Und plötzlich geht Nora ihren Weg

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Seit Jahren beschäftige ich mich journalistisch mit der Berufswahl. Doch jetzt ist alles ­anders: Meine Tochter ist in der 2. Sek und muss sich entscheiden, welche Ausbildung sie machen will. Und ich erfahre in diesem Jahr, ob mein Wissen in der Praxis taugt.
Interview: Stefan Michel

Bild: Adobe Stock

Jetzt ist es so weit. Während ich an der elften Ausgabe des Berufswahlhefts arbeite, beginnt meine Tochter Nora ihre Berufswahl. Wobei sie ihre Wahl schon vor Jahren getroffen hat. Sie will in einer Krippe Kinder betreuen. Nicht ganz unschuldig daran: meine Partnerin, die eine Spielgruppe mit Mittags­betreuung leitet.

Meine Sorge ist, dass Nora es sich mit der getroffenen Wahl zu bequem macht, diese nicht hinterfragt und Gefahr läuft, später eine böse Überraschung zu erleben.

Während andere Jugendliche sich mitten im pubertären Umbau ihrer Persönlichkeit erst selber kennenlernen müssen, um herauszufinden, was sie wollen, ist der Berufswunsch Fachfrau Betreuung für Nora der Fels in der Brandung. Die Schule macht schon länger keinen Spass mehr, Freundschaften sind kompliziert, wir Eltern nerven, aber die FaBe-Lehre ist ihr Licht am Ende des Tunnels.

Meine Sorge ist, dass sie es sich mit der getroffenen Wahl zu bequem macht, diese nicht hinterfragt und Gefahr läuft, später eine böse Überraschung zu erleben. Was, wenn der Arbeitsalltag nicht so idyllisch ist wie die Hütevormittage bei den Nachbarn oder das Mithelfen in der Spielgruppe?

Mehr Potenzial als gedacht

Selbständigkeit war meiner Partnerin und mir von Anfang an wichtig. Wir haben unsere Kinder ermuntert, sich alleine in ihrem grösser werdenden Radius zu bewegen, Entscheidungen selber zu treffen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Natürlich haben auch wir immer mal wieder die Folgen mitgetragen, wenn etwas schiefgegangen ist.

Aber in der 2. Sekundarklasse zeigt sich, dass Nora fähig ist, sich zu organisieren, Lehrbetriebe ausfindig zu machen und Schnupperlehren zu vereinbaren. Nicht so effizient und nicht so sorgfältig, wie wir das erledigen würden, aber sie kriegt es hin.

Jetzt bin ich selber einer jener Väter, die hoffen, dass ihr Kind eine Wahl trifft, die auch die Eltern überzeugt.

An einem Infoanlass für FaBe-Berufe darf ich Nora begleiten. Etwa die Hälfte der Jugendlichen ist ohne Eltern da. Obwohl kein scheues Kind, fühlt sich unsere Tochter wohler so, was mir das gute Gefühl gibt, noch nicht ganz überflüssig zu sein.

Noch wichtiger für mich sind die Lernenden, die von ihrem Alltag als angehende Fachfrauen und Fachmänner Betreuung erzählen. Der Beruf hat mehr Potenzial, als ich während der Krippenzeit unserer Kinder den Eindruck erhalten hatte. 

Zwischen Vorspuren und Machenlassen

Meine Partnerin und ich haben diverse persönliche Kontakte in die Welt der Kitas, kennen positive und negative Beispiele. Es wäre ein Leichtes, Noras Weg in eine Institution mit gutem Ausbildungsniveau vorzuspuren. Aber sie soll ihren Lehrbetrieb selber finden. Wir weisen sie auf Kitas hin, bei denen wir überzeugt sind, dass sie in ihre Lernenden investieren, sie fordern und fördern.

Dass das Gymi kein Thema für unsere Tochter ist, hat sich schon vor Jahren gezeigt. Wir haben damit kein Problem, auch wenn wir beide studiert haben. Wir sind aber überzeugt, dass sie mehr kann, als den Anforderungen der FaBe-Lehre zu genügen. Wir versuchen sie deshalb für die Berufsmatur zu gewinnen.

