Vom Umgang mit Respekt, Grenzen und Regeln - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Vom Umgang mit Respekt, Grenzen und Regeln

Lesedauer: 5 Minuten

Das Thema «Grenzen setzen» erlebt unser Kolumnist als eine der grössten Herausforderungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Während es einfach ist, allgemeine Prinzipien zu formulieren wie «Kinder brauchen Regeln» oder «als Eltern muss man konsequent sein», ist die Ausgestaltung im ­Alltag äusserst anspruchsvoll und in vielen Fällen eine Frage des Bauchgefühls.

Um ein eigenes Gespür für den Umgang mit Respekt, Grenzen und Regeln zu entwickeln, fand ich es immer hilfreich, Beispiele zu haben, sich mit Menschen auszutauschen, die man gerne mag, und das eigene Handeln in einem kühlen Moment zu reflektieren. Aus diesem Grund möchte ich Ihnen in diesem Artikel keine Ratschläge geben, sondern einfach einige persönliche Erlebnisse mit Ihnen teilen.

«Niemals würde ich es wagen, so etwas zu dir zu sagen»

Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern für mich und meinen Bruder jemals explizit Regeln aufgestellt oder Konsequenzen eingesetzt hätten. Dennoch war uns jeweils bewusst, was «bei uns» gilt und wie man miteinander umgeht. Als ich in der Wut meiner Mutter ein Schimpfwort nachrief, drehte sie sich um, sah mich streng an und sagte: «Niemals würde ich es wagen, so etwas zu dir zu sagen!» Damit war die Sache klar. Wenn ich in den Ausgang wollte, fragten mich meine Eltern, wann ich wieder zu Hause bin. Ich konnte die Zeit frei wählen, wusste aber, dass ich dann wirklich zu Hause sein muss, damit sie sich keine Sorgen machten.

Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern je explizit Regeln aufgestellt hätten. Dennoch war uns Kindern bewusst, was «bei uns» gilt.

Jetzt könnte man einwerfen, dass das funktionieren mag, wenn die Kinder vernünftig und pflegeleicht sind.

Meiner Mutter gelang es aber auch in anspruchsvolleren Situationen, für gegenseitigen Respekt zu sorgen. Sie war bis zu ihrer Pensionierung leidenschaftliche Kindergärtnerin. Die letzten Berufsjahre führte sie einen Kindergarten, der auch von vielen fremdsprachigen Kindern und solchen aus bildungsfernen Familien besucht wurde. ­Viele von ihnen brachten einen Rucksack an schwierigen Erfahrungen mit, sprachen schlecht Deutsch und verhielten sich teilweise auffällig. In der ersten Woche sagte sie zur Gruppe: «Hier gibt es nur eine einzige Regel, an die wir uns alle halten: Wir haben Respekt vor uns selbst, den anderen und den Sachen.»

Übertretungen wurden zum Anlass, immer wieder auf die Frage zurückzukommen, wie man respektvoll handelt. 

In einer Klasse gehörten Schimpfwörter als Selbstverständlichkeit zum Umgang untereinander. Zum Beispiel: «Kastrier deine Aids-Bazillen» und «Fick deine Mutter!».

Meine Mutter rief die Kinder in den Kreis: «So. Sagt mal alle Schimpfwörter, die euch einfallen. Die ganz schlimmen könnt ihr leise sagen.»

Sie schrieb alle Antworten auf Papierstreifen. Im Anschluss legte sie drei Kreise auf den Boden: grün, orange und rot. Sie las ein Schimpfwort nach dem anderen vor: «Scheissdreck: Wie findet ihr das?» «Hui, schlimm!», kam es von den Kindern. «Ich finde es nicht so schlimm – legen wir es in den grünen Kreis?» Dann sagte sie «Fick deine Mutter», und die Kinder meinten «geht so», worauf sie antwortete, dass es ziemlich schlimm sei und es gefährlich sein könne, wenn man Wörter sage, deren Bedeutung man nicht verstehe. Alle unbekannten Wörter kamen zur Sicherheit in den roten Kreis. Nach und nach wurden die Schimpfwörter verteilt. 

