Kann man mit Empathie gegen Mobbing ankämpfen?
Millionen Kinder auf der Welt sind von Mobbing betroffen. Gemäss Schätzungen werden in Australien 25 Prozent der Kinder irgendwann in ihrem Leben gemobbt und 10 Prozent mobben andere. In den USA bewegt sich der Anteil der gemeldeten Opfer zwischen 10 und 28 Prozent. Eine globale Datenübersicht von Unicef fand sogar einen noch höheren Anteil: 32 Prozent der Jungen und 36 Prozent der Mädchen.
Insbesondere Cybermobbing ist im Anstieg begriffen und betrifft weltweit bis zu 57 Prozent der Kinder. Bestimmte Gruppen wie LGBTQI sind dabei mehr gefährdet als andere.
Mobbing ist unerwünschtes aggressives Verhalten, das zudem ein Machtgefälle aufweist. Es wiederholt sich sicher oder wahrscheinlich und verursacht beim Opfer Verletzungen oder seelische Not. Junge Menschen betrachten Mobbing manchmal als Ritual zum «Erwachsenwerden», mit dem ein Kind für das «wahre Leben» abgehärtet werden soll.
Doch laut Antonella Brighi, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Freien Universität von Bozen-Bolzana, Italien, ist das komplett falsch. Sie studiert das Phänomen seit fast 15 Jahren. «Wir sprechen hier über eine Form der Gewalt», sagt sie.
Von Bauchschmerzen bis zu Angststörungen
Das Akzeptieren von Mobbing bedeute, dass «wir mit Gewalt in unserem Leben einverstanden sind. Das ist nicht fair. Es steht nicht im Einklang mit den Bürgerrechten aller Menschen, auch der Kinder. Es ist ein Problem, das die Teilnahme der Kinder am Schulalltag einschränkt und lang anhaltende Auswirkungen haben kann».
Einige Konsequenzen von Mobbing können bis ins Erwachsenenalter andauern. Opfer haben häufiger gesundheitliche Probleme als Gleichaltrige, dazu gehören psychosomatische Symptome wie Bauchschmerzen oder Schlaflosigkeit sowie psychische Probleme wie Angststörungen, Depressionen und Suizidgedanken – sogar noch als Erwachsene.
Zur Hauptsache beginnt Präventionsarbeit gegen Mobbing damit, zu verstehen, wer zum Mobber werden könnte.
Mobberinnen können selbst ein erhöhtes Risiko für gesundheitliche Probleme sowie für anti-soziales Verhalten und Straffälligkeit im Erwachsenenalter aufweisen. Entsprechend wird Mobbing mehr und mehr als Problem der öffentlichen Gesundheit wahrgenommen, das Massnahmen in der Prävention und Intervention erfordert.
Zur Hauptsache beginnt Präventionsarbeit gegen Mobbing damit, zu verstehen, wer zum Mobber werden könnte. In Bezug auf die «fünf grossen Persönlichkeitsmerkmale» sind Mobberinnen eher weniger umgänglich, gewissenhaft und offen, dafür stärker extrovertiert und neurotisch.
Tiefere emotionale Intelligenz
Neurotische Kinder weisen eine verstärkte Veranlagung zu emotionaler Instabilität auf, wozu Gefühle wie Wut oder Unsicherheit gehören können. Weniger offene Kinder haben eine eher starre Denkweise und sind weniger bereit, andere Standpunkte zu berücksichtigen.
Offensichtlich kann eine Kombination dieser Eigenschaften bei diesen Kindern eine Veranlagung zum Mobben schaffen. Im Vergleich zu Gleichaltrigen verfügen Mobber allgemein über eine tiefere emotionale Intelligenz und eine schwächere emotionale Regulierung.
Brighi wollte herausfinden, wo sich diese Eigenschaften überschneiden und ob sich emotionale Wesenszüge verbessern lassen – zum Beispiel durch Emotionscoaching. Könnte man das Risiko senken, dass Kinder zu mobben beginnen, wenn man sie dabei unterstützt, eine bessere emotionale Intelligenz im Allgemeinen oder Empathie im Besonderen zu entwickeln?
Und könnte dies speziell hilfreich sein für Kinder mit den oben beschriebenen Risiko-Eigenschaften? In diesem Fall könnte der Nutzen riesig sein: Auf emotionaler Intelligenz basierende Interventionen könnten wirklich helfen, Mobbing zu verhindern.
Emotionale Intelligenz und Empathie halfen, den Risikofaktoren bestimmter Persönlichkeitstendenzen entgegenzuwirken.
Brighi und ihre Kolleginnen fanden heraus, dass bei Kindern im Alter von acht bis zehn Jahren emotionale Intelligenz und Empathie halfen, den Risikofaktoren bestimmter Persönlichkeitstendenzen entgegenzuwirken. Kinder, die emotional weniger stabil waren, fingen beispielsweise eher zu mobben an – es sei denn, sie wiesen eine höhere emotionale Intelligenz auf. Ebenso waren weniger gewissenhafte Kinder eher Mobber – ausser sie verfügten über eine höhere Empathie.
«Die gute Nachricht: Auch wenn wir alle bestimmte Persönlichkeitsmerkmale haben, können gewisse Fähigkeiten erlernt werden», so Brighi. Sie weist darauf hin, dass eine Unterstützung von Kindern bei der Entwicklung von emotionaler Intelligenz und Empathie die Wahrscheinlichkeit verringern könnte, dass sie später andere Kinder mobben.
Es sei ganz besonders interessant, dass sich dieser Effekt bereits bei jungen Kindern im Alter von acht bis zehn Jahren zeige. Das bedeutet, dass eine Intervention bei jungen Kindern langfristig grosse Vorteile bringen könnte.
Das gelte insbesondere, weil Kinder vom Verhalten der anderen um sie herum lernen. Wenn sie Mobbing sähen, erlebten sie eine «Art progressiven Lernens von Aggression und einer Umgangsweise mit anderen, die Gewalt und Beschimpfung ins Zentrum ihrer Beziehungen rückt», sagt Brighi. «Wenn wir diesen Teufelskreis nicht durchbrechen, riskieren wir, dass das Problem noch viel schlimmer wird.»
Einfache Strategien können helfen
Auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse testet Brighi zurzeit ein Anti-Mobbing-Programm für Lehrpersonen. Doch Betreuungspersonen und Lehrkräfte müssen nicht auf eine strukturierte Mobbing-Intervention warten, um etwas zu bewirken.
Einfache Strategien können den Kindern dabei helfen, emotionale Intelligenz zu entwickeln: zum Beispiel das Spiegeln des Gesichtsausdrucks eines Kindes, Fragen zu seinem Gemütszustand oder die Frage, wo in seinem Körper es Emotionen spürt. «Sie können bereits dann Empathie vermitteln, wenn Sie Kindern dabei helfen, den Standpunkt einer anderen Person zu verstehen», erklärt Brighi.
BOLD
Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.