«Frau Autenrieth, unterschätzen wir die Medienkompetenz von Jugendlichen?»
Ihr Kind will Influencer werden? Nehmen Sie den Berufswunsch ernst, sagt die Medienwissenschaftlerin Ulla Autenrieth. Man traue Jugendlichen
im Umgang mit sozialen Medien viel zu wenig zu und unterschätze die Lernerfahrung bei der kreativen Selbstdarstellung.
im Umgang mit sozialen Medien viel zu wenig zu und unterschätze die Lernerfahrung bei der kreativen Selbstdarstellung.
Das Seminar für Medienwissenschaft der Universität Basel hat von aussen definitiv mehr Charme als von innen. An der Holbeinstrasse gelegen, ist es kühl und sparsam eingerichtet. Irgendwo weit oben hallen Schritte durch das Treppenhaus. Wir werden begrüsst und in den dritten Stock geführt. Hier befindet sich Ulla Autenrieths Büro. In den Regalen türmen sich Kunst und Literatur über neue Medien, an offenen Arbeitsplätzen sitzen zwei Mitarbeiterinnen, hinter einer Glaswand wartet die Medienwissenschaftlerin. Sie empfängt die Reporterin mit Guetzli, Kaffee und einem festen Händedruck.
Frau Autenrieth, was tun, wenn die Tochter mit 13 Jahren entscheidet, dass sie Influencerin werden will?
Erst mal ist es toll, wenn sie damit zu ihren Eltern geht und über ihre Wünsche und Ziele spricht. Ich würde diesen Wunsch auf jeden Fall annehmen und herausfinden, welcher Aspekt sie an dieser Tätigkeit reizt und wie viel Ernsthaftigkeit dahintersteckt. Model, Rockstar, Profi-Fussballer – einen glamourösen Berufswunsch hatte fast jeder als Teenager, und die Eltern verdrehten die Augen. Heute kommen die Influencer dazu.
Doch was, wenn es die Tochter wirklich ernst meint? Soll ich sie dabei unterstützen?
Absolut. Meine Empfehlung lautet, dabei inhaltlich zu arbeiten, weg von den Klischees. Die Frage ist, welche Dinge interessieren das Kind? Worüber will es sich definieren und vielleicht eine grössere Community finden? Tanzen, Nähen, Lego? Wir reden meist über die populärsten Influencer in den Bereichen Lifestyle oder Beauty. Und damit tragen wir selbst dazu bei, Klischees zu verfestigen. Aber es gibt so viele unterschiedliche Felder, in denen teilweise sehr grosse Expertise und Kreativität zu finden sind.
«Wir bevormunden Jugendliche, wenn wir entscheiden, welche Art der Selbstdarstellung für sie okay ist.»
Haben Sie ein Beispiel?
Hinter maiLab steht eine junge Chemikerin, die Experimente und ihr Leben als Wissenschaftlerin zeigt, mittlerweile mit eigenem Fernsehprogramm. Ein anderes Beispiel ist Coldmirror, die eher künstlerische und gesellschaftskritische Inhalte produziert. Diese jungen Frauen hätten auch Werbung für Lippenstift machen können, haben sich aber für das entschieden, was wirklich ihr Ding ist.
Muss ich etwas nicht zuerst fundiert lernen, bevor ich es digital vermarkten kann?
Das würde bedeuten, dass man nur über Dinge bloggen oder sprechen kann, in denen man geschult wurde respektive einen formalen Abschluss hat. Aber wer hat die Befugnis, dies zu entscheiden, welches «Niveau» genügt dann? Reicht eine Ausbildung? Bräuchte es ein Studium? Einen Doktortitel? Es gibt hier Möglichkeiten von informellem und intrinsisch motiviertem Lernen, ohne äusseren Leistungsdruck. Vielleicht ist gerade dies eine wunderbare Chance für diejenigen Kinder, die in der Schule nicht ihren Interessen nachgehen können, sich Wissen anzueignen.
Viele Likes gibt es für sexy Fotos, nicht für schöne Legotürme. Wie gehe ich damit um, wenn sich meine Tochter in Lolita-Posen und freizügigen Bildern präsentiert?
Man muss hierbei bedenken: Es geht in der Jugend viel um das Ausbilden der Geschlechtsidentität und um das Austesten und Kennenlernen der eigenen sexuellen Wirkung auf andere Menschen. Das haben Jugendliche schon immer gemacht – nur ist es heute öffentlich, langfristig sichtbar und bewertbar. Ich wehre mich dagegen, dass wir uns wieder so stark auf die Mädchen fokussieren. Sie werden damit in eine sexualisierte Opferrolle gedrängt: Du stellst dich so dar, dann muss du auch mit einem Shitstorm umgehen können. Es ist doch eine bevormundende Haltung, wenn wir entscheiden wollen, welche Art der Selbstdarstellung okay ist.