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Die Selektion kommt zum falschen Zeitpunkt

Lesedauer: 5 min
Die Schule sortiert zu früh: Mitten in der Pubertät entscheiden wir über die Zukunft von Buben und Mädchen – dabei brauchen Heranwachsende vor allem eins: Zeit.
Text: Jörg Berger

Bild: Getty Images

Kürzlich sprach mich eine Mutter auf dem Pausenplatz an: «Sagen Sie mal, Herr Berger, beschäftigt Sie das nicht? Dass Mädchen meist reifer sind als Buben – und wir trotzdem alle gleichzeitig sortieren?»

Ihre Frage hallte lange in mir nach. Sie sprach aus, was viele Eltern und auch wir Schulleitungen spüren: Die Entscheidung, ob ein Kind ins Gymnasium, in die Sek A oder Sek B geht, fällt in einem Alter, in dem die Unterschiede zwischen den Kindern grösser kaum sein könnten.

Kinder entwickeln sich nicht nach Kalender, ­sondern nach ihrem eigenen inneren Rhythmus.

Remo Largo, Kinderarzt (1943–2020)

Entscheidung mit langfristiger Tragweite

Denn mit 12 oder 13 Jahren – also am Ende der Primarschulzeit – befinden sich Kinder mitten in der Pubertät. Es ist die Zeit der körperlichen, emotionalen und kognitiven Umbrüche. Die moderne Entwicklungspsychologie spricht hier von einer Phase «maximaler Heterogenität». Ein Zeitpunkt also, der sich denkbar schlecht für Selektionen eignet. Dennoch treffen wir genau dann Entscheidungen mit langfristiger Tragweite.

Der bekannte Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo wies immer wieder darauf hin, dass die kindliche Entwicklung in einem breiten Spektrum verläuft. «Kinder entwickeln sich nicht nach Kalender, sondern nach ihrem eigenen inneren Rhythmus», so Largo. Mädchen seien in vielerlei Hinsicht früher reif als Knaben, was ihnen gerade in schulischen Beurteilungen Vorteile verschafft.

Sein Nachfolger, der heutige Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, Oskar Jenni, führt diese Erkenntnisse weiter: «Die Entwicklung eines Kindes ist ein dynamisches Zusammenspiel biologischer und sozialer Faktoren. Dass Mädchen früher dran sind, heisst nicht, dass Knaben weniger können – sondern dass sie mehr Zeit brauchen.»

Mädchen weiter – Knaben auf der Suche

Diese Unterschiede zeigen sich deutlich im Verhalten. Mädchen sind in diesem Alter oft kommunikativer, kooperationsbereiter und sozial sensibler. Sie interessieren sich zunehmend für gesellschaft­liche Fragen, Freundschaften und auch für schulischen Erfolg. Viele von ihnen können ihre Emotionen differenzierter ausdrücken, Konflikte verbal verarbeiten und Verantwortung übernehmen.

Gleichzeitig stehen sie unter einem zunehmenden Druck, sowohl schulisch als auch gesellschaftlich zu «funktionieren». Nicht wenige geraten dabei in einen Dauerstress, der sich in psychischen Belastungen manifestiert. Studien sprechen von deutlich steigenden Depressions- und Angststörungen unter Mädchen in der Pubertät.

Knaben hingegen stecken oft noch mitten im spielerischen, wettbewerbsorientierten Denken. Ihre Frustrationstoleranz ist im Schnitt niedriger, ihre Selbststeuerung in der Entwicklung. Viele zeigen ihre Unsicherheit durch Provokation, Rückzug oder impulsives Verhalten. Sie lassen sich leichter ablenken, wirken «unreif» – und werden dafür oft auch schulisch abgestraft.

Besonders brisant: Während Mädchen bei Gleichaltrigen nach vorne streben, geraten Knaben im Vergleich zunehmend ins Hintertreffen. Das kann das Selbstwertgefühl stark beeinträchtigen. In vielen Klassenzimmern lässt sich beobachten, dass sich die beiden Geschlechter emotional voneinander entfernen – was zusätzliche Spannungen erzeugt. Erst gegen Ende der Pubertät, also etwa mit 15 oder 16 Jahren, nähern sich Knaben und Mädchen in ihrer emotionalen und kognitiven Reife wieder an. Dann aber ist das Schulsortierkarussell längst durch.

