Mutter: Mein Mann und ich machen uns grosse Sorgen um unseren zehnjährigen Sohn. Haben Sie Zeit für mich?
Beraterin: Natürlich. Ich höre zu.
Mutter: Unser Sohn hat in den letzten Monaten mehrmals gesagt, dass er nicht mehr leben möchte. Vor ein paar Tagen schrieb er einen Brief, in dem stand, wie er sterben möchte – von einer Brücke springen, die bekannt ist als Suizidort. Das hat uns sehr erschreckt.
Beraterin: Ihre Sorge ist absolut nachvollziehbar. Es ist wichtig, dass Sie seine Äusserungen ernst nehmen. Wie haben Sie auf den Brief reagiert?
Mutter: Wir haben den Notfallpsychiater kontaktiert. Er hat am Telefon mit unserem Sohn gesprochen und uns für den nächsten Tag einen Termin angeboten. Unser Sohn hat sich jedoch geweigert, viel zu reden – weder am Telefon noch beim persönlichen Gespräch. Aber er hat glaubhaft gesagt, dass er es nicht wirklich machen würde. Seither will er gar nicht mehr darüber sprechen. Er wird wütend und macht zu, wenn wir das Thema bringen. Der Psychiater meinte, wir könnten uns jederzeit wieder melden, was wir auch tun würden.
Beraterin: Wie geht es Ihnen jetzt damit?
Mutter: Wir haben nicht den Eindruck, dass er wirklich sterben will. Meistens ist er fröhlich, aktiv, lacht viel. Solche Aussagen kommen in Situationen mit schulischem Druck, wenn er extrem frustriert ist.
Unser Sohn ist sehr ehrgeizig. Er ist trotz grosser Anstrengung nicht immer erfolgreich. Das trifft ihn hart.
Mutter
Beraterin: Können Sie mir mehr von diesen schwierigen Momenten erzählen?
Mutter: Er ist sehr ehrgeizig. Er möchte unbedingt ins Gymnasium – wie sein älterer Bruder, der im Langzeitgymnasium ist. Aber im Gegensatz zu seinem Bruder oder auch seiner jüngeren Schwester, denen die Schule leichtfällt, muss er sich enorm anstrengen und ist trotzdem nicht immer erfolgreich. Das trifft ihn hart.
Beraterin: Könnte es sein, dass er sich mit seinen Geschwistern vergleicht und das Gefühl hat, nur dann liebenswert zu sein, wenn er gleich erfolgreich ist?
Mutter: Ja, das kann gut sein. Dabei haben wir ihm nie gesagt, dass er gleich gut sein muss oder unbedingt ins Gymi soll.
Beraterin: Kinder entwickeln oft solche Überzeugungen, ohne dass Eltern sie direkt vermitteln.
Mutter: Ja, wir sind schon eine recht akademisch geprägte Familie.
Beraterin: Sie haben gesagt, dass Ihr Sohn sehr aktiv und oft fröhlich ist. Was macht ihm Freude? Was gelingt ihm gut?
Mutter: Er spielt leidenschaftlich Fussball und ist sehr engagiert in der Pfadi. Er hat viele Freunde und ist sozial gut integriert.
Beraterin: Das klingt wunderbar. Zeigen Sie ihm, wie sehr Sie sich über sein Engagement und seine Erfolge in diesen Bereichen freuen?
Mutter: Manchmal schon. Aber wahrscheinlich weniger, als wenn er gute Noten schreibt. Jetzt, wo Sie das fragen, merke ich, wie stark unser Fokus auf den schulischen Leistungen liegt. Er sagt uns zum Beispiel, wir müssten nicht zu seinen Fussballmatches kommen – es sei ihm egal. Und weil wir beide beruflich viel unterwegs sind, schaffen wir es tatsächlich nur selten.
Vielleicht zeigt sich seine Verzweiflung gerade dort, wo er den Druck am stärksten spürt – in der Schule.
Beraterin
Beraterin: Kann es sein, dass er sich insgeheim freuen würde, wenn Sie doch kommen und ihm zeigen, wie sehr Sie sich für ihn interessieren und wie stolz Sie auf ihn sind?
