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Wie Wut uns weiterbringt

Lesedauer: 4 Minuten

Wut gilt gemeinhin als schlechtes Gefühl. Dabei vergessen wir oft die produktive Kraft, die diese Emotion in sich birgt. Wie können wir sie so nutzen, dass unser Ärger uns weiterbringt?

Wann waren Sie das letzte Mal so richtig wütend auf jemanden? Und wie sind Sie mit diesem Gefühl umgegangen? Sind Sie laut geworden und haben Dinge gesagt, die Sie hinterher bereut haben? Haben Sie den Ärger heruntergeschluckt und so getan, als wäre nichts? Oder ist es Ihnen gelungen, konstruktiv mit Ihrer Wut umzugehen? Und, apropos: Wie sieht das überhaupt aus?

Wut hat bei Eltern einen schweren Stand. Wenn der Ärger in Kindern hochkocht, löst das bei Müttern und Vätern eine ganze Palette unangenehmer Emotionen aus. Vielleicht fühlen wir uns hilflos, weil das Kind Grenzen übertritt und überhaupt nicht mehr auf uns reagiert.

Vielleicht schämen wir uns für das «Theater», das sich hier vor den Augen anderer abspielt, und hinterfragen unsere Erziehungskompetenz.

Vielleicht schämen wir uns für das «Theater», das sich hier vor den Augen anderer abspielt, und hinterfragen unsere Erziehungskompetenz. Oder wir bekommen es mit der Angst zu tun: «Was ist mit meinem Kind los? Wenn er das nicht in den Griff kriegt, sehe ich schwarz. Ich will ihn dann mit 16 nicht auf der Polizeiwache abholen müssen!»

Vielleicht löst die Reaktion des Kindes aber auch komplettes Unverständnis aus: «Jetzt komm mal wieder runter! Es gibt keinen Grund, wegen so einer Kleinigkeit auszuflippen!» Oder das Kind steckt uns an und wir geraten selbst in Rage.

Rasch entwickelt sich ein Tunnelblick – man will die Wut des Kindes so schnell wie möglich abstellen: «Schluss jetzt! Ich will nichts mehr hören! Geh auf dein Zimmer, bis du dich beruhigt hast!»

Wie die Ursprungsfamilie unseren Umgang mit Wut prägt

Mit der eigenen Wut oder derjenigen der Kinder zurechtzukommen, ist besonders dann schwierig, wenn wir Eltern hatten, die ihrem Ärger freien Lauf gelassen oder ihn aber ständig unterdrückt haben.

Eine Mutter erinnert sich: «Mein Vater war ein echter Choleriker. Schon Kleinigkeiten konnten ihn zum Ausrasten bringen und man hat nie gewusst, wann er das nächste Mal explodiert. Wir Kinder mussten aufpassen, damit wir ihm keinen Anlass dazu gaben.

Unsere Mutter musste ihn dauernd beschwichtigen, ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen. Ihre eigene Wut hat sie in sich reingefressen. Ich habe mir geschworen, dass ich nie so mit meinen Kindern umgehen werde.»

Wir können uns gut vorstellen, wie sehr die Wut ihres Sohnes besagte Mutter in Alarmbereitschaft versetzt. Wenn ihr Sohn tobt, gerät sie in Panik: Auf keinen Fall darf er auch so ein Choleriker werden! In Wut und Ärger steckt für die Mutter so viel Schädliches und Bedrohliches, dass sie sich von diesen Gefühlen komplett distanzieren will. 

Wut kann eine produktive Kraft sein, die uns erlaubt, für uns einzustehen und anderen Menschen klarzumachen: Hier bin ich.

Wir alle werden wütend. Und zwar immer dann, wenn etwas nicht so gelaufen ist, wie wir es für richtig empfunden hätten. Für die Zweijährige kann das «falsch geschnittene» Brot zum Anlass für Wut werden, für die Jugendliche der Umgang der Gesellschaft mit unserem Planeten und für den Erwachsenen der Drucker, der das dringend benötigte Dokument nicht ausspucken will.

