«Digital Native»: Generation kurzsichtig? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Digital Native»: Generation kurzsichtig?

Lesedauer: 4 Minuten

Die Zahl der Schulkinder, die eine Brille brauchen, steigt weltweit. Warum? Und kann Kurzsichtigkeit verhindert werden?

Lara liest für ihr Leben gern, aber was in der Schule vorne an der Tafel steht, kann sie nur schwer entziffern. Wenn sie die Augen zusammenkneift, geht es etwas besser, aber das ist anstrengend, denn Lara ist kurzsichtig. Das heisst: In die Nähe sieht die Primarschülerin gut, weiter entfernte Dinge kann sie dagegen nur unscharf erkennen.

Wie Lara geht es immer mehr Kindern und Jugendlichen. «Von 2000 bis 2010 wurde eine weltweite Zunahme von Kurzsichtigkeit um fast 30 Prozent festgestellt», weiss Dr. Vera Schmit-Eilenberger, Fachärztin für Augenheilkunde mit Schwerpunkt Kinderophthalmologie und Netzhauterkrankungen aus Dübendorf im Kanton Zürich.

Kurzsichtigkeit hat teilweise nahezu epidemische Auswirkungen angenommen.

Vor allem in einigen Ländern Asiens und Südostasiens hat Kurzsichtigkeit, fachsprachlich Myopie genannt, inzwischen nahezu epidemische Ausmasse angenommen. «In Teilen Chinas, Singapurs oder Taiwans sind bereits bis zu 90 Prozent der jungen Erwachsenen kurzsichtig», sagt Vera Schmit-Eilenberger.

Jeder zweite «Digital Native» ist kurzsichtig

Vor rund 60 Jahren lag der Anteil der Kurzsichtigen in der Bevölkerung hier noch bei etwa 10 bis 20 Prozent. Aber auch in Europa und den USA nimmt Myopie immer stärker zu. In den USA ist die Zahl der Kurzsichtigen in den letzten 30 Jahren um 66 Prozent angestiegen. In Europa zeigt sich gemäss einer 2015 vorgestellten Studie des European Eye Epidemiology Consortium ein ähnlicher Trend: In der Altersklasse der 25- bis 29-Jährigen – also der «Digital Natives» – ist bereits fast jeder Zweite kurzsichtig.

Je höher die Bildung, desto mehr Kurzsichtige gibt es

Lange Zeit dachte man, dass vor allem die Vererbung bei der Entstehung von Kurzsichtigkeit entscheidend ist. «Bis heute sind etwa zwei bis drei Dutzend Genorte gefunden worden, die für Myopie verantwortlich sind», sagt Vera Schmit-Eilenberger. «Damit ist nachweislich eine genetische Disposition gegeben, wenn Mutter oder Vater kurzsichtig sind.»

 Dennoch: Die explosionsartige Zunahme von Kurzsichtigkeit innerhalb weniger Jahrzehnte kann nicht darauf zurückzuführen sein. Studien haben untersucht, welchen Einfluss Umweltfaktoren auf die Ausbildung einer Kurzsichtigkeit haben. «Dabei hat sich herauskristallisiert, dass besonders langanhaltende Augen-Naharbeit sowie zu wenig Tageslicht die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit fördern», erklärt die Fachärztin. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die Gutenberg-Gesundheitsstudie für Deutschland von 2015. Demnach steigt die Zahl der Kurzsichtigen mit der Anzahl der Bildungsjahre.

Weshalb fehlt immer öfters der Weitblick?

Erste Symptome einer beginnenden Kurzsichtigkeit treten häufig bereits in der Kindheit auf. «Bis Ende der Kindergartenzeit sind die meisten Kinder noch normalsichtig», so Vera Schmit-Eilenberger. «Das ändert sich oft in der Primarschule. Man spricht deshalb von der sogenannten Schulmyopie, die typischerweise im Alter von 8 bis 15 Jahren auftritt.» Also genau in der Altersphase, in der Kinder durch Schulzeit und Hausaufgaben viel Zeit in geschlossenen Räumen mit Lesen, Schreiben und Lernen – also Augen-Naharbeit – verbringen.

 Dazu kommt die in dieser Altersklasse besonders beliebte Nutzung elektronischer Medien in der Freizeit. Das führt dazu, dass viele Kinder und Jugendliche hierzulande täglich bis zu acht Stunden und mehr bei Kunstlicht im Nahsichtmodus verbringen. «Wenn das Auge überwiegend Sehangebote bekommt, die nur wenige Zentimeter entfernt sind, reagiert es irgendwann mit Längenwachstum», betont Kinderaugenärztin. Schmit-Eilenberger. «Dies passiert umso stärker, je länger die Nahfixation dauert und je näher sich das fixierte Objekt befindet.»

Was schützt vor Kurzsichtigkeit?

Ausserdem weiss man inzwischen auch, dass der Mangel an Tageslicht eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Kurzsichtigkeit spielt. «Kürzlich veröffentlichte Studien haben ‹Outdoor activity› als eine Schlüssel-Umwelt-Determinante für die Myopie-Entwicklung identifiziert», erklärt Schmit-Eilenberger. Wie genau Tageslicht vor Kurzsichtigkeit schützt, ist noch nicht eindeutig geklärt. 

Allerdings ist Tageslicht bis zu 100 Mal intensiver als künstliches Licht, und intensives Licht fördert die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin in der Netzhaut. In Tieruntersuchungen an Hühnern konnte ein Zusammenhang zwischen Dopamin und dem Längenwachstum des Augapfels beobachtet werden, weshalb man davon ausgeht, dass die Dopamin-Ausschüttung durch Tageslicht das zu starke Längenwachstum des Augapfels bremst.

