Freunde finden im Kindergarten: Die Qual der Wahl

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Wenn Kinder wählen können, mit wem sie spielen, arbeiten oder laufen möchten, wählen sie meist dieselben Gspänli – und die immer Gleichen bleiben übrig. Wie bei solchen Auswahlverfahren niemand zu kurz kommt und alle etwas lernen können, wissen drei Expertinnen.
Text: Sibille Moor

Bild: Maike Vará

Gespannt sitzen die Kinder im Stuhlkreis. Heute ist im Kindergarten «Freundetag» – wie immer einmal wöchentlich. Gleich zu Beginn dürfen sie wählen, mit wem sie den ganzen Morgen spielen möchten.

«Das gab viele Konflikte und Tränen», erzählt Marta da Silva (Name geändert), welche die Szenerie beobachtete. Sie war an diesem Vormittag im Rahmen des Besuchsmorgens im Chindsgi ihrer Tochter. «Am Schluss blieben drei Kinder übrig, die dann zusammen spielen mussten», erinnert sie sich. Als einige weinten, habe die Lehrperson bloss gesagt: «Wenn das so abläuft, dann machen wir das nächstes Mal nicht mehr.» Und dass sie aussuchen dürften, sei in diesem Chindsgi ohnehin selten der Fall, sagt Marta da Silva, meistens teile die Lehrperson die Kinder ein.

Bei dieser Schilderung werden blitzartig Erinnerungen an den eigenen Sportunterricht wach: Die Kinder stehen in der Reihe an der Turnhallenwand, zwei dürfen ein Team wählen. Eins nach dem anderen wird aufgerufen. Zurück bleiben immer die Gleichen.

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Welche Gefühle das in ihnen auslöst, interessierte niemanden. Ist halt einfach so. Du bist eben nicht gut im Turnen. Oder nicht so beliebt. Heute sollte das doch anders sein – findet auch Marta da Silva. Ihr ging der «Freundetag» emotional nah, obwohl ihre Tochter weder weinte noch zu den Übriggebliebenen gehörte: «Ich finde das Vorgehen in jeglicher Hinsicht falsch. Heutzutage gibt es doch sicher andere Methoden, um Spielpartner oder Gruppen zu wählen.»

Kinder müssen wählen dürfen

Ja, die gibt es. Das wird nach Gesprächen mit drei Fachpersonen klar, die es wissen müssen: Luzia Bürgi, Leiterin des Studiengangs Kindergarten-Unterstufe an der Pädagogischen Hochschule Zug, Sara Stutz, Co-Präsidentin des Verbandes Kindergarten Zürich, und Claudia Roebers, Inhaberin des Lehrstuhls und Leiterin der Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität Bern.

Alle drei sind der Meinung, dass Kinder Gelegenheit bekommen müssen, ihre Spiel- oder Arbeitspartnerinnen auszusuchen. Claudia Roebers sagt: «Wenn wir dies komplett aus dem Leben der Kinder verbannen, um Enttäuschungen zu vermeiden, tun wir ihnen keinen Gefallen.» Das Wählen der Partner ist wichtig, damit wir später tragfähige, langfristige soziale Beziehungen eingehen können. «Dafür müssen wir früh ausprobieren können, mit wem wir zusammenpassen und mit wem nicht.»

Hinzu kommt, dass «der Umgang mit Enttäuschungen ein Lernfeld ist», wie es Luzia Bürgi formuliert. Und dies sei genau eine der Aufgaben, die ein Chindsgi habe: die Kinder emotional kompetenter zu machen. Auch Sara Stutz sagt: «Spätestens hier lernen sie, eines von zwanzig zu sein. Das bedeutet, dass sie nicht immer drankommen oder ausgewählt werden.»

Zentral finden alle drei Expertinnen, dass die Frustration, die Enttäuschung, die Trauer oder die Wut, die in solchen Situationen entsteht, von den Lehrpersonen aufgefangen wird. Das heisst: die Gefühle benennen, Verständnis dafür zeigen und erklären, weshalb das Kind nicht gewählt wurde.

Der Wahlprozess ist ein ideales Lernfeld, um die Kreativität und Empathie von Kindern zu fördern.

Luzia Bürgi, Pädagogin

Claudia Roebers betont: «Der Wahlprozess muss sozialverträglich sein. Niemand darf beschämt oder blossgestellt werden.» Also nicht wie früher im Turnunterricht. Und das wird während des Studiums auch so vermittelt, wie Sara Stutz sagt, die seit 16 Jahren im Kindergarten unterrichtet.

