Wann bekommt mein Kind einen Nachteilsausgleich? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wann bekommt mein Kind einen Nachteilsausgleich?

Lesedauer: 6 Minuten

Mehr Zeit bei den Prüfungen, andere Formen der Lernkontrolle und das Hinzuziehen von Hilfsmitteln: Massnahmen, um Kindern und Jugendlichen Prüfungssituationen zu erleichtern, gibt es einige –
aber wer hat Anrecht auf einen Nachteilsausgleich und wer nicht?

Lia ist eine aufgeweckte Sechstklässlerin. Ihre Primarschulzeit hat sie ohne nennenswerte Probleme durchlaufen. Doch seit einigen Wochen macht sie kaum mehr etwas für die Schule. Aufgrund der stark gesunkenen Leistungen steht der Übertritt in den anspruchsvollsten Klassentypus der Sekundarstufe plötzlich infrage.

Robin besucht die vierte Klasse. Das Lernen fiel ihm seit Beginn seiner Schulzeit schwer. Obwohl sich der Junge immer voll einsetzte, brauchte er für fast alle Lerninhalte länger als seine Kameraden. Jetzt, in der Mittelstufe, öffnet sich die Leistungsschere immer weiter. Das macht Robin und auch seinen Eltern grosse Sorgen.

Behinderungsbedingte ­Nachteile müssen nach dem Gesetz ausgeglichen werden, insbesondere bei Prüfungen.

Eronita zog vor einem Jahr mit ihren Eltern in die Schweiz. Sie hat die deutsche Sprache von Grund auf lernen müssen und machte rasch Fortschritte. Trotzdem entsprechen ihre schulischen Leistungen noch nicht denjenigen, die sie aufgrund ihres intellektuellen Potenzials ­zeigen könnte.

Lia, Robin und Eronita haben derzeit mit unterschiedlichen Schwierigkeiten und «Nachteilen» bezüglich ihres Lernens und ihres Schulerfolgs zu kämpfen. Haben sie deshalb Anrecht auf einen Nachteilsausgleich in der Schule? Nein, das haben sie nicht. Jedoch: Sie haben Anrecht auf eine gezielte Unterstützung auf ihrem Lern- und Entwicklungsweg. Aber dazu später mehr.

Die Bundesverfassung verbietet Diskriminierung

Unbestritten ist: Für einzelne Schülerinnen und Schüler kann und muss es einen Nachteilsausgleich geben. Was sind das für Kinder und Jugendliche? Wo ist definiert, wer Anspruch darauf hat? Und wie muss man sich Massnahmen des Nachteilsausgleichs genau vorstellen?

Eine erste Antwort finden wir in der Bundesverfassung. Dort steht in Artikel 8, dass kein Mensch diskriminiert werden darf, sei es wegen seiner Herkunft, des Geschlechts, der sozialen Stellung oder einer Behinderung.

Bild: Gaetan Bally/Keystone
Bild: Gaetan Bally/Keystone
Der letzte Punkt wird im sogenannten «Behindertengleichstellungsgesetz» konkretisiert. Dieses legt unter anderem fest, dass behinderungsbedingte Nachteile bei der Bildung ausgeglichen werden müssen, insbesondere bei Prüfungen.

Massnahmen müssen stets ­individuell festgelegt und ­dürfen nie standardmässig umgesetzt werden.

Genau das ist mit «Nachteilsausgleich» gemeint: Wenn ein Mensch aufgrund einer Behinderung sein Wissen und Können nicht richtig zeigen kann, muss ihm ein individueller Nachteilsausgleich gewährt werden.

Ungleichbehandlung, um ­Gleichbehandlung zu erreichen

Stellen Sie sich einen jungen Mann vor, der kurz vor der Lehrabschlussprüfung zum Zimmermann steht – einer anspruchsvollen Lehre, die viel praktisches und theoretisches Wissen voraussetzt. Die mündliche Abschlussprüfung im Fach Berufskunde steht an. Während 30 Minuten soll er dabei beweisen, was er bezüglich dieses Themas weiss. Er hat sich gut vorbereitet und beherrscht den Stoff. Nur: Er stottert stark, vor allem in Stresssituationen. Es ist absehbar, dass er während dieser mündlichen Prüfung nur einen kleinen Teil seines Wissens zeigen kann.

Hier greift das Behindertengleichstellungsgesetz. Die Prüfungsbedingungen müssen für diesen jungen Mann aufgrund seiner Behinderung angepasst werden. In einem gemeinsamen Treffen unter Einbezug der Schulleitung wird eine schriftliche Vereinbarung erstellt. In ihr ist festgehalten, dass eine individuelle, einstündige schriftliche Prüfung durchgeführt wird.