«Bei der Augen-Naharbeit sollten regelmässig Pausen eingelegt werden.»

Schmit-Eilenberger, Fachärztin für Augenheilkunde mit Schwerpunkt Kinderophthalmologie und Netzhauterkrankungen 

Ist das Auge einmal länger gewachsen und damit kurzsichtig, lässt sich dieser Schritt nicht wieder umkehren. Deshalb ist es wichtig, Umweltfaktoren, die nachweislich das Längenwachstum des Auges fördern, frühzeitig zu meiden. «Dazu gehört, dass sich Kinder und Jugendliche möglichst viel im Freien aufhalten, damit der Körper genügend schützendes Tageslicht abbekommt», rät die Dübendorfer Augenärztin. «Bei der Augen-Naharbeit sollten ausserdem regelmässig Pausen eingelegt werden. Dabei den Blick ruhig auch mal in die Ferne schweifen lassen.»

Hilfreich ist auch, den Leseabstand nicht zu kurz zu halten. «Mindestens 30 Zentimeter sollten es sein, besser mehr», betont Vera Schmit-Eilenberger. Hier kann zum Beispiel schon ein grösserer Monitor helfen. «Jedes Kind ab dem dritten Lebensjahr sollte ausserdem augenfachärztlich untersucht weden, um versteckte Sehfehler zu erkennen, die unbehandelt nach dem siebten Lebensjahr zu bleibenden Sehschwächen führen können», appelliert die Kinderaugenärztin. «Dasselbe gilt für Kinder kurz vor der Einschulung und natürlich, wenn erste Anzeichen von Kurzsichtigkeit auftreten.»

Hilft Unterkorrektur?

Da Kurzsichtigkeit typischerweise voranschreitet, wird meist in regelmässigen Abständen eine neue Sehhilfe benötigt. Diese sollte die Kurzsichtigkeit immer maximal gut korrigieren. «Der Mythos, dass ein Fortschreiten der Myopie durch eine Unterkorrektion von Brille oder Kontaktlinsen verhindert werden kann, hält sich leider immer noch hartnäckig», beklagt Vera Schmit-Eilenberger. «Prospektive klinische Studien zeigen jedoch, dass eine Unterkorrektion der Myopie das Voranschreiten nicht verhindern, ja im Gegenteil sogar anheizen kann.»

Eine relativ neue Therapie zur Behandlung von Kurzsichtigkeit ist die Gabe von niedrig dosierten Atropin-Tropfen. Sie sollen helfen, das vermehrte Längenwachstum des Augapfels zu bremsen. «In grossen Studien konnte durch die Behandlung mit Atropin tatsächlich eine Reduktion des Voranschreitens der Kurzsichtigkeit um etwa eine Dioptrie pro Jahr gemessen werden», weiss die Augenexpertin. «Nach dem Ende der Behandlung bildete sich der positive Erfolg allerdings wieder zurück.»

Ortho-K-Linsen sollen eine zeitlich begrenzte Abflachung der zentralen Hornhaut bewirken, und die Sehschärfe tagsüber normalisieren.

Eine andere Möglichkeit für die Verlangsamung der Myopie sind sogenannte Ortho-K-Linsen. Diese Kontaktlinsen werden nur über Nacht getragen und sollen eine zeitlich begrenzte Abflachung der zentralen Hornhaut bewirken, um die Sehschärfe tagsüber zu normalisieren. «Diese Methode wird vor allem von Augenoptikern befürwortet», sagt Vera Schmit-Eilenberger. «Augenärzte bemängeln jedoch hohe Kosten und das Infektionsrisiko. Auch fehlt bislang eine aussagekräftige, kontrollierte Langzeitstudie, die den positiven Effekt bestätigen würde.»

Zur Autorin:

Anja Lang  ist Medizinjournalistin und Mutter von drei Kindern. Das Problem mit der zunehmenden Nutzung elektronischer Medien bei Kindern und Jugendlichen kennt sie selbst nur zu gut.
Anja Lang  ist Medizinjournalistin und Mutter von drei Kindern. Das Problem mit der zunehmenden Nutzung elektronischer Medien bei Kindern und Jugendlichen kennt sie selbst nur zu gut.


Kurzsichtigkeit – was ist das?

Kurzsichtigkeit ist die häufigste Art der Fehlsichtigkeit. Sie wird in den meisten Fällen durch ein zu starkes Längenwachstum des Auges verursacht. Der Brennpunkt, also das schärfste Bild, entsteht dann nicht mehr direkt auf der Netzhaut, sondern kurz davor, so dass weiter entfernte Objekte entsprechend unscharf wahrgenommen werden. Nah gelegene Objekte werden dagegen einwandfrei gesehen. Ist der Augapfel nur einen Millimeter zu lang, beträgt die Höhe der Kurzsichtigkeit bereits rund drei Dioptrien. Damit sieht der Kurzsichtige Objekte nur noch bis zu einer Entfernung von rund 30 Zentimetern scharf. Typisch für Kurzsichtigkeit ist ausserdem ein Voranschreiten bis etwa zum 30. Lebensjahr.

Erste Anzeichen früh erkennen

Folgende Symptome können auf eine beginnende Kurzsichtigkeit hinweisen: 

  • Häufiges Blinzeln und Zusammenkneifen der Augen, um weiter entfernte Gegenstände zu fokussieren 
  • Klagen über schlechtes Sehen von weiter entfernten Objekten, z. B. schlechte Sicht an die Tafel
  •  Nahes Heranrutschen an den Fernseher, um besser zu sehen 
  • Wiederkehrende Kopfschmerzen und Ermüdungserscheinungen