Wer haftet bei einem Unfall auf der Schulreise?

Aus Ausgabe
07+08 / Juli + August 2025
Lesedauer: 5 min

Wer haftet bei einem Unfall auf der Schulreise?

Ein überarbeiteter Leitfaden hilft Lehrpersonen, im Berufsalltag ihrer Aufsichts- und Sorgfaltspflicht gegenüber Schülerinnen und Schülern nachkommen zu können.
Text: Dagmar Rösler

Bild: Getty Images

Lehrerinnen und Lehrer übernehmen täglich grosse Verantwortung für ihre Schülerinnen und Schüler. Sie haben eine umfassende Aufsichts- und Sorgfaltspflicht gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen. Lehrpersonen sollten daher grundlegende Kenntnisse ihrer rechtlichen Verantwortlichkeit besitzen und die rechtlichen Rahmenbedingungen ihres Berufes kennen.

Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) hat deshalb einen Leitfaden zum Thema erstellen lassen, dessen erweiterte und überarbeitete Version im Januar dieses Jahres erschienen ist.

Der neue Leitfaden befasst sich im ersten Teil mit strafrechtlicher, haftungsrechtlicher und personalrechtlicher Verantwortlichkeit. Im zweiten Teil werden von der Autorin und den beiden Autoren 75 Fragen zu unterschiedlichen Themenbereichen beantwortet – wie beispielsweise diese hier: 

  • Darf eine Lehrperson bei ihren Schülerinnen und Schülern Zecken entfernen?
  • Wer haftet, wenn während eines Schulausflugs auf der Skipiste ein Unfall geschieht?
  • Ab welchem Alter sind Fahrradtouren zulässig?

Auch für Eltern kann es wichtig sein, zu wissen, wo die rechtliche Verantwortlichkeit von Lehrpersonen anfängt und wo sie endet. Wie komplex sich Situationen darstellen können, zeigt der folgende Fall.

Schulausflug zum Cheisacherturm

2017 musste das Bezirksgericht Laufenburg AG entscheiden, ob sich zwei Lehrpersonen der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht hatten. Ein zwölfjähriger Schüler war auf einer Klassenwanderung zum Cheisacherturm in Sulz AG zu Tode gestürzt. Die Wanderung wurde mit fünf Klassen (insgesamt 104 Schülerinnen und Schülern) und zehn Lehr- und Begleitpersonen durchgeführt.

Während der Mittagspause entfernten sich zwei Schüler von ihrer Gruppe, um einen Abhang neben dem Grillplatz zu erkunden. Beim Klettern rutschte einer der Schüler die Böschung hinab und stürzte über den Rand einer zwölf Meter hohen Steilwand in die Tiefe. Der andere Schüler informierte die Lehrerschaft, die mit der Notfall-App der Rega umgehend Rettungskräfte aufbot. Diese konnten den schwer verletzten Schüler 35 Minuten nach Eingang der Meldung bergen. Der Schüler erlag eine Woche später seinen schweren Verletzungen.

Von Lehrpersonen kann nur verlangt werden, dass sie erkennbare Risiken vermeiden – alle Gefahren können nicht ­ausgeschlossen werden.

Gegen den Organisator der Schulreise und den Klassenlehrer wurde ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft wollte das Verfahren zunächst einstellen und erhob erst nach der Beschwerde der Eltern Anklage.

Die Staatsanwaltschaft warf den Lehrpersonen vor, sie hätten die Schülerinnen und Schüler zu wenig über die Gefahr, die von der steilen Böschung ausging, informiert und sie auch zu wenig überwacht. Es hätte den Lehrpersonen auffallen müssen, dass sich zwei Schüler vom Rastplatz entfernten. Vor der Böschung hätte eine Lehrperson mit dem klaren Auftrag zur Überwachung positioniert werden müssen.

Keine unrealistischen Anforderungen an Lehrpersonen

Das Bezirksgericht folgte der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht. Es kam zum Schluss, dass den beiden Lehrpersonen keine Sorgfaltspflichtverletzung vorgeworfen werden kann. Sie hatten den Grillplatz zweifach rekognosziert, Holz organisiert, Beobachtungsposten während der Rast platziert, die Gefahr der steilen Böschung aber nicht erkennen können.

