«Ich stottere – na und?»
Am schlimmsten ist es, wenn alle durcheinanderreden, Unruhe herrscht, er aber noch etwas zu sagen hat. Dann gerät Silvan unter Druck. Und die Worte in seiner Kehle ins Stocken. Mit aller Kraft presst er sie nach oben über seine Zunge, hinaus ins Freie. Wa-wa-wartet doooo…ch mal. Freiwillig folgen die Worte ihm nicht. Das taten sie nie. Silvan Vögele, 15, aus Brugg AG stottert seit seinem dritten Lebensjahr.
«Noch vor einem Monat hat mich das so genervt, es war mir mega peinlich», sagt der Teenager langsam, bemüht deutlich, klar. Silvan sitzt auf der Wiese im Schatten eines grossen Baumes. Der Blick schweift hinab über die hügelige Landschaft. Von hier oben kann er den Bodensee sehen. Eine Woche besucht er zusammen mit elf weiteren Jugendlichen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich das Stottercamp in Tägerwilen TG. Veranstalter sind die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich HfH sowie die Medizinische Akademie Freiburg im Breisgau.
Hier sollen Jugendliche wie Silvan in einer geschützten, entspannten Atmosphäre einen neuen Umgang mit dem Stottern und Techniken lernen, um ihren Sprechfluss verbessern zu können. «Heilsversprechungen machen wir keine», betont der Logopäde und HfHDozent Wolfgang G. Braun, einer der Leiter des Camps.
Ungefähr fünf Prozent aller Menschen stottern irgendwann im Laufe ihres Lebens, viele von ihnen nur während einer kurzen Phase in der Kindheit. Bei etwa einem Prozent der Betroffenen bleibt das Stottern bis ins Jugendalter bestehen, und sie stottern wahrscheinlich ihr Leben lang.
Laut bläst Wolfgang Braun auf seiner Pfeife. Nach und nach geben die Jugendlichen ihre schattigen Sitzplätze auf und sammeln sich auf der grossen Wiese. 34 Menschen sind im Stottercamp in bunten Zirkuswagen untergebracht: Jugendliche, Betreuer, Helfer und Logopädie-Studentinnen, die jeweils einem der 12 jungen Teilnehmer als Patin zur Seite stehen.
Die meisten Betroffenen nehmen genau wahr, wo ihr Stottern sitzt.
«Guuuuten Morgen …… al-alallerseits», begrüsst Karl Schneider, Campleiter und Schulleiter der Medizinischen Akademie Freiburg, die Teilnehmer und stellt alle drei an den vorangegangenen Tagen erarbeiteten Mottos noch einmalvor. Heute ist der Vertiefungstag der Camp-Woche. Auch Karl Schneider stottert, auf eine lockere, unangestrengte Art. Aber was sich für den Zuhörer wie eine Sprechstörung anhört, ist gewollt und die Demonstration, dass hier das Stottern nicht nur okay ist, sondern – anstatt einfach beseitigt – bewusst in eine lockere Form gelenkt werden soll.

Auf die Sprechtechnik kommt es an
Segeln, Tauchen, Klettern, ein Baumhaus bauen, neben den klassischen sprachtherapeutischen Übungen wird den Jugendlichen viel geboten. «Doch wir sind kein Feriencamp für Stotterer», sagt Wolfgang G. Braun. Die Verknüpfung von sprachtherapeutischen Ansätzen mit Elementen der Erlebnispädagogik und der Psychomotorik ist bewusst gewählt. Wolfgang G. Braun: «An der Kletterwand machen die Jugendlichen erst einmal alles mit Kraft und sind nach einer Stunde fix und fertig. So ähnlich geht es ihnen beim Sprechen. Beim Klettern lernen sie, dass mit der richtigen Technik alles leichter geht. Das lässt sich wunderbar aufs Sprechen übertragen.»
Silvan findet das lässig. Dabei wollte er zuerst gar nicht teilnehmen. Seine Therapiekarriere war lang und frustrierend. Wöchentliche Sitzungen bei der Logopädin, heilpädagogischer Kindergarten, dann sprachheilpädagogische Schulen. Gebracht habe ihm das alles nichts, sagt er. Im Gegenteil, einmal empfiehlt ihm eine Fachperson den Gang zum Psychologen. Sie unterstellt ihm Lernverweigerung, weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Da reicht es ihm. «Mit 14 habe ich alle Sprachtherapien abgebrochen», sagt er.
Heute geht er zur Atemtherapie – und macht grosse Fortschritte. «Es gibt Tage, da stottere ich gar nicht.» Und dann kommen wieder diese Momente, wenn er müde ist, wenn es hektisch zugeht. Dann wird der Kauf eines Billetts am Bahnschalter zur Qual, eine Veranstaltung mit lauter fremden Leuten zum Spiessrutenlauf.
«Guten Tag, welche Eissorten haben Sie denn?» Silvan schaut konzentriert in die Auslage. Nachdem die Verkäuferin ihre Aufzählung beendet hat, trifft er seine Wahl und bedankt sich. Seine Patin Nina Biastoch, 28, nickt ihm anerkennend zu. Keine Blockade, langsam und bewusst gesprochen habe er. Der gemeinsame Eiskauf im Ort ist eine der lebensnahen Praxisaufgaben, die die Camp-Teilnehmer in Tägerwilen zu meistern haben.
Nina Biastoch sagt, dass die meisten Betroffenen genau wahrnehmen, wo ihr Stottern sitzt, wie es sich anfühlt, wenn es sie wieder kalt erwischt.

