Männlichkeit darf auch gefühlvoll und verletzlich sein und Weiblichkeit fordernd und dominant.

Ich habe Frauen auch schon sagen hören: «Ich fasse mich selber nicht an, ich habe einen Freund, der macht das.» Doch das Nichtbeachten des sogenannten «da unten» kann letzten Endes zu einer Taubheit im Genitalbereich führen. Da kann dann auch der Freund nichts mehr machen. 

Was sollten wir unsere Söhne lehren?

Es braucht einen Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft. Bei der Vorstellung von männlicher und weiblicher Sexualität herrscht eine Disbalance, es geht vor allem ums Nehmen und Genommenwerden. Dabei müsste selbstverständlich sein, dass Männlichkeit auch gefühlvoll und verletzlich sein darf – und Weiblichkeit fordernd und dominant. Um dahin zu kommen,  müssen wir lernen, unsere Wünsche auszudrücken und Geschlechterklischees zu überwinden. 

Wann ist der richtige Zeitpunkt, ein Kind aufzuklären? In der Pubertät? 

Das wird schwierig, wenn Sexualität vorher totgeschwiegen wurde – dann ist sie nicht implementiert im Familiensystem und es wirkt unglaubwürdig. Man sollte sich Aufklärung nicht für einen bestimmten Zeitpunkt aufheben. Sexualität ist per se Thema. Wir sind sexuelle Wesen. Von Geburt an bis ins hohe Alter.

Schamlippen, Schambein, Schambehaarung. Wir müssen uns von «Scham» im Schoss trennen, denn Worte prägen unser Denken. 

Was sollte man seinen Kindern in Sachen Sexualität auf jeden Fall mit auf den Weg geben?

Eltern sollten ihre Kinder darin bestärken, ihre aktuellen sexuellen Bedürfnisse auszusprechen und die Wünsche ihres Gegenübers zu respektieren. So, dass ein Junge seiner Freundin oder ein Mädchen seinem Freund sagen kann: Ich finds extrem heiss, dich zu küssen, aber ich möchte noch keinen Geschlechtsverkehr. Und falls sich im Verlauf der Begegnungen dieses Bedürfnis doch noch einstellt, sollte er oder sie in der Lage sein, diesen Wunsch zu äussern.

Was halten Sie von der gängigen Aufklärungsliteratur? 

In vielen Büchern, die auch in Schulen verwendet werden, findet man nichts Realistisches zur weiblichen Lust oder dazu, wie die Klitoris in Wirklichkeit aussieht. Aus meiner Sicht werden Erwachsene wie Heranwachsende dadurch manipuliert: durch Weglassen beziehungsweise Auslassen. 

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Auch der Wortwahl vieler Aufklärungsbücher gegenüber sind Sie kritisch.

So ist es. Schamlippen, Schambein, Schambehaarung. Es ist befremdlich, dass diese Begriffe noch heute gedruckt und nicht durch Worte wie Labien, Venusbein und Intimbehaarung ersetzt werden. Meiner Meinung nach müssen wir uns von «Scham» im Schoss trennen, denn Worte prägen unser Denken. Und ich will keine Scham in meinen Genitalien. 

Wir leben in einer übersexualisierten Gesellschaft, die keinen entspannten Umgang mit Sexualität und Nacktheit hat.

Heute existiert eine Art Trend um die Vulva in Medien, Kunst und Mode. Wird unseren Kindern damit nicht sowieso ein offener und unverkrampfterer Umgang mitgegeben?

Leider nein. Das macht es aus meiner Sicht verkrampfter. Ein Trend stellt noch mehr fremdbestimmte Bilder her. Welche Frau traut sich beispielsweise heute noch, ihre Intimbehaarung lang und wuschelig zu tragen?

Meiner Meinung nach leben wir in einer übersexualisierten Gesellschaft, die keinen entspannten Umgang mit Sexualität und Nacktheit hat. Es existieren so viele Bilder, wie Sex auszusehen und zu funktionieren hat, schon Kinder kommen mit Pornografie in Berührung. Gleichzeitig fehlen grundlegendes Wissen, Eigenverantwortung und Dialog: zwischen Paaren, mit den Kindern und in der Gesellschaft. 

Der Zugang von Kindern zu Porno­grafie ist ein viel besprochenes Problem. Welchen Umgang würden  Sie empfehlen?

Sobald die Kinder damit in Berührung kommen können: altersgerecht thematisieren und aufklären. Die Kinder müssen erkennen können, dass Pornografie mit der Realität, wie Sexualität zwischen zwei Menschen funktioniert, nichts zu tun hat. Zunehmend wachsen Jugendliche durch das schambesetzte Schweigen darüber mit einem falschen Verständnis von Sexualität auf.