Wie Mathematik Freude macht
Der Ansatz der «befreienden Pädagogik» zielt darauf ab, Kinder in ihrer Lebenswelt abzuholen. Das weckt Freude am Lernen und Lehren – mit überraschenden Erfolgen.
Achten Sie einmal genau auf die Rutschbahnen in Ihrem Quartier. Wie viele Stufen haben sie? Auf die wievielte Stufe muss Ihre Tochter steigen, damit sie gleich gross ist wie Mama? Warum rutscht man auf der nassen Fläche schneller als auf der trockenen? Warum ist eine Rutschbahn schnell und die andere langsam? Wenn Sie solche Fragen im geeigneten Moment des Spielens und der Freude an den Bewegungen einstreuen, dann wird Ihr Kinder die eine oder andere aufgreifen – weil es erkennt, dass seine Interessen wirklich ernst genommen werden.
Auch Abzählverse können Kinder dazu animieren, die Zahlen zu verwenden und auf neue Situationen zu übertragen: «Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, Rutschbahn runter, du kannst fliegen.» Lehrpersonen berichten, dass der freudvolle Umgang mit der Rutschbahn Kindergarten- und Unterstufenkinder beseelt habe – und sie selber auch. Hand aufs Herz: Ziehen Sie selbst nicht auch freudvolles Lernen der Belehrung und dem Abarbeiten von Stoff vor?
Der vierjährige Junge konnte nur bis zwei zählen. In seinem Lieblingsspiel wusste er jedoch genau, wie viel sechs Kühe sind.
Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire fand heraus, dass das Vermitteln von Stoff durch Druck und die Meinung, dass Bildung Belehrung bedeute, Hauptfaktoren dafür sind, dass Interessen und Bedürfnisse der Lernenden unterdrückt werden. Das demotiviert und kann schlimme Folgen haben: von innerer Kündigung bis hin zu schweren Lernstörungen. Kinder reden dann zwar, aber immer mit dem Gefühl, dass das, was sie sagen, keine Bedeutung hat. Informationen werden nicht abgespeichert: Sie gehen zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Diese Mechanismen wirken auch auf Erziehende und Lehrpersonen destruktiv. Der Psychologe Paul Watzlawick nannte solche existenziellen Situationen «Spiel ohne Ende» – ein Teufelskreis, der entsteht, wenn Menschen nicht wissen, wie negative Mechanismen und Geschehnisse gestoppt werden können.
Lesen und Schreiben in acht Wochen
Auf diesen Erkenntnissen basierend hat Paulo Freire Methoden für die Alphabetisierung entwickelt, von denen Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer profitieren konnten. Als Erstes erforschte er die Interessen und die Lebenserfahrungen der Lernenden, ganz nach dem Motto: «Erst forschen, dann lehren.» Nach einer Analyse integrierte er die gesammelten Themen in Lese- und Schreibprojekte.
Diese waren so erfolgreich, dass die Personen nach rund acht Wochen lesen und schreiben konnten. Ein weiterer wichtiger Aspekt seiner Methode ist der Dialog. Ein echter Dialog verändert die Beziehungen und die Emotionen der beteiligten Personen, während Belehrung einfach das «Spiel ohne Ende» fortsetzt.
«Erst forschen, dann lehren» wurde auch zum Motto in der Ausbildung von Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH. Dabei gingen die Dozierenden von einer Forschungsmethode aus, welche der Genfer Psychologe Jean Piaget mitseinen Mitarbeiterinnen entwickelt hat. Er nannte sie kritische Methode, später wurde sie auch flexibles Interview genannt (siehe Box am Ende des Artikels). Dabei gilt es, die Denkprozesse eines Kindes bestmöglich zur Sprache zu bringen, indem es auch zum Handeln motiviert wird. In einer freundschaftlichen Konversation werden die Bedeutungen von Gedanken und Handlungen fortlaufend besprochen und weiterentwickelt. Mit der Zeit konnte diese Methode immer besser in die Lehre der HfH und die Schulpraxis integriert werden.