Mutter: Ja, das kann gut sein. Er ist insgesamt enorm selbständig. An zwei Tagen pro Woche steht er ganz allein auf, weil er sehr früh zur Schule muss, und bereitet sich selbst das Frühstück zu. Ich glaube, er ist stolz darauf.
Beraterin: Das darf er auch sein – es ist beeindruckend, was er schon alles kann. Und dennoch scheint es mir wichtig, dass er spürt: Seine Eltern kümmern sich gerne um ihn und interessieren sich für das, was ihn bewegt.
Mutter: Mir kommen die Tränen, das berührt mich jetzt sehr!
Beraterin: Ich spüre, wie sehr Sie ihn lieben – und wie gross Ihr Wunsch ist, ihn zu unterstützen.
Mutter: Von allen drei Kindern war er immer derjenige, der am wenigsten Hilfe bekommen wollte.
Beraterin: Und genau das kann auch zur Überforderung führen. Vielleicht zeigt sich seine Verzweiflung gerade dort, wo er den Druck am stärksten spürt – in der Schule. Sein Brief war ein deutlicher Hilferuf.
Mutter: O Gott! Was können wir tun, um diesen Druck zu mindern und ihn besser zu unterstützen?
Beraterin: Indem Sie ihm zeigen – direkt und indirekt –, dass Sie ihn genau so lieben, wie er ist, und dass er nichts leisten muss, um Ihre Liebe zu verdienen.
Mutter: Wie machen wir das?
Beraterin: Was fällt Ihnen dazu ein?
Mutter: Wir könnten ihm noch öfter sagen, dass es in Ordnung ist, wenn er manchmal schlechte Noten hat. Und dass wir ihn immer gerne haben, egal was die Schule ergibt.
Es geht nicht darum, ihm etwas abzunehmen, sondern darum, gemeinsam Zeit zu verbringen.
Beraterin
Beraterin: Genau. Und wie könnten Sie ihm sonst noch Liebe und Interesse zeigen?
Mutter: Wir könnten öfter an seine Matches gehen, als Familie oder auch nur zu zweit oder allein, wenn jemand nicht kann. Und ihn dort anfeuern und ihm zeigen, wie stolz wir auf ihn sind.
Beraterin: Ich muss gerade lächeln, wenn ich mir das vorstelle. Das klingt sehr schön. Haben Sie noch weitere Ideen für kleine Liebesgesten?
Mutter: Das fällt mir schwer. Ich bin darin gar nicht gut.
Beraterin: Wie wäre es, wenn Sie an einem seiner frühen Schultage mit ihm gemeinsam aufstehen? Vielleicht sagen Sie ihm: «Ich bin eh schon wach und würde gerne mit dir frühstücken.»
Mutter: Ich glaube, darüber würde er sich freuen – auch wenn er wahrscheinlich trotzdem weiter alles selbst machen möchte.
Beraterin: Das ist auch okay. Es geht nicht darum, ihm etwas abzunehmen, sondern darum, gemeinsam Zeit zu verbringen. Vielleicht erzählt er Ihnen dann auch etwas aus der Pfadi oder vom Fussball. Sie können auch einfach mal nachfragen.
Elternnotruf
www.elternnotruf.ch
Mutter: Das klingt schön – diese gemeinsame Zeit zu zweit.
Beraterin: Ja, auch kurze, präsente Momente können viel bewirken.
Mutter: Ich bin so dankbar für Ihre Ideen. Vielen herzlichen Dank!
Beraterin: Sehr gerne – und Sie haben selbst schon die ersten tollen Ideen gebracht.
Mutter: Da haben Sie recht.
Beraterin: Alles Gute. Sie können sich jederzeit wieder melden. Ihr Mann auch.
Mutter: Danke, das ist gut zu wissen.
Dieses Protokoll ist die stark verkürzte und auf das Wesentliche reduzierte Aufzeichnung eines längeren Beratungsgesprächs. Wir möchten damit einerseits Einblick geben in unsere Arbeit und andererseits den Leserinnen und Lesern Denkanstösse für ähnliche Fragestellungen vermitteln.
Yvonne Müller, Co-Leiterin Elternnotruf








