Wie Depressionen bei Kindern entstehen
Wenn Kinder andere Kinder in der Schule plagen, geschieht das meist in Form von körperlichen Angriffen oder Beleidigungen. Etwa zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die solche Verhaltensweisen erleben, werden Studien zufolge anhaltend oder chronisch von Gleichaltrigen viktimisiert, sprich «zum Opfer gemacht» und somit geschädigt.
Diese Kinder zeigen häufiger Symptome einer Depression als Kinder, die in Ruhe gelassen werden. Sie sind beispielsweise oft traurig oder haben eine negative Einstellung zur Zukunft. Im Rahmen unserer Forschung haben meine Kolleginnen und Kollegen und ich herausgefunden, welche Auswirkungen die unmittelbare körperliche Reaktion auf den Stress eines negativen Erlebnisses haben kann. Unsere Ergebnisse können dabei helfen, die biologischen Verbindungen zwischen negativen Erlebnissen mit Gleichaltrigen und der Entwicklung und der Dauer von Depressionen zu erklären.
Gewalt löst Stress aus
Ein grosses Problem für viele Kinder sind Bedrohungen und Schikanen durch Gleichaltrige an ihrer Schule. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass viktimisierte Kinder auch über Depressionen berichten. Weniger klar ist, welche exakten Prozesse diese Verbindung herstellen. Um diese Zusammenhänge besser zu verstehen, haben wir in unserer jüngst veröffentlichten Studie als methodologischen Ansatz die sogenannte Erlebnisstichprobe gewählt, welche die Gefühle der Testpersonen zu einem bestimmten Zeitpunkt erfasst.
Wir haben 100 Schulkinder im Alter zwischen zehn und elf Jahren gebeten, über vier Schultage hinweg fünf Mal am Tag ein kurzes Protokoll zu führen. Zu den Angaben gehörte auch die Frage, wie negativ ihre Erlebnisse mit Gleichaltrigen zum jeweiligen Zeitpunkt waren. Zu denselben Zeiten gaben sie uns Speichelproben ab, damit wir den Cortisolspiegel messen konnten. Das Hormon Cortisol spielt eine Rolle bei der Flucht-oder-Angriff-Reaktion unseres Körpers auf Stress.
Wie schwer ist die Depression?
Zusätzlich gaben die Kinder auch an, ob sie sich von Gleichaltrigen geplagt fühlten, und beantworteten Fragen, welche den Grad ihrer Depressionen messen sollten. Wir verwendeten die Daten, um die einzelnen Faktoren im Zusammenhang zwischen Viktimisierung durch Gleichaltrige und Depressionen zu entwirren – und zwar über das Ausmass der unmittelbaren Stressreaktion der Kinder hinaus.
Bei den meisten Kindern in dieser Studie stand eine stärkere Viktimisierung durch Gleichaltrige in Zusammenhang mit einem höheren Cortisol-Wert. Das weist darauf hin, dass sich die Kinder durch die Schikanen ihrer Mitschüler gestresst fühlten.
Kinder, die ständig zum Opfer gemacht werden, berichten häufiger über depressive Symptome.
Bei den zehn Prozent der Kinder, die nach eigenen Angaben häufig oder ständig von Gleichaltrigen zum Opfer gemacht wurden, ging die Cortisol-Reaktion auf negative Erlebnisse allerdings zurück. Eine solche Unterreaktion lässt sich auch bei misshandelten Tieren oder bei Opfern häuslicher Gewalt beobachten. Das zeigt, dass sich die Reaktion bei sich ständig wiederholendem akutem Stress anpasst. Der gleiche Effekt zeigt sich bei anhaltend depressiven Personen.
Kinder reagieren verschieden
Entsprechend zeigen Kinder, die ständig zum Opfer gemacht werden, häufiger eine gedämpfte unmittelbare physiologische Reaktion auf negative Erlebnisse und sie berichten auch häufiger über depressive Symptome.
Die Resultate weisen auf zwei Erkenntnisse hin: Menschen unterscheiden sich in ihrer unmittelbaren Reaktion auf negative Erlebnisse und – viel wichtiger noch – diese Unterschiede können dazu beitragen, die Zusammenhänge zwischen negativen sozialen Erlebnissen (wie Viktimisierung) und psychischer Gesundheit (die sich in Symptomen einer Depression zeigen) zu erklären.
Es besteht ein Zusammenhang zwischen den Schikanen durch Mitschülerinnen in der Kindheit und dem Grad der Depression. Die Nachwirkungen können manchmal bis ins Erwachsenenalter reichen. Unsere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Interventionen gegen Mobbing an Schulen das Stressempfinden der Schüler zum Zeitpunkt des negativen Erlebnisses berücksichtigen müssen.
Viele der heutigen Interventionen zielen darauf ab, soziale Fähigkeiten zu entwickeln. Diese sind zwar sehr wichtig, scheinen aber nur einen Teil der Gleichung auszumachen. Unsere Studie liefert Hinweise darauf, dass die einschneidenden Auswirkungen von negativen Erlebnissen mit Gleichaltrigen möglicherweise auf physiologische Stressreaktionen zurückgeführt werden können.
Indem wir Schülern und Schülerinnen helfen, ihre Reaktion auf negative Erlebnisse durch Mitschüler und Mitschülerinnen in dem Moment zu verarbeiten, in dem sie sich ereignen, können letztlich die Symptome von Depressionen über das ganze Leben vermindert werden.
BOLD
Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.