Das Strässchen im Solothurner Wildbach-Quartier liegt ruhig in der Abendsonne. Ein schmaler Weg führt durch den Garten, direkt ins Wohnzimmer der Familie Stähle. Am grossen Holztisch sind Lennie-Joe, seine Mutter Silke, sein Vater Andreas und Sarina Ettore, Lennie-Joes Freundin, versammelt. Die Stimmung ist gelöst, denn Lennie-Joes Lehrvertrag zum Solarinstallateur EFZ ist längst unter Dach und Fach.
Was löst es bei den Eltern aus, dass der ältere von zwei Söhnen bald seine Lehrstelle antreten wird? Vater Andreas lacht laut auf. «Sind wir alt!», habe er bei sich gedacht. «Aber im Ernst: Es war intensiv und aufregend, diesen ganzen Berufswahlprozess nochmals zu erleben. Die Ausgangslage von Lennie-Joe glich sehr stark meiner eigenen.»
Sohn nochmals neu kennengelernt
Der 51-Jährige hatte als CNC-Programmierer gestartet, sich weiter zum Industriemeister ausgebildet und eine Ausbildung zum technischen Betriebswirt absolviert. Nun schliesst er als Global Key Account Manager Verträge mit Kunden aus aller Welt ab. «Mir war immer wichtig, Lennie-Joe zu vermitteln, dass alles möglich ist.»
Mutter Silke arbeitet nach einem Studium der Bibliothekswissenschaften mit Nebenfach Psychologie als Assistenz der Geschäftsleitung in einem psychologischen Zentrum. «Mein Berufseinstieg war mit Abitur und Studium ein anderer, deshalb war vieles neu für mich. Es war aber unglaublich interessant, sich nochmals richtig mit dem eigenen Kind zu beschäftigen und sich zu fragen: Was passt zu ihm? Die intensiven Gespräche, die wir in dieser Zeit geführt haben, habe ich sehr geschätzt. Wir haben Lennie-Joe nochmals ganz anders kennengelernt.»

Ein harziger Start in die Sek
Dass Lennie-Joe hier am Familientisch sitzt und als Erster seiner Jahrgangsstufe eine Zusage für eine Lehrstelle erhalten hat, konnte sich zu Beginn der Oberstufe niemand vorstellen. Der Einstieg in die Sekundarstufe B war alles andere als einfach. «Ich hatte eine riesige Blockade», sagt Lennie-Joe. Das führte so weit, dass der heute 16-Jährige zeitweise die Schule überhaupt nicht mehr besuchen konnte.
«Wir waren ratlos und haben ganz viel probiert», so Silke. «Zum Glück waren Schulleitung und Lehrpersonen unglaublich entgegenkommend und offen für unkonventionelle Lösungen.» So musste Lennie-Joe in einem ersten Schritt nur diejenigen Fächer besuchen, die ihm lagen: Werken und Sport. Ein Lösungsansatz, der Wirkung zeigte. Nach und nach fand er den Weg zurück ins Klassenzimmer.
Wir haben uns immer bemüht, Lennie-Joe Sicherheit zu geben, ohne ihm zu viel abzunehmen.
Silke, Mutter von Lennie-Joe
Nicht sichtbar für Lennie-Joes Umgebung, dafür umso wichtiger für ihn selbst war zudem eine Nachricht, die eines Tages auf seinem Handy aufploppte. Sarina fragte darin nach seinem Befinden. «So ist sie», sagt Lennie-Joe mit Blick auf seine Freundin. «Sie interessiert sich für ihre Umgebung und zeigt Interesse daran, wie es anderen geht.»
In seinem Fall stiess das Interesse auf Gegenseitigkeit. Im Gleichschritt mit seiner Rückkehr in die Schule fanden auch die beiden Jugendlichen zusammen. Nun sind sie bereits seit Ende der 1. Oberstufe ein Paar und haben damit den ganzen Berufswahlprozess gemeinsam gemeistert.
Desaströser Schnuppereinsatz
Der Berufswahlprozess begann bei Lennie-Joe eigentlich schon früher als bei seinen Klassenkameraden und -kameradinnen. Während seiner schulischen Krise suchten seine Eltern nach Arbeitsmöglichkeiten. «Wenn der Gärtner bei uns im Garten aktiv war, unterstützte ihn Lennie-Joe tatkräftig. Es war offensichtlich, dass ein handwerklicher Beruf zu ihm passen würde», so Vater Andreas.