Ein ideales Lernfeld

An der Pädagogischen Hochschule Zug beispielsweise lernen angehende Kindergartenlehrpersonen im Fach «Classroom Management», wie sie mit dem Thema Gruppenbildung und Wählen umgehen können. Zum einen sollten die Lehrpersonen den Wahlprozess steuern, wie Luzia Bürgi sagt: «Wenn ich weiss, welche Kinder tendenziell übrig bleiben, lasse ich sie zuerst aussuchen.»

Zum anderen sei es wichtig, mit der Klasse folgende Fragen zu thematisieren: Wie geht es jemandem, der immer zuletzt gewählt wird? Wie können wir die Regeln ändern, um dies zu verhindern? «Kinder sind sehr kreativ und empathiefähig. Der Wahlprozess ist ein ideales Lernfeld, um dies zu fördern», sagt die Studiengangsleiterin, die früher selbst im Kindergarten unterrichtete.

Erklärung für die getroffene Wahl

Gerade jüngere Kinder könnten manchmal schwer nachvollziehen, weshalb sie nicht gewählt werden, weiss Luzia Bürgi. «Sie suchen sich in der Regel jemanden aus, den sie mögen. Etwa ab 6 oder 7 Jahren beginnen sie, strategischer zu wählen.»

Ein Beispiel: Die sechsjährige Sara wählt für die Stafette nicht ihre vierjährige Freundin Fabia, sondern Lia, weil diese schneller rennen kann. Fabia beginnt zu weinen, weil sie glaubt, dass Sara nicht mehr ihre Freundin sein möchte. «In einem solchen Fall muss die Lehrperson Fabia aufzeigen, dass Sara sie immer noch mag und sich wegen Lias Schnelligkeit für sie entschieden hat», sagt Luzia Bürgi. Für Fabia gehöre es auch dazu, zu lernen, dass sie etwas – schnell rennen – nicht oder noch nicht so gut kann.

Reichlich Möglichkeiten vorhanden

Die Möglichkeit, Partnerinnen oder Partner zu wählen, sind im Chindsgi auch neben dem Sport­unterricht reichlich vorhanden: bei Kreisspielen, Zweier- oder Gruppenarbeiten, beim Freispiel, in der Pause oder bei der Zweierreihe. Wann die Kinder aussuchen dürfen und wann die Lehrperson selbst einteilt, hängt von Letzterer ab, wie Sara Stutz sagt.

Wie vielfältig die Optionen sind, zeigt das Beispiel Zweierreihe: In manchen Kindergärten teilt die Lehrerin im August ein und lässt die Klasse das ganze Schuljahr über in derselben Konstellation laufen. Andere Lehrpersonen setzen die Zweierreihe jedes Mal neu zusammen oder lassen die Kinder ihr Gspänli immer aussuchen. Wiederum andere weisen anfangs zu und lassen den Kindern später oder situativ die Wahl.

Kinder sollten möglichst vielfältige Erfahrungen mit unterschiedlichen Menschen sammeln können.

Claudia Roebers, Entwicklungspsychologin

Für Sara Stutz hängt es vom Ziel ab, ob sie einteilt oder die Kinder wählen lässt. Ist das Ziel ein inhaltliches, beispielsweise eine Aufgabe zu lösen, setzt sie die Teams selbst zusammen: «So kann ich entweder den Stärkeren eine schwierigere Aufgabe stellen oder ich durchmische die Gruppen leistungsmässig bewusst.» Ist das Ziel ein soziales, also dass die Kinder üben, zusammenzuarbeiten, dann lässt sie diese die Gruppen auch mal selbst bilden. In einem solchen Fall braucht es Zeit für die Teambildung – und das Auffangen der Emotionen.

Gewohnheiten durchbrechen

Für Luzia Bürgi ist das sogenannte kooperative Lernen eine gute Methode, um Gruppen zu bilden. Dabei wählen die Kinder in einem ersten Schritt ihre Partnerinnen und Partner. «Das ist ein längerer Prozess, bei dem die Klasse auch darüber spricht, was faire Teams sind.» Stehen diese fest, arbeiten sie über Wochen oder gar Monate immer wieder in dieser Konstellation zusammen. So lernen sie sich sowie die Stärken und Schwächen der anderen besser kennen. Der Vorteil: Sind die Teams erst einmal fix, spart man Zeit, weil die Kinder genau wissen, mit wem sie die Aufgaben lösen werden.

In der Freispielzeit heisst es in den meisten Chindsgis: freie Wahl. Doch auch hier kann es sinnvoll sein, dass die Lehrperson zwischendurch zuweist oder den Zufall entscheiden lässt, wer wo mit wem spielt. Denn: «Kinder sollten möglichst vielfältige Erfahrungen mit unterschiedlichen Menschen sammeln können», ist Claudia Roebers überzeugt. Und Sara Stutz sagt: «Sie sind Gewohnheitstiere, genau wie wir Erwachsenen. Es darf durchaus sein, dass sie ab und zu etwas anderes mit jemand anderem spielen müssen. So können sie auch andere Kinder besser kennenlernen.»

