Was brauche ich, wenn mein Kind mich nicht mehr braucht?
Es ist Donnerstagnachmittag, ich sitze am Esstisch und trinke Kaffee. Meine 7-jährige Tochter ist beim Turnen und meine beiden Jungs, 11 und 14 Jahre alt, sind nach der Schule in ihren Zimmern verschwunden und seitdem nicht wieder herausgekommen. Ich könnte jetzt lesen, eine Freundin anrufen, die Fenster putzen, an den Schreibtisch sitzen, eine Runde joggen gehen – stattdessen starre ich in die Luft und vermisse meine Kinder.
Die beiden Kinder, die ein Stockwerk über mir sitzen. Ob es ihnen gut geht? Habe ich was übersehen, als sie aus der Schule kamen? Fühlen sie sich gar vernachlässigt? Sollte ich nicht besser mal nachfragen?
Ich lasse den Kaffee stehen und klopfe an Kinderzimmertür 1. Der Sohn sitzt am Schreibtisch, gamt und unterhält sich dabei fröhlich mit seinen Freunden. «Mama, was ist?» – «Ich wollte nur sehen, ob du was brauchst.» – «Hä, nee, ich komm dann schon runter, wenn was ist.» Schiebt sich den Kopfhörer wieder übers Ohr und redet weiter mit seinen Kollegen. Das Zeichen, dass ich hier wohl nicht gebraucht werde.
Ich klopfe an die andere Kinderzimmertür. Das Kind sitzt auf dem Bett und hört Rap-Musik. «Mama, was ist?» – «Alles in Ordnung bei dir?» – «Ja klar, was soll sein?» – «Du bist so still in dein Zimmer verschwunden. Willst du Schach spielen?» – «Nein, gerade nicht, Mama.» Sagt er höflich, aber bestimmt, und das Gespräch ist beendet.
Ein seltsamer Widerspruch
Ist das nicht paradox? Da habe ich all die Zeit, von der ich früher geträumt habe, und anstatt in Ruhe meinen Kaffee in noch warmem Zustand zu trinken, frage ich meinen Sohn, ob er mit mir spielen will.
Als Mutter von drei Kindern war ich es gewohnt, nachmittags immer etwas zu tun zu haben, mich kümmern zu müssen. Irgendjemand wollte immer etwas von mir, musste irgendwohin gebracht werden. Da waren Wörtchen zu lernen, Bilderbücher anzuschauen oder ich musste Streithähne daran hindern, sich mit der Blockflöte eins überzuziehen.
Das mit dem Loslassen ist leichter gesagt als getan. Es ist eine seltsame Zeit der ambivalenten Gefühle.
Wenn es ganz strub kam, musste ich Krämerladen spielen und den ganzen Nachmittag lang nach Eiern und Mehl fragen. Das waren die Nachmittage, die sich hinzogen wie Kaugummi. Diese Rollenspiele vermisse ich am wenigsten, dicht gefolgt von der ständigen Begleitung beim Toilettengang. Wie oft habe ich mir gewünscht, einfach mal nichts machen zu müssen!
Das Abnabeln beginnt schon früh
Ich weiss nicht, wo die Zeit geblieben ist, aber auf einmal scheine ich nicht mehr gebraucht zu werden. Das schmerzt. So sehr, dass dieses Gefühl die Freude über die alte, neue Freiheit überdeckt. Denn der Schmerz konfrontiert mich gleichzeitig mit der Frage: Was brauche ich, wenn ich nicht mehr gebraucht werde?
Dass die Kinder eines Tages gross sind, war mir klar. Dass sie dann keine Lust mehr haben, an unseren Familienausflügen teilzunehmen, oder lieber mit ihren Freunden in die Ferien fahren, ebenso. Man ist drauf eingestellt, dass irgendwann die Pubertät kommt und dann das grosse Abnabeln beginnt.

Aber was einem selten gesagt wird: Das Abnabeln beginnt viel früher. Nicht erst mit 15 oder 16 Jahren. Sondern schon mit Beginn der Vorpubertät, mit 9 oder 10 Jahren. Dann, wenn sie doch eigentlich noch klein sind – oder zumindest gar nicht so gross. Wenn man sie vor der Schule auf keinen Fall mit einem Kuss begrüssen soll, aber abends beim Einschlafen der Teddy im Arm nicht fehlen darf.
Loslassen – aber wie?
Dann wird auf einmal der Waldspaziergang am Sonntagnachmittag in Frage gestellt. «Muss ich wirklich mit? Kann ich nicht zu Hause bleiben?» Dabei freut man sich aufs Wochenende, möchte die gemeinsame Zeit geniessen – und dann dieses lange Gesicht des Kindes.
Alles, was nicht gerade Freizeitpark heisst, ist langweilig. Kuchen essen? Öde. Grosseltern besuchen? Öde. Spielplatz? Was für Babys. Schon klar, aber irgendetwas kann man doch wohl noch zusammen unternehmen?! Sie würden lieber ihre Freunde treffen. Oder einfach den Nachmittag im Zimmer abhängen.
Loslösen hat nichts mit Desinteresse zu tun. Was Kinder machen, wie es ihnen geht, sollte Eltern nie gleichgültig sein.
Natürlich will ich meine Kinder zu nichts zwingen. Selbständig sein ist wichtig, dazu gehört auch, mal einen Nachmittag allein zu Hause zu sein. Das Kind kommt ja zurecht, macht keinem Fremden die Tür auf und steckt die Bude schon nicht in Brand. Oder?
