Herr Garstick, Sie haben vor über 20 Jahren das erste psychotherapeutische Angebot für Väter in der Schweiz lanciert. Mit welchen Sorgen sind Väter am häufigsten zu Ihnen gekommen?
Die Bandbreite ist sehr gross. In den letzten Jahren ging es jedoch oft um die Frage, wie sich Betreuung und Erziehungsaufgaben zwischen Eltern gleichmässig aufteilen lassen.
Ist das denn so schwierig?
Häufig erlebe ich es gerade bei engagierten Eltern, denen die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau wichtig ist, dass sie sich mit hohen Idealvorstellungen unter Druck setzen. Sie haben das Gefühl, bereits in den ersten Lebensjahren des Kindes alles gleichmässig untereinander aufteilen zu müssen. Was aufgrund der unterschiedlichen Rollen nicht funktioniert: Diejenige, die das Kind in sich getragen oder gestillt hat, wird immer eine besondere Rolle im Leben des Kindes einnehmen. Da kann man sich als Mann noch so sehr anstrengen.
Väter und Mütter haben unterschiedliche Rollen. Generell ist es gut, wenn Kinder von klein auf Papa als eine andere Person erleben.
Eltern stressen sich also, weil sie einem falschen Ideal folgen?
Genau. Und weil sie glauben, «wenn wir uns nur bemühen, klappt das schon». Neulich hat mir eine Grossmutter erzählt: «Mein Sohn ist so traurig, er kümmert sich liebevoll um das Baby, aber das Kind macht einen deutlichen Unterschied zwischen ihm und der Mutter: Sind beide anwesend, will es immer nur zur Mutter.» Gerade solche Väter brauchen den Austausch mit anderen, damit sie erfahren, dass diese Verhaltensweisen von Babys und Kleinkindern völlig normal sind.
Verhalten sich Väter ihren Kindern gegenüber anders als Mütter?
Es gibt Väter, die sich vor allem am Anfang sehr stark daran orientieren, wie die Mutter mit dem Kind umgeht, und sie nachzuahmen versuchen – besonders feinfühlig wickeln zum Beispiel. Und dann gibt es andere, die selbstbewusst ihr Ding machen. Generell ist es gut, wenn Kinder von klein auf Papa als eine andere Person erleben und lernen: «Es gibt mehrere Arten, Zöpfe zu flechten, als nur die von Mama.»
Müttern wird also nach wie vor die Verantwortung für den fürsorglichen und feinfühligen Umgang zugeschrieben, und Väter sind fordernder und zeigen den Kindern die Welt?
In einigen Fachbüchern wird tatsächlich immer noch eine solche Aufgabenverteilung beschrieben, aber ich erlebe schon länger eine andere Realität. Heute gibt es sogar übertrieben vorsichtige Väter und auf der anderen Seite Mütter, die ihre Kinder im mutigen Erkunden der Welt unterstützen.
Wie hat sich die Vorstellung von einem guten Vater in den letzten Jahrzehnten gewandelt?
Wir sind längst weggekommen von der alten klassischen Aufteilung, in der Papa hauptsächlich fürs Ernähren und Geldanschaffen da ist und Mama sich um die Kinder kümmert. Heute wollen Väter sich gleichberechtigt in die Erziehung einbringen und Mütter wollen nach der Geburt in den Beruf zurück. De facto allerdings sind Frauen gestresst, weil wir in der Schweiz nicht so einen Mutterschutz haben wie in Österreich oder Deutschland. Männer wiederum sind unter Druck, weil es als Mann immer noch schwierig ist, sich am Arbeitsplatz zugunsten der Kinderbetreuung freizuschaufeln.
Investieren wir nicht in die frühe Kindheit, haben wir in Zukunft wenig belastbare Erwachsene.
Die Erwartungen an Väter haben sich massiv verändert – die gesellschaftlichen Verhältnisse jedoch nicht. 14 Tage Vaterschaftsurlaub sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein.
Deshalb sind Väter heute ja überlastet! Sie wollen sich ebenso beteiligen an Hausarbeit, Kindererziehung und am Familienleben – und das schon seit mindestens 20 Jahren. Gleichzeitig möchten sie sich auch in ihrem Beruf engagieren. Doch sie erhalten kaum Entlastung. Der heutige moderne Vater muss somit rein quantitativ viel mehr leisten als der Mann vor 30 oder 40 Jahren – was allerdings häufig vergessen geht. Er hat somit weniger Zeit für sich, für die Partnerschaft, droht schneller auszubrennen. An dieser Stelle müssten Sie nun fragen: «Und was ist mit uns Frauen?»
