Der Verlust des ungeborenen Geschwisterchens - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Der Verlust des ungeborenen Geschwisterchens

Lesedauer: 3 Minuten

Der Verlust eines neu- oder ungeborenen Brüderchens oder Schwesterchens ist auch für Kinder schwer. Wie erklären Mütter und Väter, was sie als Eltern und insbesondere was die Mama bei einer Fehlgeburt durchmacht? Unsere Autorin verlor vor fünf Jahren zwei Babys und erzählt ihre Geschichte.  

Ich war 2012 zweimal schwanger und verlor im gleichen Jahr beide Kinder. Beim ersten Abort war ich in der 6. oder 7. Woche und hatte gerade erst festgestellt, dass ich schwanger war. Ich war traurig, konnte aber damit umgehen. Die zweite Fehlgeburt hingegen nahm mich sehr mit. Im Nachhinein bin ich froh, dass es  «schon» in der 13. Schwangerschaftswoche passierte und ich nicht still gebären musste. Trotzdem erlitt ich einen kompletten Zusammenbruch – frau ist schliesslich nie «nur ein bisschen» schwanger. Meine Tochter war damals noch keine drei Jahre alt. Wie erklärt man seinen Kindern, was passiert ist, was man als Eltern – und vor allem: was man als Mutter bei einer Fehlgeburt durchmacht? Wir schwiegen, da unsere Tochter von den Schwangerschaften noch nichts mitbekommen hatte. 

«Die zweite Fehlgeburt nahm mich sehr mit.» 

Sie besuchte mich zwar im Spital, ihre Mutter aber verheult und mit einer Infusion im Arm zu sehen, machte ihr Angst. Sie blieb nur kurz bei mir und ging dann wieder mit ihrem Onkel mit. Wann sie es erfahren hat? Nach der Geburt meines Sohnes 2014. Da war sie viereinhalb. Sie erinnerte sich daran, dass sie mich mit ihrem Onkel schon einmal im Spital besucht hatte und dass sie anschliessend in den Zoo gegangen waren. «Weisst du denn auch, warum ich damals im Spital war?», fragte ich sie vorsichtig. Sie schüttelte den Kopf, und ich erzählte ihr in einfachen Worten, dass ich ein Baby verloren hatte und deshalb operiert werden musste. Sie war traurig, verstand es aber. 

«Über das tote Baby sprechen wir nicht» 

Als sie sechs Jahre alt war, fuhr ich sie zusammen mit ihrer Freundin zum Glacé-Essen. Plötzlich sagte die Freundin: «Mein Mami hatte mal ein totes Baby im Bauch!» «Mein Mami auch!», jauchzte meine Tochter. Beide Mädchen kicherten ob der Gemeinsamkeit. Und ich musste perplex schmunzeln. Tragik wird plötzlich zur Komik. Die Lücke, die die Sternenkinder hinterlassen haben, ist spürbar da, als Teil unserer Familiengeschichte. Und dann, im letzten Jahr, diese Szene beim Abendessen: «Über das tote Baby sprechen wir nicht.» Mir blieb das belegte Brötchen im Hals stecken. «Wie meinst du das?», fragte ich meine Tochter. Sie schaute mich vorsichtig von der Seite an. «Ich meine das Baby, das tot in deinem Bauch war.» Etwas verständnislos blickte ich sie an. «Doch, über das Baby können wir gerne sprechen, wenn du möchtest. Das ist kein Tabu.» 

Sie zögerte. «Hätte ich dann einen Bruder oder eine Schwester gehabt?» «Ich weiss es nicht. Es war noch zu früh, um das festzustellen. Ich bin aber felsenfest davon überzeugt, dass es ein Mädchen war.» «Eine Schwester…! Hätte ich dann meinen Bruder nicht gehabt?» «Doooch, auf den hätten wir doch ungern verzichten wollen. So sehr wie er uns zum Lachen bringt. Das wäre doch ein echtes Versäumnis gewesen, oder?», sagte ich und lächelte. Sie nickte. «Ich frage mich, wie es so wäre, wenn ich noch eine Schwester hätte. Aber bestimmt wäre mir das zu anstrengend, mit dem Teilen und dem Geschrei und so.» Ich lachte. «Die Entscheidung nehme ich dir gerne ab. Dein Papi und ich möchten keine weiteren Kinder mehr. Wir fühlen uns komplett als Familie. Und wir sind nicht mehr so jung, um mit drei kleinen Kindern mithalten zu wollen.» «Aber du bist doch nicht alt!», empörte sie sich netterweise. «Nein, ich fühle mich schon noch jung. Aber ich denke, für drei Kinder hätte ich früher anfangen sollen mit dem Nachwuchs.» «Kann ich bitte den Käse haben?» 

Fehlgeburt – kein Einzelfall 

Bevor ich nicht selbst diese Fehlgeburten hatte, wusste ich nicht, dass eine von drei Schwangerschaften bereits vor dem vierten Monat frühzeitig endet. Ich kannte niemanden, der das erlebt hatte. Man spricht nicht darüber. Eigentlich erstaunlich. Denn für mich sind die Fehlgeburten Teil unserer Familiengeschichte, die ich auch vor meinen Kindern nicht verheimliche. Denn auch wenn es nur 13 Wochen waren – auch diese Trauer braucht ihren Platz. Zudem prägen die zwei Fehlgeburten die Eltern-Kind-Beziehung: Würde ich meinen Sohn immer noch gleich behandeln, wenn ich vor ihm nicht zwei Babys verloren hätte? Schliesslich ist er in der Familienkonstellation mein viertes Kind. Und so hallt der Verlust eines ungeborenen Geschwisterchens auch in deren Schwestern und Brüdern nach. Ich habe den Weg gewählt, offen darüber zu kommunizieren, denn ich finde es wichtig, dass wir die Geschwister altersgerecht in die Trauerarbeit miteinbeziehen, wo sie das wünschen beziehungsweise wo Fragen ihrerseits bestehen. Und: Sollten wir den Kindern nicht auch die Schattenseiten des Lebens und der Gefühle nahebringen? Warum bin ich traurig, warum bin ich fröhlich? Eine Fehlgeburt sollte kein Tabu sein und ist es dennoch oft. Warum eigentlich?

Bild: fotolia


Zur Autorin

Séverine Bonini ist Verlegerin und Journalistin und schreibt auf ihrem Blog
Séverine Bonini ist Verlegerin und Journalistin und schreibt auf ihrem Blog Mama on the Rocks über den Alltag als Schweizer Working Mom mit zwei Kindern. Sie ist verheiratet und lebt im Kanton Aargau. 


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