Kurzerhand schnupperte Lennie-Joe bereits im ersten Sek-Schuljahr in einer Gärtnerei – ohne Erfolg. «Es war ein Desaster», erinnert sich der 16-Jährige. «Ich wurde tagelang zum Wischen eingeteilt.» Die Motivation? Nach dieser Erfahrung erst mal verschwunden. Für Lennie-Joes Vater ist es vollkommen unverständlich, warum sich handwerkliche Betriebe in einer Zeit des Fachkräftemangels so verhalten.
Seine Gedanken mit seiner Freundin zu sortieren, half Lennie-Joe ungemein – und auch Sarina.
«Das war unglaublich schade», sagt er. «Es kommt ein so praktisch veranlagter, wirklich interessierter Jugendlicher zum Schnuppern und wird auf diese Weise wieder vergrault. Es bräuchte nur einen realistischen, nahbaren Einblick, sodass auch die Bemühungen seitens der Firma spürbar sind.» Gärtner wollte Lennie-Joe nach dieser Erfahrung jedenfalls nicht mehr werden.
«Das war keine gute erste Berufserfahrung», so Lennie-Joe. «Es hat mir aber gezeigt, dass meine Eltern hinter mir stehen und mich unterstützen. Ich wusste das eigentlich, aber in meiner damaligen Krise und nach diesem Erlebnis habe ich das nochmals ganz stark gespürt.» Mutter Silke pflichtet ihm bei: «Wir bemühten uns immer, ihm Sicherheit zu geben, ohne ihm zu viel abzunehmen oder zu stark Druck aufzusetzen. Das war eine Gratwanderung.»
Den Knopf gelöst
Auch Freundin Sarina war an Lennie-Joes Seite, oft als erste Anlaufstelle nach den Schnuppereinsätzen, die im zweiten Schuljahr der Oberstufe folgten. Und das waren einige: Dachdecker, Maler, Automobilfachmann, Polymechaniker, Schreiner, Ofenbauer ... Lennie-Joe spürte, dass er zwar auf der richtigen Spur war, aber den idealen Beruf noch nicht gefunden hatte. Seine Gedanken mit seiner Freundin zu sortieren, half ihm ungemein – und auch Sarina.
«Wir unterstützten uns immer gegenseitig», sagt Lennie-Joe. «Als sie sich einmal nicht traute, die Anruftaste auf dem Telefon für eine Schnupperstelle zu drücken, übernahm ich das für sie.» Beide lachen, seither ist viel passiert.
«Sie sind miteinander gereift in den letzten zwei Jahren, die Beziehung tut beiden gut», so Mutter Silke. Wo Lennie-Joe mit seiner offenen Art Sarina unterstützte, wenn sie ein bisschen zurückhaltender war, zog sie ihn dafür in der Schule mit. «Sarina ist bis heute Klassenbeste, hatte immer gute Noten», sagt Lennie-Joe. «Sie schaffte es, mich zum Lernen zu motivieren.»
Ich freue mich auf das Berufsleben. Das hat die Suche nach einer geeigneten Lehrstelle erleichtert.
Lennie-Joe, angehender Solarinstallateur
Die Eltern staunten über den Prozess, den ihr Sohn durchlief. «Nach der Krise in der ersten Oberstufe wandelte er sich nach und nach zum totalen Durchstarter!» Vater Andreas ist anzusehen, wie sehr er sich über die grossen Schritte freut, die der angehende Lernende gemacht hat.
«Er hat begonnen, Verantwortung zu übernehmen und für seine Anliegen einzustehen.» So kam es, dass der Druck, gute Noten schreiben und gleichzeitig eine Lehrstelle suchen zu müssen, bei Lennie-Joe nicht so viel Stress auslöste wie bei anderen. Er konnte vielmehr mit grosser Eigeninitiative auf ein Ziel hinarbeiten. «Ich freue mich auf das Berufsleben, das machte alles viel leichter», so Lennie-Joe. «Ausserdem spürte ich die Unterstützung durch meine Eltern und Sarina.»
