In Erinnerung an Jesper Juul: Das grosse Interview (Teil 1) - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

In Erinnerung an Jesper Juul: Das grosse Interview (Teil 1)

Lesedauer: 5 Minuten

Jesper Juul war einer der bedeutendsten Familientherapeuten Europas. Nur wenige wussten von seiner schweren Krankheit. Heute ist er im Alter 71 Jahren gestorben. Mit uns sprach er im Dezember 2017 über seine Kindheit, seine Arbeit nach dem Schicksalsschlag. Es war eines seiner letzten Interviews. Dieses möchten wir heute ihm zu Ehren noch einmal publizieren.

Interview: Carolin Märki, Evelin Hartmann, Nik Niethammer
Übersetzung: Claudia Landolt
Bilder: Franz Bischof

Odder südlich von Aarhus im Osten Dänemarks. Eine Kleinstadt mit knapp 12’000 Einwohnern. Einzige Sehenswürdigkeit: die Odder-Kirche von 1150 n. Chr., die älteste Gemeindekirche des Landes. Jesper Juul wohnt in einem Backsteinhaus im dritten Stock. Die Besucher gelangen über eine Aussentreppe nach oben. Auf der Dachterrasse stehen Kräuterbeete. An der grauen Wohnungstür ist ein Schild angebracht: Jesper Juul.

Die Tür öffnet sich automatisch. Jesper Juul rollt in seinem elektrischen Rollstuhl heran. Der Familientherapeut lebt allein. Die Wohnung ist rollstuhlgängig, hell, aufgeräumt, modern. Parkett, kaum Möbel, viele Dachschrägen. Auf dem Esstisch liegen Medikamente, an einer Wand hängen Bilder von seinen Enkel­kindern. Jesper Juul kann nicht am Tisch arbeiten. Er hat sich ein Tablett auf den Schoss gelegt. Darauf ist sein Notebook. So schreibt er seine Bücher und Kolumnen.

Es ist kurz nach 18 Uhr. Die Medikamente wirken und machen Jesper Juul müde. Er hat Mühe, sich zu konzentrieren. Trotzdem hört er aufmerksam zu, beantwortet geduldig unsere Fragen. Erzählt von seiner Hoffnung auf weniger Schmerzen. Und seiner Idee, seinen 70. Geburtstag im nächsten Frühjahr mit vielen Freunden zu feiern.

Herr Juul, für viele Eltern sind Sie Europas bedeutendster Pädagoge, eine Art Übervater der Erziehung. Wie fühlt sich das an?

Es ist nichts, was ich anstrebe. Als ich 1975 mit Familien zu arbeiten begann, hat niemand über Erziehungsmethoden gesprochen. Deshalb unterscheidet sich mein Ansatz auch von jenen der anderen Experten. Meine Gedanken entspringen der Ansicht, dass nicht ich, sondern die Millionen Mütter und Väter auf der Welt die besten Experten für ihre Kinder sind. Sie verdienen diesen Titel mehr als ich.

Also all jene, die Ihren Rat suchen und Ihre Bücher kaufen.

Sie sind es, die täglich ihr Bestes geben. Genau deshalb interessieren mich die rein intellektuellen Debatten über Erziehung nicht. Wir sind alle grundverschieden. Wir sind von unserer eigenen Geschichte, von unserer Herkunftsfamilie, von Konventionen, Kultur und Gesellschaft beeinflusst. Stellen Sie in einer Familie eine Kamera auf und beobachten Sie die Eltern, wenn sie jeweils allein mit ihren Kindern sind. Sie werden staunen! Nicht einmal innerhalb der Familie ist man sich über Erziehung einig, selbst wenn man dieselben Wertvorstellungen hat und sich auf der gleichen intellektuellen Ebene befindet. Wie soll man da allgemeingültige Ratschläge geben?

Man bezeichnet Sie auch als Familienflüsterer. 

Diese Bezeichnung mag ich. Ich verstehe sie als ein Kompliment.

Für einige klingt sie provokativ. 

Mein Ding ist die Provokation. Darin, glaube ich, bin ich erfolgreich. Ich provoziere, weil ich mir erhoffe, dass Erzieher und Eltern so über den eigenen Tellerrand blicken und eine andere Perspektive einnehmen können. Im Englischen nennt man dies «out of the box»-Denken.

Ich provoziere, weil ich mir erhoffe, dass Erzieher und Eltern so über ihren Tellerrand blicken.

Sie bedauerten Kinder, die von ihren Eltern nach dem juulschen Gedankengut erzogen würden, sagten Sie in einem Interview. Warum?