Bei den Schülerinnen und Schülern habe es sich um «durchschnittliche» Jugendliche gehandelt, die aufgrund ihres Alters und Charakters keine ständige Überwachung erforderten. An die Lehrpersonen dürften keine unrealistischen Anforderungen gestellt werden. Beide Lehrpersonen wurden vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen.

Lehpersonen dürfen ­Medikamente nur nach ­Absprache mit den Eltern an Schülerinnen und Schüler verabreichen – auch in Notfällen.

Der Fall zeigt, dass selbst bei sorgfältiger Vorbereitung und Planung nicht sämtliche Gefahrenquellen ausgeschlossen werden können. Von Lehrpersonen kann deshalb nur verlangt werden, dass sie erkennbare Risiken vermeiden.

Das Mass der Sorgfalt hängt auch vom Alter und von der Einsichtsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler ab. Bei einem Zwölfjährigen kann, sofern im Einzelfall nichts anderes bekannt ist, davon ausgegangen werden, dass er sich auch ohne engmaschige Überwachung nicht unerlaubt vom Rastplatz entfernt und vor einer zwölf Meter hohen Steilwand das Klettern übt. Hätte es sich um jüngere Kinder gehandelt, wäre eine engmaschigere und intensivere Aufsicht Pflicht gewesen.

Abgabe von Medikamenten

Lehrpersonen dürfen Medikamente nur nach Absprache mit den Erziehungsberechtigten an Schülerinnen und Schüler verabreichen. Wer über die elterliche Sorge verfügt, entscheidet über medizinische Eingriffe. Lediglich das Verarzten mit Pflastern und Verbänden und das Desinfizieren von Wunden ist unproblematisch. 

Selbst in Notsituationen ist vor dem Eintreffen der ärztlichen Untersuchung eine Abgabe von Medikamenten zu unterlassen. Dies gilt sowohl für verschreibungspflichtige als auch für nicht verschreibungspflichtige Medikamente. Nicht verschreibungspflichtig heisst nicht ungefährlich. Obwohl viele Schmerzmittel nicht verschreibungspflichtig sind, müssen vor ­ihrer Anwendung verschiedene Abklärungen getroffen werden.

Ausnahmen bestehen bei chronischen Krankheiten oder Allergien von Schülerinnen und Schülern – sofern Einwilligung und genaue Instruktionen der Erziehungsberechtigten vorliegen. Die Lehrperson kann jedoch nicht verpflichtet werden, diese Verantwortung zu übernehmen. Wenn sie sich die Abgabe nicht zutraut, zum Beispiel von hochdosierten Medikamenten oder durch Injektionen, muss sie dies vorgängig klar sagen. Dann sind die Massnahmen anderweitig sicherzustellen, zum Beispiel durch eine Begleitperson.

Wissen schafft Sicherheit

Ich würde nach diesen zugegebenermassen recht technischen Beispielen von Verantwortungsbereichen von Lehrpersonen nicht behaupten wollen, dass Letztere immer «mit einem Fuss im Gefängnis» stehen. Sie zeigen aber auf, dass Lehrpersonen um die Tragweite ihrer Aufsichts- und Sorgfaltspflicht wissen müssen, um das etwaige Risiko erkennen und einschätzen zu können. Dieses Wissen hilft ihnen weiter, damit sie weiterhin einer freien und angemessenen Unterrichtsgestaltung nachgehen und ausserschulische Veranstaltungen sicher initiieren können.

Übrigens: Eine Lehrperson darf bei ihren Schülerinnen und Schülern Zecken entfernen – muss aber nicht. Gerichtlich nicht beurteilt wurde bislang, ob die Erziehungsberechtigten vorgängig ihre Zustimmung geben oder nachträglich informiert werden müssen. Zecken sollten gemäss Bundesamt für Gesundheit schnell entfernt werden. Die fachgerechte Entfernung einer Zecke durch die Lehrperson samt nachträglicher zwingender Information der Erziehungsberechtigten ist daher nicht zu beanstanden.