Helle Köpfe, dunkle Aussichten? Drei Mythen über Hochbegabung
Mythos 1: Hochbegabung kann man am Verhalten erkennen
Dabrowski zufolge gehen die sinnlichen und emotionalen Wahrnehmungen Hochbegabter deshalb weit über das übliche Mass hinaus, was sich in charakteristischen Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen äussere. Die Liste dieser Merkmale ist lang. Zu den meistzitierten gehört etwa ein hohes Energielevel, das sich in rasantem Sprechtempo, Rastlosigkeit, aggressivem Verhalten oder einem geringen Schlafbedürfnis äussern kann. Auch will Dabrowski beobachtet haben, dass hochbegabte Kinder häufig über grossen Wissensdurst, ausgeprägte Fantasie, einen starken Sinn für Gerechtigkeit sowie über einen kritischen Geist verfügen.
«Trotzdem sind entsprechende Checklisten, die sich etwa an Eltern richten, in der Beratungspraxis gang und gäbe.» Dass deren Auswertung keine verlässlichen Rückschlüsse auf Unterschiede zwischen Normal- und Hochbegabten zulässt, zeigte unter anderem Christoph Perleth, Psychologieprofessor an der Universität Rostock. Sein Forschungsbericht legt nahe, dass weder ein verminderter Schlafbedarf noch Perfektionismus, Gerechtigkeitssinn oder das Auflehnen gegen Autoritäten brauchbare Hinweise für Hochbegabung sind. Von «unausrottbaren Mythen» spricht Detlef H. Rost.
«Es gibt keinen belastbaren neuropsychologischen Befund, der Dabrowskis Spekulationen bestätigt. Wir haben empirisch zeigen können, dass sein Konzept der Übererregbarkeit zur Identifizierung von Hochbegabten unbrauchbar ist», sagt der Professor für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der Universität Marburg. Rost leitet das Marburger Hochbegabtenprojekt, eine der grössten Langzeitstudien zum Thema Hochbegabung. Das hochbegabte Kind brauche nicht weniger Schlaf als andere, es sei weder hochsensibel noch wolle es unentwegt über Erwachsenenthemen reden, sagt Rost: «Hochbegabte Kinder sind in erster Linie Kinder – mit Schwächen und Vorzügen, wie sie ihre Altersgenossen auch haben.»