Weil ich stark der Meinung bin, dass zwischen zwei Menschen, die sich in einer liebesbasierten Beziehung zueinander befinden, keine intellektuelle Methode stehen soll. Auch keine Juul-Methode. Ich möchte gar keine Methode. Ich glaube vielmehr, dass wir spontan im Hier und Jetzt agieren und aus unseren ureigenen Erfahrungen lernen sollten. Wollen wir uns verändern und etwas lernen, müssen wir unser Tun reflektieren und in einen Dialog treten mit den Personen, die wir lieben.

Die besten Zitate aus Jesper Juuls Werken als Video.

Sie sagten einmal, es sei furchtbar gewesen, Kind zu sein. Was war an Ihrer Kindheit furchtbar?

Furchtbar war, dass weder meine Eltern noch meine Lehrpersonen sich für mich interessierten; dafür, wer ich war und wie ich mich fühlte, was ich dachte und welche Ideen ich hatte. Sie interessierten sich einzig für mein Verhalten – wie ich mit der Aussenwelt agierte und kooperierte.

Über Ihre Mutter äusserten Sie sich so: «Sie war wie viele Mütter, sie dachte nur an sich und nie daran, was für diesen Jungen gut wäre.» Das klingt sehr hart.

Meine Mutter gehörte zu einer Generation, in der Mütter zu ihren Kindern eine viel engere Bindung hatten als zu ihren Männern. Diese Frauen kamen emotional zu kurz, waren ausgehungert nach Zuneigung und Liebe. Unter anderem deshalb wurden ihre Kinder zu ihren engsten Verbündeten. Diese Beziehungen zwischen Müttern und Kindern waren aber oft auch befrachtet mit Erlebnissen und Emotionen, die in die Erwachsenenwelt gehörten und nicht in die Kinderwelt.

Sie haben einen erwachsenen Sohn, Nicolai. Was haben sie ihm mitgegeben?

Ich habe gerade kürzlich mit ihm darüber geredet. Er sagt, das Wichtigste sei für ihn gewesen, dass seine persönliche Integrität immer unangetastet geblieben sei und er seine Persönlichkeit habe frei entfalten können. Da bin ich mit ihm gleicher Meinung. Ich habe nicht versucht, ihn nach meinen Vorstellungen zu erziehen.

Wie ist heute Ihr Verhältnis zu Ihrem Sohn?

Wir haben eine enge, aber entspannte Beziehung. Wir sind beide eher introvertierte Menschen. Wir lieben es zusammenzusitzen, zu kochen und zu schweigen. Wir können stundenlang zusammen sein und keiner sagt ein Wort.

Jesper Juul leidet an einer Entzündung des Rückenmarks, Die Krankheit kam ohne Vorwarnung. Aufgehört zu arbeiten hat er aber nicht.
Jesper Juul leidet an einer Entzündung des Rückenmarks, die Krankheit kam ohne Vorwarnung.
Aufgehört zu arbeiten hat er aber nicht.

Welchen Erziehungsstil haben Sie vertreten, eher partnerschaftlich oder antiautoritär? 

Als wir eine Familie gründeten, waren meine Frau und ich uns einig, dass wir das patriarchale Familienkonzept für uns nicht wollen. Ich war vielleicht der Erste oder mindestens einer der wenigen Väter, der die Geburt des eigenen Kindes im Gebärsaal miterlebte. Das war eine sehr lehrreiche und prägende Erfahrung für mich! Sicher hatte meine Entscheidung, als Vater zu Hause zu bleiben, damit zu tun.

Sie sind zu Hause geblieben?

Als mein Sohn zehn Monate alt wurde, blieb ich tagsüber zu Hause bei ihm. Zwei Jahre lang. Meine Frau studierte damals noch und ging zur Universität. Sie kam gegen 15 Uhr nach Hause. Meine Arbeit in einem Kinderheim begann um 16 Uhr und dauerte bis 23 Uhr.

Was war das für ein Kinderheim?

Dort wurden Kinder platziert – von der Gemeinde oder vom Staat –, die nicht mehr zu Hause bei den Eltern bleiben und auch keine Regelschule besuchen konnten. Sie waren zwischen 9 und 15 Jahre alt und blieben 8 bis 24 Monate.

Sie und Ihre damalige Frau haben Ihren Sohn gemeinsam erzogen. War das für Sie stimmig?

Zum damaligen Zeitpunkt war es stimmig. Aber ich war nie zufrieden mit meiner Vaterrolle.

Ich war als Vater zornig und laut. Diese Jahre waren für mich sehr lehrreich – für meinen Sohn eher weniger, fürchte ich.

Warum?

Ich war ein weicher, vielleicht sogar fauler Vater – in dem Sinne, dass ich viel weniger eingriff, als man das von Vätern erwartet hätte. Ich erkannte, dass Nicolai Dinge für sich selbst herausfand, wenn ich ein paar Minuten wartete. Oder ein paar Stunden. Oder Tage. Ohne meine Besserwisserei entstanden Konflikte gar nicht erst. Ich hatte allerdings auch Angst, dass ich Nicolai schaden könnte. Deshalb war ich sicher manchmal passiver, als ich es hätte sein sollen.

