Teilen

«Adolescence» – eine sehenswerte Zumutung

Aus Ausgabe
07+08 / Juli + August 2025
Lesedauer: 6 min

«Adolescence» – eine sehenswerte Zumutung

Was Eltern über die erfolgreiche Netflix-Serie wissen müssen und in welchem Fall sie auch Jugendliche anschauen können.
Text: Thomas Feibel

Illustration: Petra Duvkova / Die Illustratoren

Stand heute ist «Adolescence» eine der erfolgreichsten Netflix-Serien aller Zeiten. Mit weltweit über 100 Millionen Streaming-Abrufen hängt sie seit ihrem Start im März 2025 die bekanntesten US-Mehrteiler ab und sorgt für Diskussionen.

Die Serie hat einen Nerv getroffen: Wie viel wissen Eltern wirklich darüber, was Kinder mit Computer und Smartphone treiben?

Dabei setzt die britische Produktion weder auf bekannte Superstars noch auf spektakuläre Actionszenen. Anscheinend hat der Vierteiler einen Nerv getroffen: Wie viel wissen Eltern und Pädagogen wirklich darüber, was Kinder mit Computer und Smartphone treiben? Was kann passieren, wenn Eltern Warnsignale übersehen und ihre Kinder unbemerkt in radikale Online-Communitys abdriften?

Auf den ersten Blick mag die Serie nach einem gewöhnlichen Krimi aussehen. Tatsächlich ist «Adolescence» ein extrem aufwühlendes, forderndes Drama – und eine sehenswerte Zumutung.

Worum geht es?

Zu Beginn der ersten Folge wird der 13-jährige Jamie Miller wegen Mordverdachts an einer Mitschülerin festgenommen. Zwar beteuert der Junge seine Unschuld, doch die Aufnahme eines Überwachungsvideos zeigt ihn bei der Tat mit einem Messer.

Anfangs tappt die Polizei zu seinen Motiven noch im Dunkeln. Doch bald wird deutlich, dass das Opfer den Täter online gemobbt und gedemütigt hat. In einer Schlüsselfolge lotet eine erfahrene psychologische Gutachterin Jamies seelische Abgründe aus und gerät an ihre persönlichen Grenzen. Die letzte Episode zeigt die tragischen Folgen für Jamies Eltern und seine ältere Schwester.

Was macht die Serie so intensiv?

Dass «Adolescence» eine so ungeheuer beklemmende und intensive Wirkung entfalten kann, ist vor allem ihrer besonderen Erzählweise zu verdanken. Jede der einstündigen Folgen spielt in Echtzeit und wurde in einem aufwendigen One Shot gedreht – also ohne Schnitt. Das verleiht der Serie nicht nur ein hohes Tempo, sondern zieht die Zuschauenden noch viel tiefer in das Geschehen hinein. Man kommt dabei den Protagonisten fast schon beängstigend nah.

Ein weiterer Grund sind die wahren Hintergründe der fiktionalen Story. Im Jahr 2020 wurden in England zwei junge Mädchen von jugendlichen Tätern ermordet. Das brachte den Schauspieler und Drehbuchautor Stephen Graham auf die Idee zur Miniserie, die er gemeinsam mit seinem Co-Autor Jack Thorne entwickelte.

Natürlich ist die Serie eine Überspitzung. Nicht jeder Jugendliche, den ein Mädchen zurückweist, wird im Internet radikalisiert und dann zum Mörder.

Wie aktuell das Thema ist, belegten zuletzt diese Zahlen: In den Jahren 2023/24 haben die von englischen Jugendlichen begangenen Messer-Gewalttaten um neun Prozent zugenommen. Zahlreiche Kinder und Jugendliche landeten mit Stichwunden in Krankenhäusern, 40 starben.

Natürlich ist «Adolescence» eine dramaturgische Überspitzung. Nicht jeder Jugendliche, den ein Mädchen zurückweist, wird im Internet radikalisiert und dann zum Mörder.

Welchen Einfluss kann das Internet auf diese Gewalttaten haben?

Im Internet gibt es Begriffe und Bewegungen, von denen viele Eltern noch nie gehört haben dürften. So wurde in «Adolescence» Jamie vom Mordopfer auf Social Media für alle Mitschüler offen sichtbar als Incel verhöhnt. Das ist die Abkürzung von «involuntary celibate», zu Deutsch unfreiwillig enthaltsam.