Okay. Und was ist mit uns Frauen?
Diese Frage ist berechtigt, aber sie sollte nicht dazu führen, dass wir gar nicht mehr sagen dürfen, dass es spezifischen väterlichen Stress gibt. Ich finde es dumm, wenn versucht wird, mütterliche und väterliche Interessen gegeneinander auszuspielen. Stattdessen müssen wir eine gemeinsame Emanzipation der Geschlechter hinbekommen. Denn unsere Gesellschaft ist zu fordernd.

Der gefährliche Spagat zwischen den Erwartungen der Arbeitswelt und den familiären Herausforderungen ist schlicht nicht zu schaffen und führt zu einer ständigen Überforderung von Müttern wie Vätern. Stattdessen brauchen sie mehr Zeit in den ersten Lebensjahren ihres Kindes.
Und auch für Kinder ist es zentral, in dieser ersten Zeit stabile Beziehungen zu ihren Eltern entwickeln zu können. Investieren wir nicht in die frühe Kindheit, haben wir in Zukunft wenig belastbare Erwachsene. Ich hoffe wirklich, dass die kürzlich lancierte Familienzeit-Initiative, die eine 18-wöchige Familienzeit pro Elternteil verlangt, etwas in diese Richtung bewegt.
Um bei den Vätern zu bleiben: Sind diese Ihrer Erfahrung nach weniger überlastet, wenn das Kind erst mal in der Schule ist?
Nein, da gehen die Herausforderungen weiter: bei den Hausaufgaben betreuen, das Kind vom Sport abholen, beim ersten Liebeskummer beistehen. Von so profanen Dingen wie einkaufen und Küche aufräumen ganz zu schweigen. Hinzu kommt: Auch heute bekommen Väter nicht selbstverständlich frei oder können problemlos Meetings verlegen, wenn zum Beispiel Schulbesuchstage anstehen.
Deshalb sind bei solchen Veranstaltungen am Ende doch wieder meist die Mütter präsent. Dabei wäre es wichtig, wenn Väter mehr anwesend wären. Hat etwa ein Kind Schwierigkeiten, sich in die Klasse zu integrieren, wäre es beispielsweise hilfreich, wenn der Vater das Kind von der Schule abholt, gezielt nachfragt («Mit wem spielst du gerne?») – ohne sich Gedanken machen zu müssen, dadurch am Arbeitsplatz etwas zu riskieren. Gerade Buben bräuchten diese Präsenz des Vaters.
Weshalb?
Weil Buben in der Regel mehr Disziplinschwierigkeiten in der Schule haben als Mädchen. Aufgrund von Hormoneinschüssen rivalisieren und kämpfen Jungs viel mehr miteinander. Ihnen fällt es schwerer, sich auf Disziplin einzulassen, Gruppen- und soziale Kompetenz zu entwickeln. In der Pädagogik treffen sie dann jedoch häufig auf eher irritierte weibliche Fachkräfte.
Weil es in Primarschulen oft hauptsächlich weibliche Lehrpersonen gibt?
Genau das ist das Problem. Deshalb braucht es hier die Väter umso mehr.
Gerade engagierte Eltern setzen sich mit hohen Idealvorstellungen besonders unter Druck.
Was macht der Vater aufgrund seines Geschlechts denn besser als die Lehrerin oder die Mutter?
Es geht nicht darum, dass er besser in Auseinandersetzungen argumentiert. Aber der heranwachsende kleine Mann sucht in der Regel ein männliches Vorbild, an dem er sich orientieren kann. Fordert dieser engagiert faire Regeln im Spiel und Kampf und lebt diese vor, will der Junge es seinem Vorbild recht machen.
Welche Bedeutung haben Väter generell für Kinder?
Väter sind aufgrund der sogenannten Triangulierung in der Entwicklung ganz zentral. In der Psychologie ist damit das Hinzutreten eines Dritten in einer Zweierbeziehung gemeint. So bin ich als Mensch darauf angewiesen, dass ich neben der intensiven Beziehung zur Mutter eine weitere enge Bezugsperson habe, also eine Erweiterung erfahre in Form eines emotionalen Dreiecks. Dass ich als Kind erlebe: Meine Mutter ist noch mit einer anderen Person in einer Liebesbeziehung verbunden, die sich von meiner Beziehung zu ihr unterscheidet. Diese Triangulierungserfahrung ist grundlegend für eine reife, psychische Entwicklung des Menschen. Sie hilft dem Kind, eine Frustrationstoleranz aufzubauen und einen Perspektivenwechsel zu erleben.

Welche Rolle spielen Väter für Söhne?