Eine hartnäckige BO-Lehrerin
In der Schule besserten sich seine Noten, das Schulfach «Berufliche Orientierung» (BO) – insbesondere die Lehrperson selbst – war zudem eine grosse Hilfe. «Unsere BO-Lehrerin gab uns immer wieder den Stiefel in den Hintern», sagt Sarina lachend. «Sie war wirklich hartnäckig und verlangte regelmässig von uns, dass wir uns ausserhalb unserer Komfortzone bewegen.»
So hielt sie zum Beispiel daran fest, dass die Jugendlichen jeweils zuerst im Betrieb anrufen mussten, um sich für eine Schnupperlehre zu bewerben. «Das war immer wieder sehr streng, aber im Rückblick war ihr Engagement unbezahlbar. Sie zeigte uns, dass es sich lohnt, sich einzusetzen. Und am Ende hatte sie absolut recht.»
Lennie-Joes Einsatz und die Begeisterung für unsere Arbeit waren beim Schnuppern direkt spürbar.
Remo Zürcher, Berufsbildner
An Engagement bei den Schnuppereinsätzen fehlte es Lennie-Joe nicht. Vater Andreas war es schliesslich, der den Beruf Solarinstallateur auf den Tisch und seinen Sohn damit auf das Dach brachte. Der 16-Jährige erinnert sich gut an den Moment, als er das erste Mal darauf aufmerksam gemacht wurde.
«Das ist es!»
«Ein Beruf, der mit viel Bewegung verbunden ist und draussen ausgeübt wird, Arbeiten, die direkt angepackt werden können und die in Zusammenarbeit umgesetzt werden: Das klang unglaublich verlockend für mich. Ausserdem ist es eine Möglichkeit, einen Teil zur Lösung der ökologischen Probleme unserer Welt beizutragen.» Kurzerhand bewarb er sich für eine Schnupperstelle und spürte auf Anhieb: «Das ist es!»
Die Eltern freuten sich über die Euphorie ihres Sohnes, rieten ihm aber gleichzeitig, unbedingt bei einem zweiten Arbeitgeber zu schnuppern. «Wir wollten ganz sicher sein, dass es wirklich der Beruf ist, der Lennie-Joe gefällt, und nicht nur das Team, mit dem er zusammengearbeitet hat», sagt Mutter Silke.

«Wir wissen, dass das Umfeld für ihn sehr relevant ist. Bewegung und Teamarbeit sind die zwei Elemente, die Lennie-Joe für sein Wohlbefinden braucht.» Lennie-Joe ist auch ausserhalb der Berufswelt ein Teamplayer. Seit einigen Jahren spielt er Lacrosse, einen Mannschaftssport mit Spezialschläger und Ball. «Er war schon immer sehr sozial», so Silke, «im Team funktioniert er bestens.»
Beidseitige Begeisterung
Der zweite Schnuppereinsatz erfolgte bei seinem zukünftigen Arbeitgeber. Schon beim Empfang im BKW-Campus in Solothurn spürte Lennie-Joe, dass er angekommen war. «Alles war von Herrn Zürcher, dem Berufsbildner der Solstis Energy AG, sehr gut organisiert. Ich wurde nett empfangen und erhielt zuerst eine Führung durch den ganzen Betrieb», erzählt der angehende Lehrling.
«Dann ging es direkt auf den Bau. Alle waren sehr nett und bemüht, es war ihnen sichtlich wichtig, dass ich alles sehe und mich wohlfühle. Der Einblick war äusserst interessant.» Spätestens beim gemeinsamen Mittagessen mit den zukünftigen Arbeitskolleginnen und -kollegen war für ihn alles klar. «Ich war überzeugt, dass mir der Beruf wirklich liegt, zudem sah ich, dass die Stimmung untereinander passte.» Die Begeisterung trug Lennie-Joe mit nach Hause.
Sek-B-Schülerinnen und -schüler werden oft als die Dümmeren betrachtet. Wir haben gezeigt, dass wir etwas leisten können.
Sarina, Freundin von Lennie-Joe
Doppelter Einsatz
Da er für die Sommerferien eine Arbeitsmöglichkeit suchte, fragte er den Berufsbildner, ob nochmals ein etwas längerer Einsatz im Betrieb möglich wäre. Remo Zürcher lud ihn umgehend ein, ein zweites Mal zu schnuppern.