Damit kann eine Diskriminierung des Prüflings aufgrund seiner Behinderung verhindert werden. Mit anderen Worten: Durch eine bewusste Ungleichbehandlung wird eine Gleichbehandlung erreicht.

Es braucht konkrete Leitplanken ­­für die Einschätzung im Einzelfall

Nicht immer ist die Frage des Nachteilsausgleichs so klar und eindeutig zu beantworten wie beim Beispiel dieses Zimmermannlehrlings. Wie ist die Situation bei einer leichten Autismus-Spektrum-Störung einzuschätzen? Bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche? Oder bei einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)?

Man kommt nicht dank einer ­Behinderung leichter durch eine Prüfung oder erhält eine bessere Note. Das wäre unfair.

Hier ist es tatsächlich etwas komplizierter. Deshalb ist wichtig, nicht nur die Gesetzestexte als Entscheidungsgrundlage heranzuziehen. Es braucht konkretere Leitplanken, um gemeinsam einschätzen zu können, wann ein Nachteilsausgleich gerechtfertigt ist und wann nicht. Zu beachten sind insbesondere die folgenden drei Punkte:

  • Eine Funktionseinschränkung im Sinne einer Behinderung muss klar diagnostiziert sein. Weil ein Nachteilsausgleich nur dann infrage kommt, wenn eine ausgewiesene Behinderung vorliegt, braucht es ein Gutachten einer anerkannten Fachstelle. Neben der Diagnose muss beschrieben werden, wie sich die behinderungsbedingten Funktionseinschränkungen beim Lernen und in Prüfungssituationen konkret auswirken.
  • Massnahmen des Nachteilsausgleichs müssen individuell fest­gelegt werden. Nachteilsausgleichsmassnahmen dürfen nie standardmässig umgesetzt werden, beispielsweise im Sinne von: «Bei Schülern mit ADHS-Diagnose geben wir bei allen Prüfungen 20 Prozent Zeitzuschlag.» Vielmehr muss individuell eingeschätzt werden, welche Massnahmen im individuellen Fall angemessen und fair erscheinen.
  • Die Bildungsziele, die es zu erreichen gilt, dürfen inhaltlich nicht reduziert werden. Daher ist es falsch, von «Prüfungserleichterungen» zu sprechen. Dieser Begriff suggeriert, dass man dank einer Behinderung einfacher durch die Prüfung kommt oder eine bessere Note erhält. Das wäre gegenüber den anderen Schülerinnen und Schülern unfair.

Die gängigsten Massnahmen des Nachteilsausgleichs

Die häufigste Nachteilsausgleichsmassnahme ist das Gewähren von mehr Zeit bei Prüfungen. Diese Massnahme ist beispielsweise geeignet beim Vorliegen einer diagnostizierten Lese-Rechtschreib-Schwäche: Mit mehr Zeit können die Aufgaben besser erfasst werden und das nochmalige Überprüfen des Geschriebenen kann die Anzahl Rechtschreibefehler reduzieren.

Eine weitere Möglichkeit besteht (wie beim Beispiel des Zimmermannlehrlings) darin, den Prüfungsmodus zu ändern: schriftlich statt mündlich, oder auch umgekehrt.

Die Erlaubnis, gewisse Hilfsmittel benützen zu dürfen, kann behinderungsbedingte Einschränkungen verringern helfen. Bei motorischen Störungen ist das Schreiben mit Tastatur oft besser möglich als von Hand. Bei ausgeprägter Leseschwäche kann ein Tablet hilfreich sein, mit dem Texte fotografiert, digitalisiert und über Kopfhörer angehört werden können.

Bild: Philip Frowein/Plainpicture
Bild: Philip Frowein/Plainpicture
Schülerinnen und Schüler, die beispielsweise aufgrund einer Autismus-Spektrum-Störung bei Prüfungen auf absolute Ruhe angewiesen sind, können die Erlaubnis erhalten, die Prüfung in einem separaten Raum durchzuführen.
Diese Aufzählung macht nochmals deutlich, dass bei Nachteilsausgleichsmassnahmen keine inhaltlichen Änderungen am Lernstoff gemacht werden. Es werden lediglich die äusseren Rahmenbedingungen des Lernens oder der Prüfungen angepasst. Das ist für die Schule immer mit organisatorischem Aufwand verbunden. Ein gewisser Aufwand vonseiten der Lehrpersonen kann erwartet werden. Der Aufwand muss aber in einem angemessenen Rahmen bleiben, damit er im schulischen Alltag leistbar ist.

Erschwerungen des Lernens, aber kein Nachteilsausgleich?

Erinnern wir uns nochmals an Lia, Robin und Eronita. Sie alle haben es beim Lernen nicht einfach, aber ein Nachteilsausgleich ist bei ihnen nicht angezeigt. Weshalb genau – und wie können sie angemessen unterstützt werden?