Incels sind Männer, die keinen Erfolg bei Frauen haben. Ihre daraus resultierende Frustration hat sich inzwischen zu einer regelrechten Subkultur im Netz entwickelt, die Frauen und die Emanzipationsbewegung für ihr Single­dasein verantwortlich macht. Darum äussern sich deren Exponenten online auffallend aggressiv, extrem frauenfeindlich und scheuen auch nicht vor heftigen Gewaltfantasien zurück.

Incels werden der sogenannten Manosphere zugeordnet. Manosphere ist eine über Foren, Blogs und Social-Media-Kanäle verteilte Onlinekultur, die die angebliche überlegene Männlichkeit propagiert und sich durch betonte Frauenfeindlichkeit, Sexismus und Hass auszeichnet. Diese verheerende Mischung spricht besonders junge Männer an und kann zu ihrer Radikalisierung führen.

Als einer ihrer führenden Idole gilt Andrew Tate. Der Influencer und ehemalige Kickboxer erreicht mit seinen fragwürdigen Äusserungen auf Tiktok, Instagram und Youtube ein Millionenpublikum. Für junge Männer, die nach Orientierung suchen, besitzt er Vorbildcharakter. Das deutet auch die Streamingserie an, ohne seinen Namen explizit zu nennen.

Laisser-faire zahlt sich nicht aus. Jugendliche legen das nicht als Grosszügigkeit, sondern als Gleichgültigkeit aus.

Influencer toxischer Männlichkeit sind nicht allein im englischsprachigen Raum ein Thema – auch hierzulande wird inzwischen intensiv darüber diskutiert. «Die Hassbotschaften, die sie verbreiten, richten sich an noch formbare Jungen», erklärte kürzlich Nationalrat Christophe Clivaz (Grüne, VS) in den Tamedia-Zeitungen. «Das ist keine Anekdote – es besteht dringender Handlungsbedarf.»

Welche Lehren können Eltern ziehen?

In «Adolescence» haben die Eltern nichts unternommen, wenn ihr 13-jähriger Sohn noch nach Mitternacht am Rechner sass. Kinder und Jugendliche brauchen in der Mediennutzung inhaltlich und zeitlich klare Grenzen – und ihren Schlaf. Laisser-faire zahlt sich nicht aus. Jugendliche legen das nicht als Grosszügigkeit, sondern als Gleichgültigkeit aus.

In einer anderen Schlüsselszene wird der Polizist von seinem schulpflichtigen Sohn damit konfrontiert, dass er die Emojis im Chatverlauf nicht richtig deutet und darum das Mordmotiv, also die Verhöhnung, nicht erkennen kann.

Für Erwachsene ist es jedoch schwer bis unmöglich, einen Überblick über all die Codes in der Jugendkultur zu erhalten. Im engen Austausch mit Kindern könnte aber jeder zu solchen Themen auf dem Laufenden bleiben. Denn Emojis sind und bleiben ein wichtiger Bestandteil der jugendlichen Kommunikation. Sie transportieren Gefühle, wenn die richtigen Worte dazu fehlen.

«Adolescence» kann eine präventive Wirkung entfalten und liefert wichtige Gesprächsanlässe. Die Serie kann aber auch überfordern, verstören oder sogar traumatisieren.

Eine weitere Erkenntnis aus «Adolescence» betrifft das Thema Schulklima. Mobbing unter Schülerinnen und Schülern steht in der dargestellten Schule auf der Tagesordnung. Die Lehrkräfte reagieren unangemessen, hilflos oder ducken sich weg. Mobbing mag viele Ursachen haben. Aber wenn es an der Schule an Sicherheit und Wertschätzung mangelt, kann das Frust und Aggression bei Jugendlichen zusätzlich verstärken.

Sollen wir «Adolescence» mit den Kindern schauen?

Die Serie ist ab 12 Jahren. In England wird «Adoles­cence» an Schulen kostenlos gestreamt, seitdem sie der Premierminister Keir Starmer zusammen mit seinen Kindern geschaut hat. Sollte «Adolescence» zur Abschreckung eingesetzt werden, sind solche Vorführungen eher kontraproduktiv.

Wenn es aber einen Rahmen gibt, bei dem die Reflexion vonseiten Erwachsener unterstützt wird, spricht nichts dagegen. «Adolescence» kann eine präventive Wirkung entfalten und liefert wichtige Gesprächsanlässe. Hier sollte jedoch die Reife der Jugendlichen berücksichtigt werden, im ungünstigsten Fall kann die Serie auch überfordern, verstören oder sogar traumatisieren. Eltern sollten sie in jedem Fall zuerst allein ansehen – und erst danach entscheiden, ob und wie sie sie gemeinsam mit ihren Kindern besprechen möchten.