Inwiefern?

Mein Sohn war ein talentierter Badmintonspieler. Er trat auch bei Turnieren an. Doch plötzlich wollte er nicht mehr spielen, weil sein Trainer ihn zu sehr unter Druck setzte. Damals verstand ich seine Gründe. Heute glaube ich, ich hätte ihn stärker überzeugen sollen, weiterzumachen. Aber ich hatte eben Angst, den Druck, den er ohnehin schon gespürt hatte, noch zu verstärken.

Möchten Sie sich diesen Artikel merken? Dann pinnen Sie dieses Bild auf Ihre Pinterest Pinnwand. Folgen Sie dort auch unserer Jesper Juul-Pinnwand.
Möchten Sie sich diesen Artikel merken? Dann pinnen Sie dieses Bild auf Ihre Pinterest Pinnwand. Folgen Sie dort auch unserer Jesper Juul-Pinnwand.

Wie haben Sie Ihren ganz persönlichen «Erziehungsstil» gefunden?

Wie alle Eltern: nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Also die Methode, bei der so lange zulässige Lösungsmöglichkeiten ausprobiert werden, bis die gewünschte Lösung gefunden wird. Oder sich die eigene Sicht auf das Ganze verändert hat. Fehlschläge gehören dazu. Was bei uns noch hinzukam, war der Wunsch, es besser zu machen als die Generation vor uns.

Gibt es etwas, das Sie heute als Vater anders machen würden?

Ich würde in den ersten Jahren weniger tyrannisch sein.

Wie meinen Sie das?

Wenn wir in den ersten drei bis vier Jahren mit unseren Dickköpfen aneinandergeraten sind, habe ich meinen Sohn hart am Arm gepackt. Ich war auch zornig und laut. Diese Jahre waren für mich sehr lehrreich – für Nicolai eher weniger, fürchte ich.

Lesen Sie auch Teil 2 des grossen Interviews. Darin verrät Jesper Juul, warum Erziehung seiner Meinung nach nicht funktioniert und was sein grösster Wunsch ist.

Lesen Sie mehr zum Thema Erziehung:

