12 Fragen zu Autismus
1. Was sind die Ursachen von Autismus?
Autismus-Spektrum-Störungen sind zur Hauptsache erblich bedingt. Bisher identifiziert wurden über 150 Gene, die in unterschiedlicher Konstellation zusammenwirken. Dieses Zusammenspiel ist so komplex, dass die Forschung es noch nicht gänzlich erfasst hat.
Wo ein autistisches Kind ist, muss aber nicht zwingend ein autistischer Elternteil sein. Es kommt jedoch oft vor, dass wir bei einem Elternteil oder nahen Verwandten sogenannte autistische Züge finden: Auffälligkeiten, was soziale Kommunikation, die Interaktion mit Menschen oder wenig flexible Verhaltensmuster betrifft – die aber nicht so zahlreich und in milderer Ausprägung auftreten, sodass sie die Teilnahme der Person an Gesellschaft und sozialem Alltag nicht beeinträchtigen.
Umwelteinflüsse betreffen vor allem Risikofaktoren während der Schwangerschaft wie Virusinfektionen der Mutter oder die Einnahme bestimmter Medikamente. Nachweislich falsch sind Annahmen, Autismus gehe auf eine gefühlskalte Erziehung oder Impfstoffe zurück.
Matthias Dose, Autismus-Experte, Diagnostiker und Psychiater in München, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von «Autismus Deutschland»
2. Warum werden mehr Buben als Mädchen diagnostiziert?
Weil Letztere oft weniger auffallen. Mädchen und Frauen sind, vermutlich durch entsprechende Prägung, oft sozial kompetenter als Buben und Männer – das ist bei Autistinnen und Autisten nicht anders. Autistische Mädchen können Verhaltensweisen, die als sozial erwünscht gelten, oft besser identifizieren und imitieren. Vermutlich spielt auch eine Rolle, dass Merkmale wie extreme Schüchternheit oder Zurückgezogenheit, die mit Autismus in Verbindung stehen können, eher als weiblich angesehen werden, während man ebensolche Buben womöglich als sonderbar wahrnehmen würde.
Christine Preissmann, Asperger-Autistin, Ärztin und Therapeutin mit Arbeitsschwerpunkt Autismus-Spektrum-Störungen, Rossdorf (D)
3. Wie häufig sind Autismus-Spektrum-Störungen?
Die Wissenschaft geht davon aus, dass 1 Prozent der Bevölkerung von einer autistischen Störung betroffen ist. Unsere Fachstelle präferiert dabei einen dimensionalen Krankheitsbegriff, statt in Schubladen von autistisch oder nicht autistisch zu unterteilen: Die Störungsdiagnose erhält zwar nur, wer im Hinblick auf autistische Merkmale auffälliger ist als 99 Prozent der Restbevölkerung. Natürlich werden aber auch diejenigen im Zwei- oder Dreiprozentbereich autistische Züge haben – ohne dass die Autismus-Diagnose gestellt wird –, die aber in ihrer Gesamtheit weniger einschränkend sind und deshalb nicht ganz so umfangreiche Massnahmen erfordern.
Bei den Zahlen im Kinder- und Jugendbereich muss man aktiv bremsen, sonst wirds inflationär.
Andreas Riedel, Psychiater
Wir ermöglichen solchen Menschen Therapien, die nicht nur, aber auch Autismus-typische Themen beinhalten. Damit Forschung eine Wirkung erzielt, darf die Diagnose nicht beliebig werden. Wir sollten an dem einen Prozent festhalten – das wir bei den Erwachsenen hierzulande übrigens noch lange nicht diagnostiziert haben. Bei den Zahlen im Kinder- und Jugendbereich hingegen muss man aktiv bremsen, sonst wirds inflationär.
Andreas Riedel, Psychiater und leitender Arzt der Fachstelle für Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter an der Luzerner Psychiatrie
4. In welchem Alter macht sich eine Autismus-Spektrum-Störung bemerkbar?
Sie beginnt per Definition immer in der früheren Kindheit. Es kann aber sein, dass sie sich erst später vollständig manifestiert, also typische Auffälligkeiten länger nicht als solche anerkannt werden. Sei es, weil sie in gewisser Ausprägung auch bei den Eltern auftreten und diese Abläufe pflegen, die einem autistischen Kind entgegenkommen. Oder einfach, weil Familien sehr tragfähig sind, Eltern eine hohe Toleranz für die Eigenarten ihres Kindes und ein Gespür dafür entwickelt haben, was dieses an Struktur oder zum Ausgleich braucht. Sie merken, dass ihr Kind die Welt anders wahrnimmt, ohne es näher zu benennen.