Für Buben und ihre Geschlechtsorientierung ist es wichtig, eine männliche Bezugsperson zu haben, mit der sie sich identifizieren können. Väter vermitteln Söhnen Wertvorstellungen und zeigen, wie die beiden Geschlechter miteinander umgehen. Am Beispiel des Vaters erlebt der Sohn im Idealfall, wie jener liebevoll und respektvoll mit der Mutter interagiert. Wie beide zwar nicht immer einer Meinung sind, aber konfliktfähig streiten. Denn auch das leben Eltern vor: Dass sich ambivalente Gefühle in einer Beziehung aushalten lassen, ohne dass man sich gleich trennen muss. Hier sind Väter für Jungs wichtige Vorbilder. Ist kein Vater da, lässt sich das auch mit einem Grossvater, Onkel oder einer männlichen Bezugsperson kompensieren.
Und welche Bedeutung haben Väter für Töchter?
Viele Studien zeigen, wie stark der Vater das Männer- und Selbstbild von jungen Frauen prägt. Gerade in der Pubertät brauchen Mädchen ihren Vater ganz besonders. Töchter müssen den Glanz in den Augen ihres Vaters sehen. Erfahren, dass er sie bewundert und sie bestätigt in ihrem Tun – dass er es lässig findet, dass seine Tochter tanzt oder Ingenieurin werden will. Mädchen sollten von ihm gespiegelt bekommen: «Du bist es wert!» Die väterliche Bestätigung und Anerkennung ist ein wichtiger Schutz, der verhindert, dass sich Töchter zu schnell und zu unkritisch auf Liebesbeziehungen mit Männern einlassen. Er hilft ihnen, sich besser abzugrenzen. Dies können auch von der Mutter getrennt lebende Väter leisten – wenn sie nach wie vor einen engen Kontakt zum Kind pflegen.
Welche Rolle spielt für Väter dabei der eigene Vater?
Eine sehr grosse! Der eigene Nachwuchs erinnert einen daran, was man als Kind selbst für ein Verhältnis zu seinem Vater hatte. Hatte ich es sehr schön, ist das die beste Ausgangslage. Wurde ich aber unempathisch von meinem Vater behandelt, kann das im Umgang mit meinen Kindern zu einer Herausforderung werden. Im besten Fall versuche ich es besonders gut zu machen und bin vielleicht betont feinfühlig im Umgang mit Sohn oder Tochter. Womöglich will ich es aber übertrieben gut machen und bin dadurch vielleicht ungeduldig mit mir selbst – weil ich meinem Ideal nicht gerecht werde. Dieses Thema schleppen tatsächlich viele Väter mit sich herum.
Wie meinen Sie das?
Viele wollen es besser machen als ihre eigenen Eltern. Im Umfeld der bedürfnisorientierten Erziehung ist vielen Vätern nicht klar, dass sie in manchen Situationen ruhig konstruktiv aggressiv sein dürfen. Dass eben manchmal ein sanftes «Hey, das ist gefährlich, hör bitte auf!» unangemessen ist. Stattdessen braucht es eine unmissverständliche Ansage («Stopp!», «Nein!»). Anschliessend kann ich meinem Kind immer noch erklären, weshalb ich heftiger reagiert habe. Dies gilt auch für Mütter: Sie dürfen im Umgang mit dem Nachwuchs heute ebenfalls ruhig eine klarere Linie fahren.
Eine Gesellschaft kann sich nur weiterentwickeln, wenn die junge Generation sich gegenüber der alten auflehnt und sie herausfordert.
In der Pubertät stürzen Jugendliche ihre Eltern oft unsanft vom Sockel. Besonders Väter trifft es, wenn die ehemals enge Bindung zur Tochter abrupt endet.
Gerade wenn die Beziehung sicher ist und Kinder sich geliebt fühlen, trauen sie sich, uns Eltern mit kontroversen Themen herauszufordern. Papa ist erfolgreicher Banker, aber die Tochter sieht den Kapitalismus kritisch? Da kann es emotional schon mal hoch hergehen. Wichtig ist dann, dass der Vater mutig ist, die Kritik der Tochter entgegennimmt und diese aushält. Denn genau diese Reibung braucht die Tochter.
Sind die Auseinandersetzungen in der Pubertät zwischen Töchtern und Vätern stärker als die zwischen Müttern und Töchtern?