Der Ärger nimmt zu, wenn wir unter Druck stehen, erschöpft sind und den Eindruck haben, dass eine andere Person uns mit Absicht behindert, geringschätzt oder uns schaden will.

Wut lässt uns für die eigenen Grenzen einstehen

Wenn wir unseren Ärger stets unterdrücken, machen wir uns taub für die Empfindung, dass etwas nicht so ist, wie es aus unserer Sicht sein sollte. Wir nehmen nicht mehr wahr, wenn jemand unsere Grenzen verletzt, verlieren den Blick für unsere eigenen Bedürfnisse und sind nur noch damit beschäftigt, andere zufriedenzustellen.

Wut kann eine produktive Kraft sein, die es uns erlaubt, für uns einzustehen, etwas zu verändern, uns aus toxischen Beziehungen zu lösen, uns gegen Ungerechtigkeiten zu wehren und anderen Menschen klarzumachen: Hier bin ich. Hier liegt meine Grenze und ich verlange, dass du sie respektierst. 

Um die konstruktive Kraft des Ärgers für uns nutzen zu können, müssen wir diesen zulassen und genauer betrachten können. Die Psychologin und Autorin Marcia Reynolds rät in diesem Zusammenhang dazu, an eine Situation zu denken, die einen wütend gemacht hat, und sich dabei zu überlegen: «Was war nicht so, wie es meiner Ansicht nach hätte sein sollen? Was hätte ich mir gewünscht? Respekt? Verständnis? Anerkennung? Gerechtigkeit? Ruhe?»

Nun können wir uns fragen: Will ich die Wut behalten oder loslassen? Eine Möglichkeit, uns von der Wut zu lösen, kann sein, die Situation neu zu bewerten. Vielleicht wird uns bewusst, dass wir bei einem Konflikt ebenfalls überreagiert haben, und wir können der anderen Person verzeihen. Oder wir merken, dass wir zu viel von unserem Kind erwartet haben, und können nachsichtiger mit ihm sein.

Möglicherweise erkennen wir beim Gegenüber auch eine gute Absicht hinter dem Verhalten, das uns so geärgert hat. Wenn wir die Situation in einem neuen Licht betrachten, ändern sich auch unsere Gefühle.

Geduld ist gefragt

Manchmal aber werden wir bemerken: Meine Wut ist berechtigt und ich muss mich für mich selbst einsetzen. Dann kann sie zu einem starken Motor werden, um etwas zu verändern.

Das muss nicht auf aggressive Art geschehen: Vielleicht sprechen wir beim nächsten Mal einfach aus, dass wir wütend sind, um dem Gegenüber die Möglichkeit zu geben, darauf zu reagieren. Vielleicht fordern wir mehr Respekt oder eine Entschuldigung ein, haben den Mut, Nein zu sagen und uns abzugrenzen. Oder wir finden neue Wege, um das zu erreichen, was uns wichtig ist, setzen uns ein Ziel, suchen uns Unterstützung und machen uns an die Arbeit.

Wenn wir unseren Ärger stets unterdrücken, nehmen wir nicht mehr wahr, wenn jemand unsere Gefühle verletzt.

Ein reifer Umgang mit Wut beinhaltet, dass wir dieses Gefühl wahrnehmen, zulassen und benennen können, ohne bedrohlich oder destruktiv zu reagieren. Und dass wir in der Lage sind, hinter die Wut zu schauen, zu verstehen, welche Bedürfnisse verletzt wurden und wie wir damit umgehen möchten.

Das ist unheimlich schwierig und stellt für fast alle Erwachsenen eine Herausforderung dar. Kinder können damit verbundene Fähigkeiten nur in kleinen Schritten entwickeln. Haben wir also Geduld mit ihnen und uns selbst – und machen wir uns auf den Weg, uns mit der Wut zu versöhnen und sie in gute Bahnen zu lenken. Zu diesem Anlass werden sich auch unsere nächsten beiden Kolumnen mit der Frage beschäftigen, was uns und unseren Kindern im Umgang mit der Wut hilft.

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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