Hilfe, mein Kind isst nichts Gesundes!
Erziehung
Hilfe, mein Kind isst nichts Gesundes
Ihr Kind hat früher Gemüse und Früchte gegessen und isst nun plötzlich nur noch Pommes-Frites und Poulet? Kein Grund zur Sorge.
Bei einer guten Sache mitwirken.
Erziehung
Lassen Sie ihr Kind bei einer guten Sache mitwirken
Wussten Sie, dass Kinder ein besseres Selbstwertgefühl entwickeln, wenn sie sich für eine gute Sache einsetzen? So unterstützen Sie es dabei.
ESL Sprachcamps Frankreich England HG
Advertorial
Sprachcamps mit ESL – der beste Weg eine Sprache zu lernen
Jugendliche und Kinder haben die Chance, eine unvergessliche Erfahrung in den ESL Sommer-Sprachcamps im Ausland zu machen.
Hausaufgaben ohne Diskussionen
Erziehung
Hausaufgaben: So klappt es ohne Diskussionen
Manche Kinder können den Hausaufgaben wenig abgewinnen: Das ist so langweilig! Warum muss ich das machen? Was Sie als Eltern tun können.
Dem Kind ein positives Körperbild vermitteln.
Erziehung
Wie vermittle ich meinem Kind ein positives Körperbild?
Jugendliche und sogar Kinder sind heute sehr beschäftigt mit ihrem Aussehen und haben rasch das Gefühl, sie seien zu dick, nicht sportlich oder muskulös genug. Was sie als Eltern tun können.
Haustier: Das sollten Sie beachten
Erziehung
Mein Kind möchte ein Haustier
Immer wieder werden Tiere ausgesetzt oder ins Tierheim gebracht. Bevor man ein Haustier anschafft, sollte man sich genau informieren.
Kommunikation: Mutter liest Sohn etwas vor.
Erziehung
4 Tipps für eine konfliktfreie Kommunikation mit Kindern
Ich-Botschaften und No-Go-Wörter: Wir zeigen Ihnen vier Strategien für eine konstruktive Kommunikation mit Ihrem Kind.
Erziehung
«Kein Mensch kann von morgens bis abends empathisch sein»
Ein Anliegen von Psychologin Claudia Brantschen ist es, Eltern im Alltag zu unterstützen. Sie erklärt, wie beziehungsstärkende Kommunikation gelingt.
Erziehung
«Eltern brauchen viel Vertrauen. In sich selbst. Und in das Leben»
Viele Eltern wollen ihre Kinder bedürfnisorientiert erziehen und erfüllen dabei vor allem deren Wünsche, sagt die Pädagogin Inke Hummel. Als Ursache dafür sieht die Ratgeberautorin eine Konfliktscheue, die aus der eigenen Kindheit rührt.
Blog
Alles verwöhnte Saugoofen?
Unser Kolumnist Christian Johannes Käser erinnert sich an seine Grossmutter und fragt sich, ob wir unsere Kinder manchmal zu sehr verwöhnen.
bedürfnisorientert erziehen
Erziehung
«Bedürfnisorientiert heisst nicht konfliktfrei»
Im Video-Interview sagt Inke Hummel, was bedürfnisorientiert erziehen bedeutet und warum Kommunikation in diesem Kontext so wichtig ist.
Patchwork
Erziehung
Wie gelingt Patchwork? 10 Fragen und Antworten
Das Leben mit neuem Partner und dessen Kindern ist anspruchsvoll. Expertinnen und Experten antworten auf Fragen, die Patchworkfamilien umtreiben.
Video
Wie viel Schlaf braucht mein Kind?
Wie viel Schlaf benötigt ein Kind? Antworten liefert die Jugendmedizinerin Rabia Liamlahi in ihrem Vortrag.
Wie helfe ich meinem Kind, mit schwierigen Themen umzugehen?
Erziehung
Wie helfe ich meinem Kind, mit schwierigen Themen umzugehen?
Krieg, Terror, Naturkatastrophen – solche Nachrichten sind für Kinder besonders bedrohlich. Wie Sie Ihr Kind dabei unterstützen können.
Mikael Krogerus Kolumnist
Familienleben
Vom Stress, nicht gut genug zu sein
Der gesellschaftliche Druck drängt Jugendliche und Eltern in den Perfektionismus. In den dunkelsten Stunden wendet sich Kolumnist Mikael Krogerus an Gott und bittet um Erlösung. 
Was tun bei Geschwisterstreit?
Erziehung
Was tun bei Geschwisterstreit?
Geschwister streiten sich. Das ist normal. Dass man sich als Eltern darüber aufregt auch. Doch müssen Sie nicht bei jedem Streit sofort eingreifen.
Wie geht Erziehung ohne Schimpfen?
Elternbildung
Wie geht Erziehung ohne Schimpfen?
In den meisten Familien gehört Schimpfen zum Alltag: Eltern schimpfen mit ihren Kindern, mal mehr, mal weniger. Doch Grenzen und Regeln lassen sich durch Anbrüllen nicht durchsetzen.
Video
Das kindliche Spiel begleiten – was ist sinnvoll?
Oskar Jenni erklärt in seinem Vortrag, warum Kinder spielen und erläutert die verschiedenen Formen des Spieles sowie die Spielbereitschaft von Kindern.
Fritz+Fränzi
Kindliche Entwicklung: Unser Thema im Juli und August
Jedes Kind ist anders – trotzdem gibt es typische Entwicklungsphasen. Wer diese kennt, kann den Familienalltag gelassener angehen.
Erziehung
Mein Kind räumt sein Zimmer nicht auf
Viele Kinder sind mit der Aufforderung, ihr Zimmer aufzuräumen, überfordert. Anderen ist Ordnung einfach nicht so wichtig. In unserem Video zeigen wir Ihnen, wie Sie die Sache am besten angehen. 
Familie Grundlehner zum Thema Ängste und Mut
Gesundheit
«Amyras Ängste schränkten unser Leben zunehmend ein»
Familie Grundlehner lebt am Bodensee. Als die achtjährige Tochter Amyra immer ängstlicher wurde, holte sich das Paar professionelle Hilfe.
Erziehung
Jetzt beeil dich doch mal!
In Familien gibt es oft Konflikte rund um das Thema Zeit. Jüngere Kinder können mit vielen Zeitbegriffen noch gar nichts anfangen, ältere wollen sich bewusst davon abgrenzen.
Video
Zu viel oder zu wenig – wieviel Sport tut Kindern gut?
Wie fördert man Bewegungsmuffel und Sportskanonen? Im Interview spannt Susi Kriemler den Bogen von «zu wenig Sport» bis zu «zu viel Sport».
Fritz+Fränzi
Mutige Kinder: Unser Thema im Juni
Wie Kinder an der Überwindung ihrer Ängste wachsen – und was Eltern dazu beitragen können.
Was tun, wenn dem Kind langweilig ist?
Erziehung
Was tun, wenn dem Kind langweilig ist?
«Mir ist langweilig!» Dieser Satz kann Eltern ziemlich nerven. Oft neigt man dann reflexartig dazu, dem Kind Vorschläge zu machen, womit es spielen könnte.