Was tun bei Ausschluss?

Ganz frei ist das Spielen in der Pause – und dabei wählen die Kinder natürlich, mit wem sie dies tun. Mitunter bedeutet diese Wahl auch Ausschluss. Das gilt auch im Privaten. Sollten Lehrpersonen oder Eltern in diesem Fall eingreifen? Für Sara Stutz ist klar: «Grundsätzlich dürfen alle Kinder mitspielen und es gibt keine Chefs, die sagen: Du darfst nicht auf den Kletterturm. Dennoch muss es möglich sein, mitzuteilen: Nein, jetzt möchte ich nicht mit dir in der Familienecke spielen, sondern lieber mit den anderen in der Bauecke.»

Wird jemand ausgeschlossen oder abgewiesen, empfehlen die Fachpersonen, erst einmal zu beobachten, worum sich der Konflikt dreht. Wiederholt sich der Ausschluss über längere Zeit, ist gezieltes Eingreifen allerdings essenziell. «Das sollte die Lehrperson mit der Klasse thematisieren», sagt Luzia Bürgi. Findet ein Kind keinen Anschluss, kennt sie einen simplen Trick: «Ich beginne selbst, etwas mit ihm zu spielen. Meistens kommen dann schnell andere Kinder hinzu, wonach ich mich wieder aus dem Spiel zurückziehen kann.»

Für Eltern schmerzhaft ist, wenn der Sohn oder die Tochter ausgeschlossen wird oder zu denjenigen gehört, die bei Wahlen übrig bleiben. Was können sie tun, wenn das Kind zu Hause davon berichtet? Zuhören und Verständnis für seine Gefühle zeigen. «In einem ersten Schritt können Eltern fragen, weshalb es denkt, dass es nicht gewählt wird, was das andere Kind wohl überlegt hat und was es selbst tun würde, wenn es an dessen Stelle wäre», meint Luzia Bürgi.

Wichtig sei zudem, dem Kind zu zeigen, dass es nicht hilflos ist. Es kann sich zum Beispiel selbst melden, wenn es um das Wählen geht, oder der Lehrperson sagen, wie es sich in solchen Situationen fühlt. Kindern, denen es schwerfällt, auf andere zuzugehen und sich einzubringen, hilft es, wenn sie im privaten, überschaubaren Rahmen mit anderen Spielerfahrung sammeln können.

Keine fachliche Kritik

Erzählt das Kind vermehrt von solchen Situationen und leidet es offensichtlich darunter, sollten Eltern hellhörig werden. «Dann sollte man unbedingt und schnell mit der Lehrperson das Gespräch suchen», sagt Claudia Roebers. Luzia Bürgi betont, dass Eltern der Lehrperson keine Vorwürfe machen sollten, sondern einfach schildern, was die Situation beim Kind auslöst und wie sie diese wahrnehmen.

So weit, so klar – in der Theorie. Doch nicht alle Chindsgi-Lehrpersonen wenden die neuen Methoden an oder fangen die kindlichen Emotionen auf – wie der anfangs beschriebene Freundetag zeigt. Dürfen Eltern die Lehrperson für ihre Methoden oder ihr Verhalten kritisieren? Das hat sich Marta da Silva lange überlegt. Schliesslich hat sie sich dagegen entschieden – auch weil sie nicht wusste, wie sie eine solche Kritik anbringen sollte und ob diese auf ihre Tochter zurückfallen würde.

Ich stelle immer wieder fest, wie falsch man Situationen einschätzen kann, wenn man den Kontext nicht kennt.

Luzia Bürgi, Pädagogin

Luzia Bürgi findet diese Entscheidung richtig. «Als Elternteil steht es mir nicht zu, fachliche Kritik an­zubringen, wenn ich nicht dazu aufgefordert werde», meint sie. «Ich mache seit 30 Jahren Unterrichts­besuche und stelle immer wieder fest, wie falsch man Situationen einschätzen kann, wenn man den Kontext nicht kennt.»

Mischten sich Eltern ein, störe dies meist die Beziehung zwischen Familie und Lehrperson. Vielmehr plädiert Luzia Bürgi dafür, das eigene Kind zu stärken, ihm Strategien mitzugeben, wie es mit Gefühlen umgehen und sich mitteilen kann. Denn: «Es wird auch später immer wieder mit Menschen zu tun haben, von denen es gewollt oder ungewollt enttäuscht oder verletzt wird.»