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Mein Kind ist ein Eigen­brötler!

Aus Ausgabe
07+08 / Juli + August 2025
Lesedauer: 5 min

Mein Kind ist ein Eigen­brötler!

Es gibt Kinder, die wortkarg sind, wenig gesellig und gerne alleine. Das muss kein Grund zur Sorge sein. Folgende Impulse können helfen, sie besser zu verstehen und zu unterstützen.
Text: Stefanie Rietzler

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Während ihre Gspänli in der Pause in Grüppchen spielen oder plaudern, stecken sie ihre Nase lieber in ein Buch oder beschäftigen sich alleine. Schnell kommt bei Gruppenarbeiten die Frage: «Kann ich das auch allein machen?» Bei Treffen mit anderen Familien gehen sie kaum auf die Spieleinladungen oder Fragen der Bekannten ein. Lieber verkriechen sie sich mit einem Hörbuch in ihrem Zimmer, wollen gleich wieder nach Hause oder fragen unvermittelt, wann der Besuch denn wieder weg sei.

Die Rede ist von sogenannten Eigenbrötlern. Oft pflegen sie kaum Freundschaften zu Gleichaltrigen, finden Geburtstags- oder Klassenpartys stressig und wirken wortkarg. Interessieren sie sich brennend für ein Gebiet oder Hobby, können sie sich lange und intensiv damit beschäftigen – auch wenn die Themen für Gleichaltrige oft langweilig scheinen.

Nicht selten schiessen sie sich auf eine (meist erwachsene) Person ein, um dann mit ihren Leidenschaften herauszusprudeln. Und häufig haben sie klare Vorstellungen davon, wie mit bestimmten Spielsachen gespielt werden sollte. Halten sich andere Kinder nicht daran oder bringen eigene Ideen ein, kippt die Stimmung schnell.

«Warum ist mein Kind so eigenbrötlerisch?», fragen Eltern sich in der Folge, und: «Wie sollen wir darauf reagieren?» Sehen wir uns zunächst die häufigsten Gründe dafür an, warum Kinder und Jugendliche sich so verhalten.

Die 5 häufigsten Gründe

1. Das individuelle Temperament des Kindes

Manche Kinder sind von Natur aus introvertierter und reagieren sensibler auf ihre Umwelt. Sich in der Schule oder in der Freizeit in grösseren Gruppen zu bewegen, laugt sie aus. Entsprechend brauchen sie mehr Zeit für sich, um wieder Kraft zu tanken.

2. Schüchternheit, soziale Unsicherheit und Ängste

Manche Kinder wissen nicht, wie sie auf andere zugehen sollen oder worüber sie sich mit Gleichaltrigen unterhalten könnten. Schnell plagt sie die Angst, abgewiesen zu werden, etwas Falsches zu sagen oder sich zu blamieren. Als Beobachter fühlen sie sich sicherer.

3. Hochbegabung und Spezialinteressen

Kindern mit aussergewöhnlichen Begabungen oder Interessen fällt es manchmal schwer, Anknüpfungspunkte mit Gleichaltrigen zu finden. Oft halten sie sich deshalb lieber an Erwachsene, die sich freimütiger auf ihre Leidenschaften einlassen und ähnlich schnell beziehungsweise tiefgründig nachdenken wie sie selbst.

4. Neurodivergenz

Menschen unterscheiden sich in der Wahrnehmung und Verarbeitung von (sozialen) Reizen. So zeigen beispielsweise viele Kinder im Autismus-Spektrum besondere Spielvorlieben, suchen eher das Vertraute, die Wiederholung, das Vorhersehbare – was allein oder mit einer vertrauten Person oft am besten umsetzbar ist.

5. Negative Beziehungserfahrungen

«Sind mir andere Menschen wohlgesinnt? Kann ich ihnen vertrauen? Sind sie für mich da, wenn ich Hilfe brauche? Bin ich es wert, dass man sich auf mich einlässt?» Die Antworten auf solche bindungsrelevanten Fragen entwickeln wir durch Erfahrungen mit unserem Umfeld. Kinder und Jugendliche, die von ihren Bezugspersonen oder Gleichaltrigen oft zurückgewiesen, alleingelassen, beschämt, angegriffen oder bestraft wurden, entwickeln häufig die Strategie, sich von anderen fernzuhalten und sich nur auf sich selbst zu verlassen, um Sicherheit und Kontrolle zurückzuerlangen.