Wenn dann, etwa auf dem Land, noch eine überschaubare und familiäre Schule das Kind mitträgt, sehen wir diese Betroffenen spät: meist erst dann, wenn soziale Anforderungen ihre beschränkten Fähigkeiten und das Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit übersteigen, etwa in höheren Schulstufen, in der Berufslehre oder im Studium. Das gilt auch für Kinder, die man nicht auf dem Radar hatte, weil sie in der Schule sehr schüchtern und still waren.
Charlotte Gwerder, Kinder- und Jugendpsychologin, Leiterin der Fachstelle für Autismus an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel
5. Wie wird Autismus diagnostiziert?
Autismus ist eine klinische Diagnose. Das bedeutet: Es gibt keinen medizinischen Test, der eine autistische Störung zu 100 Prozent ausschliessen oder bestätigen könnte. Autismus-Diagnostik ist umfangreich und muss differenziert erfolgen. Es geht unter anderem darum, einen vertieften Eindruck von der bisherigen Entwicklung des Kindes zu gewinnen. Hierzu werden Eltern und weitere Bezugs- sowie Fachpersonen nach standardisierten Leitfäden befragt – zu Meilensteinen, Verhaltensweisen im Kleinkindalter und so weiter. Solche Interviews dauern bis zu drei Stunden.
Bis zu 80 Prozent der Betroffenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung haben noch weitere Diagnosen.
Charlotte Gwerder, Kinder- und Jugendpsychologin
Dazu kommen Verhaltensbeobachtungen unter Autismus-spezifischen Gesichtspunkten. Bei jüngeren Kindern findet dies spielerisch, bei Jugendlichen mehrheitlich im Gespräch statt. Spezielle Testinstrumente ermöglichen es, unterschiedliche soziale Gegebenheiten zu schaffen, in denen sich autistische Verhaltensweisen besonders gut erkennen oder eher ausschliessen lassen. Zum Schluss fliessen klinische Beobachtungen, Interview- und Testauswertungen sowie die Schilderungen des Kindes und seiner Bezugspersonen in die Auswertung mit ein.
Matthias Huber, Psychologe, langjähriger Diagnostiker an der Uniklinik UPD in Bern und heute Experte bei der Beratungsstelle der Stiftung Kind & Autismus
6. Sind Kinder mit Autismus auch für andere Störungen anfälliger?
Eindeutig. Bis zu 80 Prozent der Betroffenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung haben noch weitere Diagnosen. Im Kindes- und Jugendalter sind ADHS und ADS mit 60 Prozent die häufigsten Begleitstörungen, bei deren Entstehung ähnliche Genkonstellationen eine Rolle spielen.
Überlappende Gen-Cluster bestehen ausserdem im Zusammenhang mit der Anfälligkeit für Zwangs-, Angst- oder depressive Störungen – für Letztere sind autistische Kinder vermutlich auch deshalb stärker gefährdet, weil sie unter einem hohen Anpassungsdruck stehen und viel öfter die Erfahrung machen, nicht zu genügen. Ständiger Druck und Überforderung im sozialen Bereich können ausserdem zu sozialen Angststörungen führen.
Charlotte Gwerder
7. Was ist im Hinblick auf Autismus mit «Maskieren» gemeint?
Beim «Maskieren» geht es um Strategien, die sich autistische Personen aneignen, um soziale Schwierigkeiten zu kompensieren. Während nicht autistische Kinder soziale Signale intuitiv erlernen und anwenden, ist ein autistisches dazu nicht in der Lage. So kriegt es von Bezugspersonen früh zu hören, dass es ihnen beim Sprechen in die Augen schauen soll. Man wird ihm sagen, dass zur Begrüssung ein Lächeln gehört, Gleichaltrige werden es auffordern, «normal» zu sprechen. Dem Kind wird deutlich gemacht, wie sozial akzeptiertes Verhalten aussieht, und es versucht im Rahmen seiner Möglichkeiten, solche Regeln zu verinnerlichen.
