Die Herausforderungen an den Schulen sind gross. So gross, dass sie von den beteiligten Personen fast nicht mehr überblickt werden können. Viele Lehrpersonen sind über das erträgliche Mass belastet, weil in den Klassen zahlreiche Verhaltensauffälligkeiten und Störungsbilder zusammenkommen. Tendenz steigend.
Ich bin seit 25 Jahren Lehrer an Realklassen. Glauben Sie mir, auch im ländlichen Emmental habe ich schon so einiges erlebt: Kinder mit Diagnosen wie ADHS oder Autismus-Spektrum-Störung ASS, den Unterricht notorisch störende Kinder oder solche, die richtig frech sind.
Viele Inhalte, die unterrichtet werden, sind für die Schülerinnen und Schüler komplett sinn- und nutzlos.
Schülerinnen und Schüler, die sich gegenüber Lehrpersonen, Kolleginnen und Kollegen respektlos verhalten und gegenüber Schulmaterial jegliche Sorgfalt vermissen lassen. Solche, die ihre Hausaufgaben ignorieren und auch sonst alles vergessen, was von der Schule aufgetragen wird. Depression, Suizidgefährdung, Aggression, Schulabstinenz … das volle Programm.
In meiner aktuellen Klasse bezeichneten sich bei einer Umfrage erstaunlicherweise knapp zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler selbst als verhaltensauffällig. Warum gibt es so viele Verhaltensauffälligkeiten, die das Lernen teilweise beinahe unmöglich machen? Wer sind diese Kinder und wie kann im Rahmen des bestehenden Schulsystems der aktuellen Lage etwas entgegengesetzt werden?
Wir kriegen keine anderen Kinder
Die Situation wird an den Schulen, in der Politik und in den Medien seit Jahren aufgeregt diskutiert, ohne dass Veränderungen in Gang gebracht werden, die nachhaltig eine Verbesserung beziehungsweise eine Entspannung der Lage bringen.
Klar ist: Wenn in der Schule die Hauptaufgabe der Lehrpersonen darin besteht, die Verhaltensauffälligkeiten und das störende Verhalten zu managen, bringt sie das regelmässig an den Rand der Belastungsgrenze und darüber hinaus.
Doch ob wir das wollen oder nicht: Wir kriegen keine anderen Kinder. Wir Lehrpersonen, Schulleiter, Bildungsdirektionen müssen mit den Schülerinnen und Schülern arbeiten, die tagtäglich in unsere Klassenzimmer kommen. Das heisst nach meiner Auffassung: Wenn wir unsere Haltung zum Lernen und zur Bildung nicht verändern, werden wir die Kinder verlieren.
Drei Hampelmänner und vier Kniebeugen zu Beginn einer Lektion reichen nicht aus.
Wir sollten ungeniert zugeben, dass Lernen im Gleichschritt und in engen Klassenzimmern für viele überhaupt nicht ideal ist. Die grundsätzliche Frage lautet: Wo könnten wir das Lernen dem natürlichen Rhythmus der Kinder anpassen? Wo könnten wir Wachstum an lebensnahen Aufgaben ermöglichen, um so einem Grossteil des störenden Verhaltens den Nährboden zu entziehen?
Mit diesen und anderen Fragen habe ich mich intensiv auseinandergesetzt. Bereits vor Jahren begann ich meinen Unterricht Schritt für Schritt zu erweitern, Schule neu zu denken. Dabei wurde ich viel zufriedener und kam zu folgenden drei Überzeugungen:
1. Viel mehr Bewegung
Stehen wir an einer Pferdekoppel, dann freuen wir uns über die wild umhergaloppierenden Fohlen. Tun Kinder dasselbe, werden sie abgeklärt, erhalten eine Diagnose und nicht selten ein Medikament, das sie beruhigt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Diagnosen braucht es, damit in herausfordernden Situationen zusätzliche Unterstützung ausgelöst werden kann.
Und ja, manchmal hilft ein Medikament, eine für alle untragbare Situation zu überbrücken. Ungeachtet dessen wissen wir alle: Bewegung ist ein Muss und keine Option. Es liegt in der Natur des Kindes, dass es sich so oft wie möglich bewegen will, das aber viel zu selten kann.
Hat der Inhalt für Menschen Bedeutung, können wahre Lernwunder geschehen.
Es gibt viele gut gemeinte Ansätze, wie etwa die bewegte Schule. Drei Hampelmänner und vier Kniebeugen zu Beginn einer Lektion reichen aber nicht aus. Warum nicht davon profitieren, dass in der Schweiz Naherholungsgebiete, Spielplätze und Wälder oft in Gehdistanz zu Schulhäusern erreicht werden können?
Seit der Coronazeit bin ich mit meiner Realklasse beinahe täglich draussen unterwegs. Es lässt sich viel Unterricht unter freiem Himmel durchführen: Mind-Maps erstellen, Kopfrechnen oder einfach nur verarbeiten, was zuvor im Klassenzimmer besprochen wurde. Das gibt den Lehrpersonen Gelegenheit für kurze Gespräche mit einzelnen Schülerinnen und Schülern und ist für alle ein Gewinn. In meiner Klasse kam es vor, dass Schüler durch diese simple Massnahme ihre Beruhigungsmedikamente absetzen konnten.