Nein, das lässt sich so nicht sagen. Aber Kinder spüren unsere Schwachstellen deutlich. Realisieren Tochter oder Sohn, dass ein Elternteil mit einem bestimmten Thema Mühe hat, werden sie uns hier unbewusst immer wieder herausfordern. Das tun sie umso mehr, wenn sie wissen, dass die Beziehung zu ihren Eltern tragfähig ist, und sie sich geliebt fühlen. Solche vom Nachwuchs angezettelten Konflikte sind eigentlich ein Kompliment an uns. Würden Tochter oder Sohn dies nie tun, müssten wir annehmen, dass sie zu viel Angst vor einer Auseinandersetzung mit uns haben.

Je konfliktreicher das Verhältnis zum pubertierenden Nachwuchs ist, umso stärker die Beziehung?
Nein, das nun auch nicht. Ich will nur sagen: Solche Herausforderungen sollten Eltern als etwas Positives sehen. Denn dies zeigt, dass das Fundament der Eltern-Kind-Beziehung tragfähig ist. Je geliebter und sicherer ich mich als Kind fühle, umso mutiger vertrete ich einen unabhängigen und kontroversen Standpunkt. Hinzu kommt: Eine Gesellschaft kann sich nur weiterentwickeln, wenn die junge Generation sich gegenüber der alten auflehnt und sie herausfordert.
Ich habe kürzlich eine Umfrage gelesen: «Drei Punkte, die Pubertierende an Vätern hassen».
Jetzt bin ich gespannt: Wie lauten die drei Punkte?
Unklares Wischiwaschi. Anbiederndes Freundschaftsgetue. Und hartes Einfordern von Leistungen.
Das kann ich hundertprozentig so unterschrieben.
Was heisst das für den Vater?
Was unklares Wischiwaschi angeht: Eltern neigen dazu, Jugendlichen möglichst alle Seiten eines Themas ausführlich zu erklären. Was ja vernünftig ist, um zu vermitteln, dass es immer verschiedene Perspektiven gibt. Gleichzeitig würde ich Väter aber ermutigen, klarer Stellung zu beziehen – auch auf die Gefahr hin, einseitig zu wirken. Denn erst daraus entwickelt sich ein Dialog, entsteht Reibung – also genau das, was Jugendliche spannend finden. Deshalb sollte ich als Vater nicht immer auf ein ausgewogenes Für und Wider setzen, sondern auch mal klare Kante zeigen.
Wie ist es mit dem anbiedernden Freundschaftsgetue?
Eltern sind Eltern, Kinder sind Kinder – diese klare Abgrenzung gilt es zu wahren. Schliesslich müssen sich Jugendliche von ihren Eltern lösen. Klar, kann ich als Vater meinen Sohn fragen, ob wir gemeinsam ins Fussballstadion gehen wollen. Wichtig ist jedoch, dass ich tatsächlich frage, es nicht als gesetzt ansehe, und ihm die Möglichkeit lasse, Nein zu sagen.
Wie beurteilen Sie den dritten Punkt, den Pubertierende angeblich an ihren Vätern hassen: das harte Einfordern von Leistungen?
Es ist immer problematisch, wenn Kinder das Gefühl haben, sie würden nur geliebt, wenn sie bestimmte Leistungen erbrächten. Andererseits: Natürlich darf ich von Sohn oder Tochter, die sich für ein bestimmtes Instrument entschieden haben, verlangen, dass sie üben («Wir haben das Klavier extra angeschafft. Wie können wir dich unterstützen, dass du die Hängepartie überwindest?»). Wichtig: Den Wert des Kindes nicht abhängig machen von einer bestimmten Note oder Leistung. Soll ich Ihnen dazu eine Geschichte erzählen?
Gerne!
Der Österreicher Siegfried Bernfeld gilt als Pionier der psychoanalytischen Pädagogik. Sein Adoptivsohn wuchs in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts in Wien auf und lernte damals für die Aufnahmeprüfung des Gymnasiums. Direkt nach der Prüfung fand der Junge in seinem Zimmer ein wunderbares Aquarium. «Aber Papa», rief er daraufhin, «du weisst doch noch gar nicht, ob ich bestanden habe!» «Aber ich habe gesehen, wie du gearbeitet hast», entgegnete der Vater. «Das Geschenk bekommst du, weil du dich so angestrengt hast.» – Das ist für mich wahre Anerkennung! Frei von jeder Leistung. Daran dürfen sich Väter auch heute noch ein Beispiel nehmen.
Buchtipps
- Egon Garstick: Junge Väter in seelischen Krisen. Wege zur Stärkung der männlichen Identität. Klett-Cotta 2013, 176 Seiten, ca. 42 Fr.
- Egon Garstick / Raffael Guggenheim: Die Schreibaby-Sprechstunde. Eltern und ihre Kinder pädiatrisch-psychologisch begleiten. Klett-Cotta 2025, 176 Seiten, ca. 40 Fr.