Wenn Tempo mit Potenzial verwechselt wird

In der Schule bedeutet das: Wer mit 13 Jahren «sortiert» wird, wird nicht nur nach Leistung eingestuft, sondern auch nach Tempo. Und Tempo ist – gerade in der Pubertät – nicht immer ein guter Indikator für das eigentliche Potenzial.

Die grosse Ungerechtigkeit ist dabei auch eine systemische: Bis zur Pubertät lernen Kinder vor allem in der Primarschule – von hervorragend ausgebildeten Lehrpersonen mit vertiefter Kenntnis über kind­liche Entwicklung, Differenzierung und individuelle Förderung. Auch auf der Sekundarstufe I unterrichten meist Pädagoginnen und Pädagogen mit pädagogischer Hochschulausbildung.

Menschlich tragisch – volkswirtschaftlich töricht

Ganz anders die Situation im Langzeitgymnasium: Hier unterrichten vornehmlich Fachpersonen mit Universitätsabschluss in einem akademischen Fach, deren pädagogische Ausbildung im besten Fall ein kurzes Nachdiplomstudium umfasst. Der Fokus liegt dort auf Fachvermittlung, nicht auf individueller Begleitung oder Heterogenitätskompetenz. Wer also später zündet, findet im selektiven System oft keinen Anschluss mehr.

Wir vom Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz sagen: Dieses Sortieren, im jetzigen Bildungssystem Selektion genannt, kommt zu früh. Es nimmt Talente nicht mit, sondern lässt sie liegen. Studien zeigen: Über 80 Prozent der Kinder, die einem bestimmten Leistungsgang zugewiesen werden, bleiben für immer dort. Auf- oder Umstiege gelingen kaum, selbst wenn sich Leistung und Motivation verändern. Das ist kein Fehler im System. Das ist das System.

Findet die Einteilung nach ­Leistung erst am Ende der Volksschulzeit statt, können sich individuelle Stärken besser entfalten.

Ein weiteres Problem: Die sogenannte Selektion wirkt wie eine Etikettierung. Kinder, die einmal als «schwach» oder «nicht gymnasial­tauglich» eingestuft wurden, ver­innerlichen diese Fremdzuschreibung. Selbst wenn sie sich im Verlauf der Schulzeit positiv ent­wickeln, fehlt oft der Glaube an sich selbst – und fehlen die Strukturen, um einen Wechsel zu ermöglichen. Die Talente, die sich erst später zeigen, haben kaum eine Chance, jemals sichtbar zu werden. Das ist nicht nur menschlich tragisch, es ist volkswirtschaftlich töricht.

Eine Schule, die Zeit lässt – und damit Chancen schafft

Unser Ansinnen ist klar: Die Einteilung nach Leistung muss ans Ende der Volksschulzeit verschoben werden. Nicht weil wir gegen Leistung sind. Sondern weil wir uns für Entwicklung stark machen. Für Zeit. Für die Entfaltung individueller Stärken.

Wer mit 15 oder 16 über seinen Weg entscheidet, tut das auf einer gereifteren, stabileren Grundlage. Das ist ehrlicher gegenüber den Jugendlichen und klüger für unsere Gesellschaft. Denn: Die Schweiz braucht nicht die Schnellsten. Sie braucht die Richtigen. Und die erkennt man manchmal erst, wenn man ihnen Zeit gibt zu wachsen.

Was ich der Mutter sagen werde

Wenn ich der Mutter vom Pausenplatz wieder begegne, werde ich ihr danken. Für ihre ehrliche, bohrende Frage. Und ich werde ihr erzählen, was ich seither gelesen, gelernt und erkannt habe. Dass ihre Beobachtung nicht nur richtig war, sondern wichtig. Und dass es genau solche Fragen sind, die uns als Schule, als Gesellschaft weiterbringen.

Ich werde sie bitten, weiter solche Fragen zu stellen. Denn sie erinnern uns daran, worum es wirklich geht: um unsere Kinder und die Zeit, die sie brauchen, um sich zu entfalten.