Hilfe, mein Kind lügt! - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Hilfe, mein Kind lügt!

Lesedauer: 4 Minuten

Wenn Kinder oder Jugendliche nicht die Wahrheit sagen, bricht für manche Eltern eine Welt zusammen. Nicht selten stellen sie sich dann die Frage: Haben wir unser Kind falsch erzogen? Haben wir es nicht geschafft, ihm Werte beizubringen? Ist es am Ende ein schlechter Mensch?

Eine Redewendung lautet: «Kindermund tut Wahrheit kund.» Allerdings nicht sehr lange. Bereits mit vier Jahren lernen Kinder zu «lügen». Anfangs sind die Lügen noch etwas plump: «Ich war’s nicht!», behaupten Vierjährige voller Inbrunst, obwohl man sie beobachtet hat.

Bald schon werden die Täuschungen differenzierter. Die Kinder entwickeln etwas, das man in der Psychologie als «Theory of mind» bezeichnet: Sie lernen, dass andere Menschen einen anderen Informationsstand über die Welt haben als sie. Und sie entdecken, dass sie einer anderen Person falsche Informationen geben und damit deren Handeln beeinflussen können.

Wie spannend, wenn man plötzlich merkt, dass die Eltern nicht allwissend sind und man sie täuschen kann! Damit muss einfach experimentiert werden. Mein Sohn war viereinhalb Jahre alt, als er es das erste Mal geschafft hat, mich anzuflunkern, ohne dass ich es gemerkt habe.

Lügen ist anstrengend und fördert die Entwicklung.

Stolz öffnete er die Hand, in der sich die Murmel befand und meinte: «Du hast es nicht herausgefunden! Ich habe nicht mehr so gemacht.» (Dabei schaute er mit den Augen zur Seite und grinste – davor ein untrügliches Zeichen, dass er schummelte.) Er hatte gelernt, ein Pokerface aufzusetzen.

Lügen verlangt Kindern einiges ab. Sie müssen sich in ihr Gegenüber hineinversetzen, abwägen, welche Informationen die andere Person hat und welche sie ihr geben müssen, um glaubhaft zu sein – und sie müssen ihre Mimik kontrollieren. In diesem Sinne ist das kindliche Fabulieren und Flunkern auch ein Übungsfeld zur Entwicklung sozialer Kompetenzen.

Flunkern, Täuschen und Fabulieren sind in der Phase von vier bis sechs/sieben Jahren Teil einer gesunden Entwicklung und kein Anlass zur Sorge. Langsam kann man in diesem Alter damit beginnen, Kindern aufzuzeigen, dass Lügen problematisch ist. Vielleicht erzählt man ihnen die Geschichte von Pinocchio oder vom Jungen, der immer «Feuer» rief, und spricht mit ihnen darüber, welche Folgen häu­figes Lügen haben kann.

Zwischen sechs und acht Jahren können Kinder Fantasie und Realität immer besser auseinanderhalten, und ihnen wird bewusster, dass man im Allgemeinen nicht lügen sollte, weil es Beziehungen belastet und anderen Menschen schaden kann. Damit nimmt auch die Häufigkeit des Lügens ab.

Warum lügt mein Kind?

Wenn ältere Kinder und Jugendliche lügen, ist es sinnvoll, als Eltern genauer hinzuschauen und sich zu überlegen, aus welchem Grund ein Kind zur Lüge greifen muss. Jüngere Kinder lügen eher, um sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen. Sie naschen heimlich und geben es nicht zu, sie spielen sich vor anderen mit Unwahrheiten auf, um besser dazustehen, oder geniessen es, andere im Spiel zu beschwindeln.

Ältere Kinder und Jugendliche haben meist intriigere Gründe, nicht mit der Wahrheit herauszurücken. Sie möchten einer Strafe entgehen, Schamgefühle vermeiden oder andere schützen. Dabei zeigt die Forschung: Wenn Eltern bei Lügen sehr entrüstet oder enttäuscht reagieren, vom Kind Geständnisse erzwingen und es bestrafen, wenn eine Unwahrheit ans Licht kommt oder unter Druck gestanden wird, begünstigt das weiteres Lügen.

Kinder lügen normalerweise nur ungern. Wenn sie merken, dass sie die Wahrheit sagen dürfen, ohne ernste Konsequenzen befürchten zu müssen, fällt es ihnen leichter, den Eltern gegenüber offen zu sein. So zeigen mittlerweile mehrere Stu­dien, dass es Kindern am besten gelingt, ehrlich zu sein, wenn Eltern:

  • selbst den Mut haben, ehrlich mit ihren Kindern und anderen zu sein, und für ein offenes Familienklima sorgen;
  • das Kind nicht bestrafen, wenn sie es bei einer Lüge ertappen, sondern mit ihm darüber spre­chen, weshalb es sich nicht getraut hat, die Wahrheit zu sagen;
  • dem Kind mit Wertschätzung begegnen, wenn es den Mut hat, ehrlich zu sein;
  • das Kind dabei unterstützen, eine Verfehlung wieder gutzumachen, anstatt es dafür zu bestrafen.

Manche Kinder und Jugendliche schätzen die Konsequenzen der Wahrheit schlicht falsch ein. Im Lau­fe der Jahre haben mir mehrere Jugendliche gesagt, dass ihre Eltern «sehr enttäuscht wären» oder sogar «ganz anders von ihnen denken würden», wenn sie von schlechten Schulleistungen erfahren. Fast immer kam es nach einem offenen Gespräch zur beruhigenden Erkenntnis: Meine Eltern halten auch dann zu mir und lieben mich, wenn ich nicht alle Erwartungen erfülle.

Wie viel Recht auf Privatheit will ich meinem Kind lassen?

«Etwas zu verheimlichen, ist doch genau das Gleiche wie lügen!», mein­te eine Mutter zu mir, als die fünf­zehnjährige Tochter etwas ausgefres­sen hatte und nicht sofort zu ihr kam. Im Gespräch wurde deutlich, wie sehr es die Mutter getroffen hat, dass die Tochter scheinbar kein Vertrau­en zu ihr hat, wo sie doch immer so eine enge und gute Beziehung hatten.

Man muss nicht alles voneinander wissen, gewisse Dinge darf man auch für sich behalten.

Gerade heute, wo Eltern oft ein enges, fast freundschaftliches Verhältnis zu ihren Kindern pflegen, schmerzt es manche Eltern, wenn sie merken, dass ihre Kinder im Jugendalter vermehrt Freunde ins Vertrau­en ziehen und sie als Eltern langsam als wichtigste Bezugspersonen abge­löst werden.

Es bedeutet daher auch einen Entwicklungsschritt für die Eltern, ihren Kindern mit der Zeit mehr Privatheit zuzugestehen und es als Geschenk anstatt als Anrecht zu betrachten, wenn Jugendliche sich öffnen.

Meine Mutter meinte einmal: «Man muss nicht alles voneinander wissen, gewisse Dinge darf man auch einfach für sich behalten.»

Sie sagte den Satz nicht zu mir, aber für mich war dieser Moment wichtig. Man darf Sachen für sich behalten. Was für eine Freiheit! Aus dieser Freiheit heraus darf man sich öffnen, muss es aber nicht – was zumindest bei mir dafür sorgte, dass ich es oft und gerne tat.

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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