Dazu kommt das schlechte Gewissen: Gamt der Sohn vielleicht den ganzen Nachmittag? Oder glotzt heimlich eine Serie, die noch gar nichts für ihn ist? Sollte ich mich also nicht besser kümmern?
Die ersten Schritte in die Freiheit
Das mit dem Loslassen ist leichter gesagt als getan. Es ist eine seltsame Zeit der ambivalenten Gefühle, der inneren Zerrissenheit: Darf ich mich jetzt wirklich um mich selbst kümmern? Wo verläuft die Grenze zwischen Vernachlässigung und gesundem Egoismus?
Ich habe klein angefangen, wie beim Krafttraining das Gewicht immer weiter gesteigert. Einfach mal zum Briefkasten gehen oder noch schnell ein Brot vom Bäcker holen, waren die ersten Schritte in die Freiheit. Und was soll ich sagen? Wie befreiend war es, einfach losgehen zu können und nicht darauf warten zu müssen, dass sich das Kind die Schuhe anzieht und nach der Mütze sucht.
Schwerer waren die nächsten Schritte. Die ersten Male, die ich mich mit einer Freundin auf einen Kaffee um die Ecke traf und ständig verstohlene Blicke aufs Handy warf. War es wirklich nicht auf lautlos gestellt? Nicht, dass ich einen Anruf meines Kindes überhörte. Nach einer Stunde machte ich mich hastig auf den Weg nach Hause, um ein vollkommen zufriedenes Kind mit einer Müeslischüssel und einem Buch vorzufinden: «Wieso kommst du schon so früh, Mama?»
Spätestens, wenn das grosse Kind alleine zum Training radelt und man nicht mehr in stickigen Turnhallen warten muss, bis das Tischtennisspielen zu Ende ist, liegt da auf einmal wieder ein freier Nachmittag vor einem. Ehe man sich versieht, hat man diese Nachmittage auch, wenn die Kinder zu Hause sind. Weil sie sich glücklich und zufrieden selbst beschäftigen und uns nicht mehr zur Animation brauchen. Sollte nicht genau das das Ziel meiner Bemühungen sein: dass meine Kinder eines Tages ohne mich auskommen?
Wir werden nicht überflüssig
Natürlich gibt es Alarmzeichen, wenn es nicht gut läuft. Natürlich gibt es Gründe, sich Sorgen zu machen – und die sollte man ernst nehmen. Doch grundsätzlich ist es doch so: Wenn die Kinder grösser werden, ist es normal, dass sie anfangen, sich zurückzuziehen und sich an anderen zu orientieren, die in ihren Augen cooler sind als Mama und Papa.
Wer sich rechtzeitig ein eigenes Leben zulegt – je früher, desto besser –, fällt nicht so tief ins Empty Nest.
Die gute Nachricht: Wir werden deshalb nicht überflüssig. Unsere Kinder brauchen uns noch. Nur anders. Auf Augenhöhe. Manchmal noch, um Rat zu geben, etwa wie sie mit strengen Lehrpersonen oder nervigen Mitschülern umgehen sollen. Aber auch als Sparringspartner, mit dem sie üben zu diskutieren, zu ihrer Meinung zu stehen, auch mal Frust zu ertragen und mit Kritik klarzukommen. Wir sind die, an denen sie sich reiben dürfen – und auch sollten.
Was wir nie vergessen dürfen: Loslösen hat nichts mit Desinteresse zu tun. Was Kinder machen, wie es ihnen geht, sollte Eltern nie gleichgültig sein, egal, wie alt sie sind. Loslassen in der Pubertät bedeutet, dem Kind mehr Freiräume zu geben, aber dennoch da zu sein, ansprechbar, wenn alle Stricke reissen.
Plötzlich vergehen die Jahre schnell
Und ja, es schmerzt, wenn die gross werdenden Kinder uns zeigen, wie die Zeit vergeht – und uns vor Augen führen, dass gewisse Dinge nicht wiederkommen werden. Mein Sohn ist jetzt 14, in nicht mal vier Jahren volljährig. Wie schnell sind die letzten vier Jahre vergangen – und wie schnell werden die nächsten vier Jahre vergehen! In vier Jahren kann er seinen Führerschein machen, sich selbst in der Schule entschuldigen und könnte sie auch ohne meine Zustimmung einfach abbrechen, wenn er wollte.
Wie kann man das aushalten auf Dauer? Diese vielen kleinen Abschiede? Diese Ablösung, die manchmal schon mit 9 Jahren beginnt, sich spätestens aber mit 12, 13 Jahren noch einmal radikal beschleunigt? Diese Melancholie, die einen überkommt, wenn man die grossen Schuhe im Flur stehen sieht und sich an die tapsigen Kleinkinderfüsse erinnert?
Es gibt keinen Stillstand im Leben, schon gar nicht, wenn man Kinder hat. Wenn unsere Kinder gross werden, ist es unsere Aufgabe, sie ihren Weg gehen zu lassen. Das ist nicht einfach. Doch wer sich rechtzeitig ein eigenes Leben zulegt – je früher, desto besser –, fällt nicht so tief ins Empty Nest. Und lebt seinen Kindern gleichzeitig vor, wie wichtig es ist, sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern.
Wer braucht mich, wenn mein Kind mich nicht mehr braucht? Wen halte ich fest, wenn ich keine Kinderhand mehr zum Festhalten habe? Wie wäre es mit: mich selbst?