«Lennie-Joe war total bereit, zu arbeiten», erinnert sich Vater Andreas. «Wir mussten ihn eigentlich nie motivieren, irgendwo mitanzupacken. Wir sahen unsere Aufgabe eher im Hintergrund, indem wir ihm Dinge vermittelten wie: Was wird in der Erwachsenenwelt erwartet, wie ziehe ich mich an? Solche Sachen besprachen wir mit ihm oder versuchten sie vorzuleben.»
Dos und Don'ts für Eltern
Von Ihrer eigenen Berufswahl und beruflichen Laufbahn erzählen
Ihre Erwartungen und Wünsche aussprechen, ohne sie zur Vorgabe zu machen
Interesse zeigen
Wünsche und Träume ernst nehmen
Offene Fragen stellen
Das Thema Berufswahl warmhalten
Ihrem Kind helfen, seine Berufswahlaufgaben zu erledigen
Kompetenzen fördern, zum Beispiel mit Erwachsenen reden, Telefongespräche führen
Bewerbungen gegenlesen
Ihr Kind ermutigen; nach Absagen und Enttäuschungen beistehen
Haltung: Ihr Kind entscheidet, Sie unterstützen es dabei
Das sollten Sie sein lassen:
Frühe Berufserfahrungen rückblickendausschliesslich negativ bewerten
Ideen Ihres Kindes sofort werten
Ihr Kind drängen
Wünsche und Träume ausreden
Geschlossene, absolute Antworten geben (ja, nein), Vorschriften machen
Ihr Kind unter Druck setzen
Berufswahlaufgaben für das Kind erledigen
Ihr Kind sich selbst überlassen, ihm zu viel Verantwortung übertragen
Bewerbungen für Ihr Kind schreiben
Ihr Kind vor Enttäuschungen und unangenehmen Situationen bewahren
Haltung: «Wir wissen, was für unser Kind das Beste ist, und führen es dorthin»
Eine Haltung, die zusammen mit Lennie-Joes Auftreten vor Ort auch bei Berufsbildner Zürcher positiv ins Gewicht fiel. «Lennie-Joes Einsatz und die Begeisterung für unsere Arbeit waren direkt spürbar. Dass er sich für einen zweiten Arbeitseinsatz beworben hat, hat uns zusätzlich überzeugt.» So kam es, dass Lennie-Joe direkt mit unterschriebenem Vorvertrag vom Schnuppern nach Hause kam.
«Ich konnte das fast nicht glauben!» Lennie-Joe lächelt bei der Erinnerung an diesen Tag. Zu Hause war die Freude gross. Sarina weinte vor Glück, Mutter Silke jubelte und selbst Vater Andreas hatte feuchte Augen. «Das war der Heuschnupfen», sagt er und lacht. «Dass er es trotz seinem schwierigen Start in der Oberstufe geschafft hat, als Erster seiner gesamten Jahrgangsstufe eine Lehrstelle zu finden, das ist unglaublich und erfüllt uns mit Stolz.»
Selbstbewusstsein getankt
Auch Sarina konnte bald darauf feiern, sie unterschrieb als Zweite der Jahrgangsstufe ihren Lehrvertrag als Fachfrau Apotheke EFZ. «Meinem Selbstbewusstsein hat das gutgetan», sagt sie dazu. «Sek-B-Schülerinnen und -schüler werden von aussen oft als die Dümmeren betrachtet. Wir haben gezeigt, dass wir etwas leisten können.» Auch Lennie-Joe hat sein früher Erfolg bestärkt. «Noten sind sicher wichtig für die Lehrstellensuche, aber es ist eben auch die Persönlichkeit, die zählt.»
Und jetzt? – Sind erst einmal Ferien angesagt. Sarina und Lennie-Joe fahren mit seiner Familie ans Mittelmeer, um danach entspannt in den neuen Lebensabschnitt zu starten. «Aber eigentlich freue ich mich so auf meinen Lehrbeginn», sagt der angehende Solarinstallateur, «dass ich am liebsten gleich morgen anfangen möchte.»