Machen Sie sich bewusst, welche Stärken hinter den vermeintlichen Schwächen Ihres Kindes stecken.

Natürlich können die bisher beschriebenen Ursachen auch in Kombination auftreten. Je nach Hintergrund können die folgenden Impulse zu mehr Verständnis und neuen Lösungsansätzen beitragen.

7 Tipps für mehr Verständnis

1. Sich ehrlich fragen, wer das Problem hat

Sprechen Sie mit Ihrem Kind in Ruhe darüber, ob es gerne für sich spielt oder sich manchmal mehr Kontakt zu anderen wünscht. Oft merkt man dabei: Dem Kind geht es gut! Vielmehr sorgen oder schämen sich die Eltern, dass das Kind «anders», «unsozial» oder «wenig teamfähig» wirkt – und Freundschaften mit anderen Familien dadurch schwieriger werden. Manchmal wird auch klar: Das Kind leidet unter seiner Situation und braucht Hilfe, etwa, weil es nicht weiss, wie es auf andere zugehen kann, es gemieden oder sogar gemobbt wird.

2. Das Wesen des Kindes akzeptieren

Je mehr wir Kindern vermitteln, dass sie mit ihrer Persönlichkeit «gut genug» sind und ihren Platz in der Gesellschaft finden werden, desto eher können sie auch ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Verzichten Sie auf negative Zuschreibungen wie «Er ist so ein Eigenbrötler» oder «Sie ist so schüchtern», die Ihrem Kind vermitteln, dass etwas mit ihm nicht stimmt.

3. Ressourcenbrille statt Defizitblick

Machen Sie sich bewusst, welche Stärken hinter den vermeintlichen Schwächen Ihres Kindes stecken: Vielleicht ist es besonders selbständig, grenzt sich gut gegen Gruppendruck ab, kann sich allein beschäftigen, beobachtet konzentriert, pflegt wenige tiefe Freundschaften anstatt vieler oberflächlicher Kontakte, hat eine sorgfältige und gründliche Arbeitsweise oder ist besonders kreativ? Nehmen Sie diese Perspektive bewusst ein, wenn Sie Ihrem Kind Rückmeldungen geben oder mit anderen über seine Besonderheiten sprechen.

Planen Sie vor oder nach sozialen Aktivitäten bewusst ruhige Zeiten möglichst ohne Programm ein.

4. Soziale Gelegenheiten schaffen, aber nicht erzwingen

Bahnen Sie soziale Kontakte in kleinen Schritten an und achten Sie darauf, womit sich Ihr Nachwuchs wohlfühlt. Vielleicht gibt es ein Kind mit ähnlichen Interessen, mit dem es sich im vertrauten Umfeld für eine zeitlich begrenzte Aktivität treffen möchte? Anstatt zu drängen: «Mach doch mal mit den anderen mit!», könnten Sie fragen: «Hast du Lust, mit den anderen mitzugehen, oder brauchst du gerade Zeit für dich?»

5. Proaktiv Ruhezeiten einstreuen

Planen Sie vor oder nach sozialen Aktivitäten bewusst ruhige Zeiten möglichst ohne Programm ein, in denen Ihr Kind Energie tanken kann. So erlebt es eher, dass Kontakte etwas Schönes sind und nicht zwangsläufig überfordern.

6. Rückzugsmöglichkeiten schaffen

Überlegen Sie mit Ihrem Kind, wie es sich – insbesondere in Gruppensituationen – eine Pause verschaffen kann. In welchem Raum kann es einen Moment für sich sein? Kann es Kopfhörer mitnehmen, um Musik oder Podcast zu hören, oder ein Buch? Will es nach dem Mittagessen bei der Verwandtschaft zu zweit spazieren gehen?

7. Auf das Wesentliche fokussieren

«Jetzt sag doch mal Hallo!», «Das ist doch nicht so schwierig – spiel einfach mal mit!»: Ständige Ermahnungen machen Kinder hilflos und widerständig. Überlegen Sie sich: Welche Situa­tion stresst beziehungsweise behindert mein Kind aktuell am meisten? Was ist die wichtigste Kompetenz, um diese besser zu bewältigen? Fokussieren Sie sich darauf und trainieren Sie diese kleinschrittig. Holen Sie sich bei Bedarf professionelle Unterstützung.