Jeder Stotterer verfolgt seine eigene Taktik
So wie Alina Simon aus dem deutschen Kaufbeuren. «Ich spüre es hinten im Hals», sagt die 16-Jährige und greift an die Stelle, die ihr das Leben manchmal so schwer macht. Wenn die Worte mit E und O anfangen, habe sie oft Probleme, sagt sie. Dann sucht die Gymnasiastin nach anderen, leichteren, die ihr nicht im Hals stecken bleiben. Mit ihren Freunden klappt das Sprechen gut. «Wenn mir die Lehrer lange Fragen stellen, eher nicht.» Schlimm seien Referate, wenn alle Augen auf sie gerichtet sind. Der Klassiker. Auch Alinas Vater hat als Kind gestottert. Die Veranlagung zum Stottern kann vererbt werden, und so kommt Stottern in Familien meist gehäuft vor. Ist ihr Bruder auch betroffen? Alina: «Nein, er ist sogar richtig redegewandt, er redet immer schneller und schneller. Und ich komme kaum hinterher.» In Streitsituationen ziehe sie deshalb oft den Kürzeren. Das sei frustrierend, aber kein Drama.
Ein Drama war für Alina der Besuch der 5. Klasse. Ihre Lehrerin hat kein Verständnis für die Sprechschwierigkeiten ihrer Schülerin. «Reiss dich zusammen!», fordert sie das Mädchen auf. Alina bricht in Tränen aus, spricht am Ende gar nicht mehr. Erst mit dem Klassenlehrerwechsel wird es besser.

«Guten Tag, ich möchte bit-t-t-te diese Hose umtauschen, sie ist zu gross.»
Gelangweilt blättert die Verkäuferin in ihren Unterlagen. «Das machen wir aus hygienischen Gründen nicht.»
«Aber ich habe das Recht, meinen Einkauf 14 Tage lang ...... umzutauschen.»
«Ach ja? Dann zeigen Sie mir mal Ihren Kassenbeleg ...»
Alinas Patin lacht, beendet das Rollenspiel. Die beiden sitzen im Gras. «Hast du's gemerkt? Du hast die Spannung schon etwas gelöst, obwohl ich so unfreundlich zu dir war», sagt Liszi Paschner, 27, anerkennend. «Wichtig ist, dass du noch mehr die Ruhe bewahrst, weich sprichst, bei Blockaden stoppst und mit weichem Stimmeinsatz neu beginnst.» – «Aber wenn ich wütend bin, spreche ich nicht weich.» Liszi Paschner macht Alina Mut: «Darum üben wir das, damit es dann automatischer ist und du es eher anwenden kannst.»
Jeder Betroffene verfolgt seine eigene Taktik. Jannik Wienecke, 15, aus Konstanz versucht in einen anderen Sprechrhythmus zu finden. Das Schlagzeugspielen hilft ihm dabei. «Am schlimmsten ist es, wenn ich im Unterricht aufgefordert werde, mich mündlich zu beteiligen», sagt der Gymnasiast. «Dann spüre ich diesen Druck und rutsche in eine Blockade.» Doch die meisten Lehrer nehmen Rücksicht, warten geduldig oder fragen, ob ein anderer Schüler weitermachen soll. Was hilft? Kurz Pause machen, warten, einatmen, locker weitersprechen. Das hat er im Camp gelernt.
Die therapeutischen Übungen sind spielerisch aufgebaut, aber sehr intensiv. «Die Jugendlichen arbeiten hart», findet Wolfgang G. Braun. Zum zweiten Mal ertönt seine Pfeife. Mittagszeit. Bei Fischstäbchen mit Kartoffeln und Linsen tauschen sich die Teilnehmer über den Morgen aus. «Das Eiskaufen hat megagut geklappt», erzählt Silvan stolz. Mittlerweile kann er gut zu seinem Handicap stehen. Es gehört zu ihm. Trotzdem ist sein grosses Ziel, möglichst stotterfrei zu werden. «Ich fange im Herbst eine Ausbildung zum Metzger an, dann will ich noch Schlachter und Landwirt werden und auf einem eigenen Hof eine Metzgerei und Schlachterei eröffnen. Da hat man viel Kundenkontakt.» Ein hohes Ziel. Silvan ist bester Dinge, dass er es erreicht.
Weiterlesen:
- Interview mit Wolfgang Braun: «Das Stottern wächst nicht raus»
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Der Besuch des Stottercamps fand im Sommer 2015 statt. Wir haben den Artikel aktualisiert und ergänzt.