Eine Liebeserklärung an alle Frau Brauns dieser Welt
Frau Braun war klein und rund. Ihre Haare waren grau und zu einem kleinen Dutt gebunden. Frau Braun hatte keine Kinder. Ich weiss nicht einmal mehr, ob sie in einer Partnerschaft lebte.
In meiner Erinnerung hat sie etwas Nonnenhaftes, auf jeden Fall umgab sie eine Aura der Heiligen. Ich liebte sie heiss und innig. Sie war die Geduld in Person. Nie hat sie aufgeseufzt, weil ich mal wieder auf dem Weg getrödelt oder Heimweh nach meiner Mutter hatte.
Frau Braun kochte gern. In regelmässigen Abständen durften wir Kinder im Kindergarten mittagessen. Es gab jeweils viele Transfette in Form von Fischstäbchen, nicht wenig Zucker in Form von Schokoladenpudding und Mayonnaise. Gurken gabs nur als Verzierung. Das erklärt zumindest teilweise, warum wir Frau Braun so ergeben waren. War man danach müde, durfte man sich kurz hinlegen, auf die jeansblauen, weichen Mätteli, die so gar nicht nach Kreide, Linoleum und Putzmittel rochen.
Als ich meinen Jüngsten begleitete, verspürte ich manchmal den Wunsch, mich kurz in dieser lauschigen Ecke hinzulegen.
Auch im Kindergarten meiner Söhne gibt es solche Mätteli. Sie sind grün, rosa und gelb, mit Kissen und Plüschtieren ausgestattet, darüber ein Baldachin. Als ich meinen Jüngsten dorthin begleitete, verspürte ich an manchen Tagen den Wunsch, mich kurz hinzulegen, dort in dieser lauschigen Ecke.
Ich stellte mir dann vor, wie ich so daliege, wie die DaZ-Lehrerin, die eben noch mit den Kindern einen Stofftierpinguin genäht hatte, sich zu mir setzt und mir eine Geschichte erzählt, die nur sie kennt. Ach, wie gemütlich! So schön ist es im Chindsgi meiner Söhne. Und dann ist da Frau Braun. Sie heisst natürlich anders, ist jünger, schöner und weltlicher, als es meine Kindergärtnerin jemals war. Aber auch Frau Braun 2.0 ist die Sanftmut in Person.
Meine Kinder waren im ersten Kindergartenjahr oft müde, ab Donnerstag nudelfertig und nicht immer bestens gelaunt. Sie sah darüber hinweg. Einer meiner Buben wollte im Kreis nicht mitsingen; sie störte das nicht. Sie registrierte vielmehr, dass der Junge – tatsächlich! – gerne aufräumt und zeichnet. So wurde mein Sohn zum Aufräumchef berufen – was er natürlich prima fand, denn so konnte er die anderen Kinder anleiten, was es zu versorgen gab.
Gefühlte 5000 Polizeibilder, Fahrzeugbilder und Hundebilder hat Frau Braun 2.0 wohl für meine Söhne ausgedruckt. Sie turnt, geht mit den Kindern in den Wald, bastelt Blätterkronen, backt an Weihnachten Guetsli und erfand den Hot Hamburger – ein kulinarischer Hybrid aus Hamburger und Hotdog, mit Augen aus Würstchenrädern und Pupillen aus Schokolade.
An Tagen, an denen ein Termin den nächsten jagt und ich mir schon mittags wünsche, der Abend möge bald kommen, beame ich mich gedanklich in die Sandsteinhöhle, auf den Pferdewagen oder ins Motorboot, Stationen der Kindergartenreisen von Frau Braun 2.0. Ich glaube, im Universum meiner Kinder kommt sie direkt nach Globi, Yoda und Urmel.
Neulich sagte mein Jüngster: «Mama, meine Plüschtiere haben mich am liebsten, dann dich und dann den Papa.» Ich bin sicher, Frau Braun 2.0 kommt an vierter Stelle. Hat sie Geburtstag, malt er ihr ein Bild. Eine Karte aus den Ferien muss sein, gerne aus Paris, ihrer Lieblingsstadt. Der am Waldrand entdeckte Stein geht an sie.
Die Frau Brauns geben das Gefühl, bedingungslos angenommen und geliebt zu werden.
Was ich gut verstehen kann. Sie nimmt die Kinder so, wie sie sind. Sieht sie als wunderbare und vollständige Wesen, die sie mit vier Jahren schon sind. Das Gefühl, bedingungslos angenommen und geliebt zu werden, es wird bei allen Frau Brauns dieser Welt mitgenährt.
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