Uns ist aber auch bekannt, dass es gerade bei sozialen Berufen unzählige Weiterbildungsmöglichkeiten gibt, für die es keine Matur braucht. Dass unsere Tochter mit 14 nicht einsieht, wieso sie nach der Lehre weitere Ausbildungen machen soll, versuche ich unkommentiert zu lassen. Was mir nicht immer gelingt.

Nora neigt wie viele Jugendliche zum Minimalismus. Warum sich das Leben schwer machen, wenn es einfacher geht? Warum sich Schulstoff über längere Zeit so einprägen, dass er nachhaltig sitzt, wenn man sich am Tag vor der Prüfung genug reindrücken kann, dass es für eine 4,5 reicht?

Zwischendurch blitzt bei ihr der Wunsch auf, ihre Noten zu verbessern, um ihre Chancen bei der Lehrstellensuche zu erhöhen. Das gelingt ihr sogar, doch die Inkonstanz gehört wie die Stimmungsschwankungen zu ihrem Alter.

Weshalb muss ich das lernen?

Der Stellwerktest zeigt, dass sie die Anforderungen der FaBe-Lehre erfüllt. Ihre Lehrerinnen sehen sie auch als Berufsmaturitätsschülerin. Da wird sie sich aber mehr hineinknien müssen, als sie es aktuell tut, denke ich. Und hoffe, dass der Wissensdurst und der Wille, mehr über die Welt zu erfahren, wächst. Während sie sich bei jedem Lerninhalt zuerst fragt, was ihr der bringt, bin ich überzeugt, dass es immer besser ist, mehr zu wissen als weniger.

Ich wünsche Nora einen Start in ein Berufsleben, in dem sie ihre Stärken nutzen kann und dafür wertgeschätzt wird.

Darüber geraten wir uns immer mal wieder in die Haare. Meine Überzeugung, dass sie ein interessanteres Leben haben wird, je mehr sie weiss, je mehr Fähigkeiten sie sich aneignet, prallt an ihr ab. Was mir dann eine ihrer grossen Stärken bewusst macht: Sie hat einen starken Willen und steht für ihre Überzeugungen ein. Türknallen inklusive.

Als grössere Herausforderung kristallisiert sich heraus, dass Nora in verschiedenen Berufen schnuppern soll, um zu zeigen, dass sie sich auch mit Alternativen auseinandergesetzt hat und ihr Wunsch, FaBe zu werden, ein bewusster ist. «Was soll ich denn sonst schnuppern?», fragt sie immer wieder. Und überrascht uns, indem sie sich selber im Blumengeschäft unserer Nachbarin einen Schnuppertag organisiert. 

Die letzte Entscheidung, die wir gemeinsam fällen

Inzwischen sind die Sommerferien – Noras letzte, nach denen sie nochmals zur Schule gehen wird – nur noch ein paar Wochen entfernt. Danach beginnt die Zeit, in der die Betriebe Bewerbungen entgegennehmen. Hat sie ihre Termine im Griff? Gibt es Infoveranstaltungen, die sie besuchen muss, um sich bewerben zu können? Wieder schwanken meine Partnerin und ich zwischen der Genugtuung, dass sich unsere Tochter weitgehend selber organisiert, und der Sorge, dass ihr etwas Wichtiges entgeht. 

Die Berufswahl ist die letzte Entscheidung des eigenen Kinds, auf die Eltern wirklich Einfluss nehmen können. Diesen Satz habe ich in den letzten zehn Ausgaben des Berufswahlheftes in Variationen immer wieder geschrieben. Jetzt bin ich selber einer jener Väter, die hoffen, dass ihr Kind eine Wahl trifft, die auch die Eltern überzeugt. Ich wünsche Nora einen Start in ein Berufsleben, in dem sie ihre Stärken nutzen kann und dafür wertgeschätzt wird. Sehe ich sie auf diesem Weg, wird es sich besser anfühlen, sie ziehen zu lassen.