  • Lia macht zwar eine schwierige Phase durch, hat deswegen aber nicht eine eigentliche Behinderung. Nachteilsausgleich ist bei ihr deshalb nicht der richtige Ansatz. Wichtig ist, dass an einem Standortgespräch ihre aktuelle Situation besprochen wird. Vielleicht finden die Beteiligten gemeinsam hilfreiche Lösungen. Allenfalls ist der Beizug des Schulsozialarbeiters oder der Schulpsychologin sinnvoll.
  • Robin ist zunehmend nicht mehr in der Lage, die regulären Lern­ziele zu erreichen. Angepasste Lernziele sowie eine entsprechende sonderpädagogische Unterstützung erscheinen für ihn sinnvoll. Um dieses Vorgehen zu prüfen, sind ein Standortgespräch und eine Einschätzung des Schulpsychologischen Dienstes wichtig. Weil bei einem Nachteilsausgleich immer reguläre Lernziele verfolgt werden, sind Nachteilsausgleichsmassnahmen bei Robin nicht passend.
  • Eronita muss bezüglich ihres Nachteils, die Unterrichtssprache noch ungenügend zu beherrschen, gezielt mit Unterricht in «Deutsch als Zweitsprache» unterstützt werden. Weil erkannt wurde, dass sie voraussichtlich hohe Lernziele erreichen kann, muss sie auf diesem Weg von ihren Lehrpersonen gut begleitet werden. Ein Nachteilsausgleich wäre bei ihr weder zu legitimieren, noch würde ihr diese Massnahme etwas bringen.

Wie können Eltern oder Lehrpersonen vorgehen, wenn sie unsicher sind, ob ein Nachteilsausgleich bei einer Schülerin oder einem Schüler angezeigt ist?
Der erste Schritt ist immer ein gemeinsames Standortgespräch. Dabei könnte der folgende «Fünf-Punkte-Fragenkatalog» sinnvoll sein. Ergänzt sind jeweils die Antworten zum Beispiel des beschriebenen Zimmermannlehrlings.

1. Was ist der Kern dessen, was erreicht werden soll?

 Das Wissen in Berufskunde soll an der Lehrabschlussprüfung gezeigt werden können.

2. Hat die Schülerin/der Schüler das Potenzial, die geforderte Leistung zu zeigen?
 Ja, der Jugendliche hat die Fähigkeit, sich dieses Wissen anzueignen.

3. Wurde eine Behinderung von einer anerkannten Fachstelle diagnostiziert?
 Ja, das schwere Stottern ist in einem logopädischen Gutachten nachgewiesen.

4. Welche Barrieren bestehen aufgrund der Behinderung?
Das erlernte Wissen im Fach Berufskunde kann in der vorgesehenen 30-minütigen mündlichen Prüfung aufgrund des schweren Stotterns nicht gezeigt werden.

5. Welche Nachteilsausgleichsmassnahmen können diese Barriere beseitigen helfen?
Die Prüfung wird schriftlich durchgeführt. Die Dauer wird auf eine Stunde festgelegt.

Ausgleichende Massnahmen sollen selten eingesetzt werden

Massnahmen des Nachteilsausgleichs sollten in der Volksschule eher selten eingesetzt werden. Die meisten Erschwerungen des Lernens können mit einem differenzierten Unterricht oder auch mit sonder­pädagogischen Massnahmen gut aufgefangen werden. Für Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung kann die Vereinbarung eines Nachteilsausgleichs jedoch sehr wichtig sein, damit sie diejenigen Ausbildungsziele erreichen können, die ihren Fähigkeiten entsprechen.

Infos zum Nachteilsausgleich

Mehr zum Thema gibt es auf der Website unseres Autors: peterlienhard.ch/contents/nachteilsausgleich.html

Dort finden Sie unter anderem die folgenden Links und Dokumente zum Herunterladen:

  • Der «Orientierungsrahmen Nachteilsausgleich» sowie die «Wegleitung Nachteils­ausgleich» bieten vertiefte Informationen zum Nachlesen.
  • Ein Kurzfilm des Zürcher Volksschulamts erklärt den Nachteilsausgleich kompakt in drei Minuten.
  • Ausführlichere Informationen erhalten Sie in einem 45-minütigen Referat von Peter Lienhard.
  • Schriftliche Nachteilsausgleichsvereinbarungen liegen in Form eines leeren Rasters und eines ausgefüllten Beispiels vor.

Peter Lienhard arbeitet an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich. Er ist ausgebildeter Lehrer, Sonderpädagoge, Schulpsychologe und Ethiker.
Peter Lienhard arbeitet an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich. Er ist ausgebildeter Lehrer, Sonderpädagoge, Schulpsychologe und Ethiker.


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