Wenn Kleinkinder einen sehr hohen Medienkonsum haben, führt dieser mitunter zu Auffälligkeiten, die auch für Autismus-Spektrum-Störungen typisch oder diesen ähnlich sein können.
Charlotte Gwerder, Kinder- und Jugendpsychologin
Bei vielen Autisten wirkt das Resultat so, wie es nun mal ist: erlernt und wenig natürlich. Manche entwickeln mit der Zeit ausgefeilte Kompensationsstrategien. Da sind auf den ersten Blick objektive Kriterien für Blickkontakt, Gestik oder Stimmführung erfüllt – auf den zweiten merke zumindest ich als Diagnostiker, dass das soziale Finetuning fehlt: Das Lächeln wirkt stereotyp, der Blickkontakt hat wenig Variation, die Gestik ist nicht an mich gerichtet, sondern geht ins Leere, um einige Beispiele zu machen.
Andreas Riedel
8. Was ist unter Pseudo-Autismus zu verstehen?
Wenn Kleinkinder einen sehr hohen Medienkonsum haben, führt dieser mitunter zu Auffälligkeiten, die auch für Autismus-Spektrum-Störungen typisch oder diesen ähnlich sein können. Zum Beispiel kann es zu sogenannten Echolalien kommen: Die Kinder sprechen Wörter und Sätze, die andere Personen – im besagten Fall typischerweise aus dem Fernsehen – von sich geben, wiederholt und fast mechanisch nach. Oft bevorzugen sie Englisch, das sie aus den Medien kennen, bevor sie die eigene Muttersprache lernen.
Sie sind nicht nur sprachlich verzögert, sondern auch in ihrer sozialen und emotionalen Entwicklung. Sie wirken autistisch, sind es aber nicht: Es fehlt ihnen an sozialer Interaktion, Bindungssicherheit und damit verbundenen Lernanregungen. Die Erfahrung zeigt aber, dass sie ihr Entwicklungsdefizit wettmachen können, wenn ihr Medienkonsum zurückgefahren und Eltern entsprechend beraten werden.
Charlotte Gwerder
9. Wer ist mit «hochfunktionalen» Autisten gemeint?
Der Begriff bezeichnet Autistinnen und Autisten, die nicht von Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten oder der funktionalen Sprache betroffen sind. Sie haben demnach eine durchschnittliche oder überdurchschnittliche Intelligenz und sind der verbalen Sprache mächtig.
Matthias Huber
10. Im Internet kursiert eine neue Diagnose: Pathological Demand Avoidance (PDA) bezieht sich auf die Verweigerung alltäglicher Anforderungen und steht als weitere Form von Autismus zur Debatte. Was hat es damit auf sich?
PDA beschreibt ein Verhaltensprofil von Kindern oder auch Erwachsenen, die auf Alltagserfordernisse mit Aversion reagieren. Um es aber klarzustellen: PDA ist weder eine wissenschaftlich anerkannte Diagnose noch ein Subtyp von Autismus – es sind vor allem Eltern, die das so einfordern. PDA wird auch in naher Zukunft keine offizielle Diagnose sein, weil es dazu keine Forschung gibt. Wir haben Tausende von Studien zu Autismus-Spektrum-Störungen – und international elf Arbeiten zum Thema PDA, die als qualitativ schlecht gelten.
Inge Kamp-Becker, Autismus-Forscherin, Diagnostikerin und Professorin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg
Die drei Formen von Autismus
Frühkindlicher Autismus gilt als schwerste Form autistischer Störungen. Betroffene Kinder zeigen ab dem ersten Lebensjahr Einschränkungen in sozialer Kommunikation: Ihre Sprachentwicklung bleibt aus, ist verzögert oder nur bruchstückhaft vorhanden. Auch in der sozialen Interaktion machen sich früh Auffälligkeiten bemerkbar: Blickkontakt, Mimik und Gestik sind reduziert oder werden nicht dazu genutzt, um mit Personen in Beziehung zu treten. Einige Betroffene holen Sprachrückstände auf, andere sprechen noch im Erwachsenenalter nicht. Zum Störungsbild gehören ausserdem repetitive und stereotype Verhaltensmuster – viele Kinder fallen beispielsweise durch ständiges Wippen mit dem Oberkörper oder Flattern der Hände auf. Typisch ist zudem ein fast zwanghaftes Festhalten an Gewohnheiten. Frühkindlicher Autismus geht häufig mit einer kognitiven Beeinträchtigung einher und wird vor dem dritten Lebensjahr diagnostiziert.
