Es braucht ein Dorf: Wie wichtig die Beziehung zum Nachbarn ist - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Es braucht ein Dorf: Wie wichtig die Beziehung zum Nachbarn ist

Lesedauer: 3 Minuten

«Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen.» Unsere Autorin Ulrike Légé hatte das bisher für einen netten Spruch gehalten. Dann geriet sie in eine Notlage. Und das Dorf fing sie auf. Hier gibt sie Tipps, wie man gute Nachbarschaft pflegt.

Abends hatten unsere Kinder noch wunderschöne Kinderzimmer mit Stäbchen-Parkett. Am nächsten Morgen sah der Boden plötzlich aus, «als hätte ein Riese Jenga gespielt!», wie meine Tochter anmerkte. Im gesamten Geschoss lagen die Parkett-Latten wüst verteilt, grauer Beton mit gelben Klebeflecken schimmerte hindurch, überall roch es muffig-feucht.

Was war passiert? Unser handwerklich erfahrener Nachbar René suchte stundenlang mit uns nach der Ursache: Oben im Wohnzimmer leckte, gut versteckt hinter Einbaumöbeln, die Steigleitung aus Kupfer. Unten folgte: Ein riesiger Wasserschaden.

Meine erste Reaktion: Schockstarre. Ich wollte einfach die Bettdecke über den Kopf ziehen und alles ausblenden. Aber unzählige Telefonate mit Versicherungen und Handwerkern mussten sofort geführt, Entscheidungen getroffen werden: Wer repariert was? Wie umfassend sanieren wir? Wer übernimmt welche Kosten?

Und die wichtigsten Fragen: Wohin gehen wir? Was packen wir noch schnell ein, bevor das Umzugs-Unternehmen alles einlagert? Plötzlich fühlten wir uns wie Flüchtlinge. 

«Als hätte ein Riese Jenga gespielt!»  Zuerst entdeckte Familie Légé das kaputte Parkett. Dann die Wasser- und Schimmelflecken im gesamten Stockwerk. Bild: Légé
«Als hätte ein Riese Jenga gespielt!»  Zuerst entdeckte Familie Légé das kaputte Parkett. Dann die Wasser- und Schimmelflecken im gesamten Stockwerk. Bild: Légé
Diesmal half Jacques von nebenan. Er vermietet Zimmer als Bed & Breakfast – für uns zog er aus und überliess uns grosszügig sein gesamtes Haus zur Zwischenmiete. Ich weiss nicht, wo wir ohne ihn zu fünft und mit jungem Hund so kurzfristig untergekommen wären. Noch dazu an einen Ort, von dem aus die Kinder wie gewohnt zur Schule gehen können.

Meine Freundin Moni lud uns alle zum Essen ein. Sogar unser vor Stress kötzelnder Labradoodle Sunny konnte sich unter ihrem Tisch wieder entspannen. Freundin Jasmine brachte uns Pflaumen-Wähe und einen riesigen Topf Ratatouille – Trost und Nervennahrung vom Feinsten.

Unser Nachbar René und seine Frau Ruth, die unsere Kinder als ihre «Extra-Nonno und Nonna» ins Herz geschlossen hatten, kümmerten sich um die Kinder und Sunny während ich zu Terminen hetzte. Aus Schule, Gemeinde, Vereinen, unserem Quartier, ja dem ganzen Dorf – überall her kamen Hilfs-Angebote und guter Rat, Umarmungen, Mut machende Worte.

Diese Nachbarschaftshilfe berührt und beeindruckt uns. Klar, als Biologin hat es mich intellektuell immer überzeugt, dass Menschen gemeinschaftliche «Allo-Parents» sind. Mit dem tief verankertem Bedürfnis und Wissen, dass wir unsere Kinder nur aufziehen können, wenn wir in grössere Gruppen eingebunden sind.

Trotzdem schien es mir oft so, dass im Alltag die Kleinfamilie auf sich allein gestellt ist. «Es braucht ein Dorf  …»? Nur so ein Spruch. Aber in unserer schwierigen Lage, wurde die Nachbarschaftshilfe für uns plötzlich real: Wir könnten all das nicht bewältigen ohne dieses Dorf, das uns trägt.

Ein solches Dorf wünsche ich jedem und habe deshalb einige Tipps für gute Nachbarschaft gesammelt:

Was uns geholfen hat, gute Nachbarschafts-Beziehungen aufzubauen:

Liebe hilft natürlich immer. Bild: Pexels
Liebe hilft natürlich immer. Bild: Pexels
  • Sich vorstellen: Gleich nach unserem Einzug liefen wir von Haus zu Haus und klingelten. Kurz darauf, trotz voller Kisten und Chaos, luden wir alle direkten Nachbarn zu einem kleinen, unkomplizierten Apéro ein. There is no second chance to make a first impression – und neugierig sind sicher die meisten.
  • Zeit nehmen für reale Begegnungen: Auf der Strasse, über den Gartenzaun, beim Einkaufen – es gibt immer Gelegenheiten zu einem kleinen Schwatz. Wenn ich mich manchmal unter Zeitdruck fühle, erinnere ich mich daran, wie viel Zeit ich für Facebook, WhatsApp und Co. finde. Da wird doch so ein bisschen echte Beziehungspflege noch drin sein.
  • Vor Ort sein: Vielleicht ist das Café woanders schicker, der Supermarkt grösser, das Fitness-Studio besser ausgestattet – trotzdem erledigen wir vieles vor Ort. Es ist nett, dabei unsere Nachbarn zu treffen. Und es fühlt sich gut an, die Läden, Höfe, Betriebe und Vereine hier zu unterstützen.
  • Am Leben teilhaben lassen: Vorlieben der Familienmitglieder, Krankheiten, aktuelle News: Wir tauschen uns ausgesprochen gern mit unseren Nachbarn darüber aus. Natürlich muss nicht jeder alles wissen. Aber nur wer offen ist, findet auch Gemeinsamkeiten. Und so joggt man mal gemeinsam durch den Wald, trinkt zusammen Wein oder geht ins Theater. Auch Familien-Feiern und Aufführungen der Kinder haben wir schon mit Nachbarn genossen.
  • Hilfe anbieten und annehmen: Es gibt so viele Momente, in denen Nachbarn helfen können: Den Briefkasten leeren, Pflanzen giessen und Haustiere füttern, wenn jemand verreist. Einkäufe erledigen, gekochtes Essen oder Medikamente bringen, wenn jemand krank ist. Im Garten oder bei Reparaturen mit anpacken. Auch unsere Kinder finden das jedes Mal toll und spannend. Selber um Hilfe zu bitten, fällt mir noch schwer – aber «nein, es geht gerade nicht», darf schliesslich jeder sagen! Und helfen zu dürfen, ist auch für andere schön. 

Ganz herzlichen Dank an alle, die uns gerade helfen! Den nächsten Nachbarschafts-Apèro gibt es bei uns zur Wieder-Einweihung des Hauses. Sobald wir wieder fliessendes Wasser und tragfähige Böden haben … egal, wie es sonst aussieht.

Ulrike Légé hat ihr Nachbarschaftsdorf in Therwil (BL) gefunden. Dass sie hier wieder Wurzeln schlagen durfte, freut die freie Autorin sehr, weil sie zuvor
Ulrike Légé hat ihr Nachbarschaftsdorf in Therwil (BL) gefunden. Dass sie hier wieder Wurzeln schlagen durfte, freut die freie Autorin sehr, weil sie zuvor mit ihrer Familie immer wieder umgezogen ist.