«Manche haben gesehen, wie Vater oder Mutter umgebracht worden sind» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Manche haben gesehen, wie Vater oder Mutter umgebracht worden sind»

Lesedauer: 3 Minuten

Susanne Attassi gründete das Happiness Again Traumatherapiezentrum in Amman. Das Zentrum hilft syrischen Flüchtlingskindern in Jordanien, ihre Kriegserlebnisse zu bewältigen.

Frau Attassi, Sie haben 2014 das Happiness Again Traumazentrum mitgegründet. Wie ist es dazu gekommen?

Als die ersten syrischen Flüchtlinge nach Jordanien kamen, habe ich mich zusammen mit Bekannten in der humanitären Nothilfe engagiert. Später haben wir medizinische Hilfsmissionen organisiert. Wir holten Ärzte aus aller Welt nach Jordanien, um Flüchtlinge unentgeltlich zu behandeln. Während die Eltern in Behandlung waren, haben wir die Kinder betreut, mit ihnen gemalt oder gebastelt. Dabei ist uns aufgefallen, dass viele Kinder psychische Probleme hatten.

Was genau ist Ihnen aufgefallen?

Manche Kinder redeten nicht, waren sehr verängstigt, andere wurden schnell laut und aggressiv. Diese Kinder haben Schreckliches erlebt im Krieg. Viele mussten sich in Syrien tagelang in fensterlosen Räumen verstecken, wegen der Bomben.
Susanne Attassi gründete das Happiness Again Traumatherapiezentrum in Amman, Jordanien. Lesen Sie im Interview mit ihr, was die Aufgaben des Zentrums sind: «Manche haben gesehen, wie Vater oder Mutter umgebracht worden sind».
Susanne Attassi hat syrische und deutsche Wurzeln. Sie lebte mit ihrer Familie in Syrien und den USA und arbeitet zurzeit in Istanbul und Amman. Ein ausführlicheres Gespräch mit Susanne Attassi ist als Podcast auf der Website www.syrianrefugeecrisis.com zu hören.
Einige mussten mit ansehen, wie ihre Eltern umgebracht wurden. Andere wurden vergewaltigt oder haben Enthauptungen durch ISIS, den sogenannten Islamischen Staat, miterlebt.

Und wie geht es den Kindern als Flüchtlinge in Jordanien?

Jordanien musste innerhalb kurzer Zeit mehrere hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen. Das hat den Wohnungs- und den Arbeitsmarkt sehr belastet. Viele Flüchtlingsfamilien leben in Einzimmerwohnungen und die Eltern arbeiten schwarz. Darunter leidet die ganze Familie und die Kinder haben keinen Platz zum Spielen.

Wie machen Sie die Eltern auf das Traumatherapie-Zentrum aufmerksam?

Eine grosse Herausforderung ist das soziale Stigma: Viele Eltern wollen nicht wahrhaben, dass ihr Kind krank ist und Hilfe braucht, nach dem Motto, «Mein Kind ist doch nicht verrückt!» Unterdessen hat sich herumgesprochen, dass es den Kindern, die zu uns kommen, viel besser geht. Zudem verbinden wir die Traumatherapie mit anderen Angeboten wie Englischkurse für die älteren Geschwister oder Nähkurse für die Mütter.

Wie sieht ein Tag im Zentrum aus?

Die Kinder kommen vormittags zu uns. Wir holen sie mit einem Schulbus ab, weil sich die Familien die Fahrt mit dem öffentlichen Verkehr nicht leisten können. Nach der Begrüssung beginnen wir mit Yoga, zur Entspannung. Dann wird eine Geschichte vorgelesen. Das lieben die Kinder. Nach etwa einer Stunde verteilen sie sich auf verschiedene Therapiegruppen.

Mit welchen Therapien arbeitet das Happiness Again?

Wir arbeiten mit Sand-, Spiel-, Kunst- oder Musiktherapie, und natürlich mit individuellen Therapiesitzungen. Viermal pro Jahr startet ein neuer Therapiezyklus mit etwa 40 Kindern. Welche Therapie einem Kind am meisten hilft, das ist sehr individuell. Einige Kinder können sich besser über das Malen erklären, für andere sind es die Sandboxen, in denen sie mit Figuren ihre Erlebnisse nachstellen.

Und geht es den Kindern besser nach der Therapie?

Kinder mit ganz schlimmen Traumata werden das irgendwie mitnehmen, bis sie erwachsen sind. Wichtig ist, dass sie einen Umgang damit finden, dass sie lernen, mit ihren Kriegserlebnissen zurechtzukommen.

Wie schätzen Sie den Bedarf ein: gibt es genügend Therapieangebote?

Nicht alle syrischen Flüchtlingskinder sind kriegstraumatisiert. Aber es sind leider mehr als man denkt. Der Bedarf ist daher sehr gross. Wir haben seit 2014 etwa 1000 Kinder behandelt. Dass unser Zentrum trotzdem eine lange Warteliste hat, zeigt, dass es leider noch nicht genügend Angebote gibt.

Über den Verein Syrian Refugee Crisis

Syrian Refugee Crisis ist ein 2014 gegründeter gemeinnütziger Verein mit Sitz in Zürich. Seither ist der Verein Hauptsponsor des Happiness Again Traumatherapiezentrum in Amman, Jordanien. Neben der Finanzierung aus Spendengeldern schlägt der Verein humanitäre und kulturelle Brücken zwischen Jordanien und der Schweiz. Da alle Vorstandsmitglieder ehrenamtlich arbeiten, kommen 100 Prozent der Spenden den Betroffenen zugute.

Dr. Michael Bürgi unterstützt die Kommunikationsaktivitäten von
Dr. Michael Bürgi unterstützt die Kommunikationsaktivitäten von Syrian Refugee Crisis.


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