Auch beim Asperger-Syndrom liegen Einschränkungen in sozialer Kommunikation und sozialer Interaktion sowie repetitive, stereotype Verhaltensmuster vor. Jedoch verläuft die sprachliche und kognitive Entwicklung der Betroffenen in den ersten drei Lebensjahren meist unauffällig. Schwierigkeiten äussern sich, wenn sie mehr Zeit mit Gleichaltrigen verbringen, etwa in Kitas oder Kindergarten. Dort zeigen Kinder mit Asperger-Syndrom oft wenig Interesse an anderen Kindern und haben Mühe, mit diesen in Kontakt zu kommen. Bei gemeinsamen Aktivitäten wirken sie unbeteiligt, in sich gekehrt oder sie ecken an, weil sie nicht auf andere eingehen und auf ihren eigenen Regeln beharren – oder impulsiv reagieren, wenn diese jemand infrage stellt. In der Kommunikation mit ihnen kommt es oft zu Missverständnissen: Nebst dem wörtlichen Sprachverständnis, das für viele typisch ist, haben manche eine monotone oder pedantische Sprechart. Auch Kinder mit Asperger-Syndrom haben Mühe, von Gewohnheiten abzuweichen, und manche von ihnen verfügen über ausgeprägte Sonderinteressen, die für ihr Alter und ihren sozialen Kontext untypisch sind.
Atypischer Autismus wird in der Praxis unterschiedlich gedeutet: Während manche Fachpersonen den Begriff so auslegen, dass nicht in allen drei Referenzbereichen – soziale Kommunikation, soziale Interaktion sowie repetitive, stereotype Verhaltensmuster – Auffälligkeiten vorliegen oder diese erst später auftreten, assoziieren andere ihn mit besonders schweren Intelligenzbeeinträchtigungen.
11. Kann eine Autismus-Spektrum-Störung sich auswachsen?
Durchaus. Es gibt Betroffene, bei denen sich die Symptomatik im Lauf ihres Lebens durch Lernerfahrungen und erfolgreiche Behandlung so stark reduziert, dass sie praktisch nicht mehr nachweisbar ist. Das ist allerdings die Minderheit.
Generell ist der Störungsverlauf sehr individuell, und so unterschiedlich sind auch die Prognosen. Diese sind deutlich schlechter, wenn ein Kind nicht sprechen lernt und dazu noch eine kognitive Beeinträchtigung vorliegt. Tatsache ist aber auch, dass heute viel mehr selbst stark betroffene autistische Kinder sprechen lernen als noch vor 20 Jahren, weil es uns durch gezielte und evidenzbasierte Frühinterventionen besser gelingt, die Vorläuferfunktionen von Sprache – etwa Blickkontakt, das Herstellen gemeinsamer Aufmerksamkeit, die Fähigkeit zur Imitation – ganz gezielt zu fördern.
Inge Kamp-Becker
Autisten sind durchaus zu Mitgefühl fähig – aber man muss Klartext sprechen, damit sie wissen, was Sache ist.
12. Welche Autismus-Mythen gehören dringend aus der Welt geschafft?
Da sind so einige. Etwa die Behauptung, Autisten seien zu Mitgefühl nicht fähig. Das sind sie durchaus – aber man muss Klartext sprechen, damit sie wissen, was Sache ist. Ich erinnere mich, als vor ein paar Jahren eine Arbeitskollegin sagte, sie gehe demnächst in die Luft. Ich fragte sie nach ihren Reiseplänen, worauf sie entgegnete, dass sie nicht in den Urlaub fahre, sondern wütend sei – erst da verstand ich und konnte nachhaken.
Sicher: Ich bin weniger mitfühlend als andere. Aber es stimmt nicht, dass mich die Gefühlswelt des Gegenübers nicht interessiert – sie muss mir bloss deutlicher zum Ausdruck gebracht werden. Was grundlegend falsch ist: die Annahme, dass sich Menschen mit Autismus keine sozialen Kontakte, Freunde oder Partnerinnen wünschen. Die allermeisten, die ich kennengelernt habe, wünschen sich solche Beziehungen – scheitern aber leider oft daran, sie zu knüpfen oder aufrechtzuerhalten.
Christine Preissmann