2. Inhalt mit Bedeutung
Seien wir ehrlich: Viele Inhalte, die unterrichtet werden, sind für die Schülerinnen und Schüler komplett sinn- und nutzlos. Untersuchungen dazu sollen ergeben haben, dass junge Erwachsene bereits zwei Jahre nach der Schulzeit über 80 Prozent der Unterrichtsinhalte wieder vergessen haben. Das ist einerseits eine erschütternde Tatsache, bedeutet jedoch für uns Lehrpersonen im Umkehrschluss 80 Prozent Freiheit.
Daher bin ich zunehmend viel entspannter, wenn ich mit dem Schulstoff wieder einmal nicht durchkomme. Zudem ermögliche ich seit längerer Zeit mehrmals pro Jahr persönliche Lernprojekte. Diese sind niederschwellig angesetzt und werden nicht bewertet. Während 10 bis 15 Lektionen pro Woche und über eine Dauer von einigen Wochen beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler mit einem selbst gewählten Projekt.
Es braucht eine Beziehung, die allen Beteiligten das «Ich bin total in Ordnung»-Gefühl gibt.
Der Prozess und die Ergebnisse begeistern mich stets aufs Neue. Da wird gestrickt, gebastelt, gestaltet, gekocht. Es werden Möbel restauriert, Mofas repariert, Fremdsprachen gelernt und vieles mehr. Lernprojekte bringen eine wunderbare Abwechslung in den Schulalltag und können mit dem Einverständnis der Eltern sogar ausserhalb der Schule durchgeführt werden.
Noch mehr begeistert mich, wenn plötzlich Eltern, Grosseltern, Nachbarn oder wer auch immer in die Projekte involviert sind. Ganz oft sind die Jugendlichen mit Haut und Haar dabei, sind ausdauernd und exakt bei der Arbeit, übernehmen Verantwortung, vergessen nichts und arbeiten weit über die geforderte Zeit an ihren Vorhaben. Hat der Inhalt für Menschen Bedeutung, können wahre Lernwunder geschehen und es braucht keine Motivation von aussen.
3. Viel mehr Beziehungsarbeit
Der bekannte deutsche Hirnforscher Gerald Hüther drückt es so aus: «Liebe ist das unbedingte Interesse an der Entfaltungsmöglichkeit seines Gegenübers!» Die Beziehung zwischen Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonen gestalten sich leider häufig äusserst konfliktreich.
Allzu oft wollen wir Lehrpersonen die Jugendlichen erziehen und zurechtbiegen und kritisieren sie dabei ohne Ende. Und was passiert dadurch? Die jungen Menschen schalten auf «Durchzug», hören uns nicht mehr zu und können kaum noch erreicht werden. Die Erwachsenen ihrerseits bleiben frustriert zurück.
Was es aber braucht, ist eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung. Eine Beziehung, die allen Beteiligten das «Ich bin total in Ordnung»-Gefühl gibt. Daher investiere ich seit Jahren enorm viel in die Beziehungsarbeit. Störungen haben fast immer Vorrang, Konflikte werden geklärt. Konflikte unter den Jugendlichen genauso wie solche zwischen mir und ihnen. Das lohnt sich ungemein. Oft braucht es nicht viel mehr als die Schilderung, wie eine Situation oder ein Konflikt wahrgenommen wurde.
Schule out of the box
Wir Lehrpersonen haben die Aufgabe, einen Rahmen zu schaffen, jenseits gegenseitiger Beschuldigungen. Voraussetzung dafür ist, dass ich mit der Klasse sehr viel Zeit verbringen kann. An vielen Oberstufenschulen hat sich das Fachlehrersystem mit zahlreichen Lehrpersonen in einer Klasse durchgesetzt. Ich aber, als Klassenlehrer, bin wöchentlich 20 Lektionen oder mehr bei meiner Klasse, was viel Spielraum ermöglicht.
Wie wäre es, wenn Schule zunehmend zu einem Erlebnis werden darf, ganz vielseitige Erfahrungen ermöglicht und wenn das Wachsen an natürlichen und echten Aufgaben zur Regel werden kann? Würden wir nicht sehr viel weniger Störungen erleben?
Ich kann Lehrpersonen und Eltern nur ermutigen, unguten Gefühlen nachzuspüren und neue Wege in der Bildung zu wagen.
In meinem Buch «Begeisterung 11 von 10» habe ich viele Anregungen für Veränderungsmöglichkeiten aufgeführt. Diese sind meist spontanen Eingebungen während der Arbeit mit Kindern entsprungen. Die Umsetzung dieser Ideen hat meinen Schulalltag enorm bereichert und liess mich auch äusserst anspruchsvolle Klassensituationen in eine für alle gewinnbringende Richtung lenken. Dabei geht es nicht um die konkrete Methode, sondern vielmehr um die Haltung dahinter.
Viele Lehrpersonen und Eltern würden gern etwas ändern und spüren, dass einiges nicht mehr so richtig passt in den Schulen. Ich kann nur empfehlen, diesen unguten Gefühlen nachzugehen, und jeden ermutigen, neue Wege in der Bildung und in der Erziehung zu wagen. Sobald mit Erfolg gewagt wird, verändert sich die Haltung und plötzlich gibt es wieder Perspektiven!