«Fick dei … Frau Grolimund, haben wir das verbrannt?»

Die grünen wurden im Kindergarten aufbewahrt. Für die orangefarbenen gingen sie in den Keller und sagten sie laut auf der Kellertreppe, um sie dann getreu dem Lied «Chällerstäge» (Kellertreppe) von Pauli und Bardill dort unten zu lassen. Die roten wurden im Garten nochmals laut im Chor aufgesagt und anschliessend verbrannt. 

«Fick dei … Frau Grolimund, haben wir das verbrannt?», fragten wenig später die Kinder, wenn sie zu einer Fluchtirade ansetzen wollten. «Ja, das ist verbrannt! Schau, du kannst dir eines von den grünen aussuchen», antwortete meine Mutter und las einige Schimpfwörter vor, bis das Kind ein geeignetes gefunden hatte.

In vielen Fällen gelang es ihr, mit den Kindern ein gemeinsames Verständnis dafür zu entwickeln, wie man miteinander umgeht, und dabei auch Kinder miteinzubeziehen, die von zu Hause einen ganz anderen Umgang gewohnt waren.

Gerade im Jugendalter bekommt das Thema Respekt nochmals eine neue Dimension. Jugendliche reagieren sehr viel sensibler darauf, wenn ihnen jemand respektlos begegnet als jüngere Kinder. Für unser neues Videoprojekt «Und was denkst du?» haben Stefanie Rietzler und ich über 20 Jugendliche interviewt. Fast alle sagten, dass sie sich am meisten darüber ärgerten, wenn sie nicht ernst genommen oder von Erwachsenen blossgestellt würden. 

Fast alle Jugendlichen 
sagten mir, dass sie sich am meisten darüber ärgerten, wenn sie nicht ernst genommen würden. 

Auf der anderen Seite wünschten sie sich Erwachsene, die sich auf sie einlassen, sich für sie interessieren und gleichzeitig «streng sind», «die Klasse im Griff haben» und als Eltern ihre Position vertreten. Einige von ihnen betonten, dass es natürlich «manchmal nervt», wenn die Eltern nachfragen, etwas nicht erlauben oder ihren Standpunkt kritisch hinterfragen, aber es gleichzeitig zeige, dass sie ihnen wichtig sind und die Eltern für sie da sind.

Ich erwarte viel von euch – weil ihr mir wichtig seid

Diese Aussagen erinnerten mich an die Art und Weise, wie mein Vater unterrichtete. Er war Lehrer an der Bezirksschule und an einer kaufmännischen Berufsschule und verzichtete darauf, Striche für vergessene Hausaufgaben oder Fehlverhalten zu verteilen. Stattdessen war er gut darin, im richtigen Moment deutlich zu zeigen: Ihr seid mir wichtig und ich erwarte viel von euch. Als etwa ein 15-jähriger Schüler mehrmals in der ersten Stunde fehlte, rief er bei ihm zu Hause an. Seine Mutter sagte, er stehe nicht auf und beschimpfe sie, wenn sie ihn zu wecken versuche. Mein Vater beschäftigte die Klasse mit Stillarbeit und stand 15 Minuten später im Schlafzimmer des Schülers: «In fünf Minuten bist du angezogen. Ich warte unten im Auto.» Wortlos chauffierte er ihn zur Schule, beide betraten still das Klassenzimmer und damit war die Sache erledigt und der Schüler fortan pünktlich.

Auch Kinder dürfen von Erwachsenen Respekt einfordern. Meine Vierjährige isst einmal pro Woche in der Mittagsbetreuung. Es gefällt ihr überhaupt nicht: «Es hat nur zwei Betreuerinnen, die ich gerne mag. Die anderen sind blöd.» Das will ich natürlich genauer wissen und frage nach, was diese tun. Sie erzählt, dass sie beim Essen neben ihrem Bruder sitzen möchte, das aber nicht darf, weil die Kinder nach Klasse sortiert werden. Und dass die «blöden Betreuerinnen» schimpfen, wenn sie deswegen weinen muss. «Die schimpfen? Die trösten dich nicht?», will ich wissen und bekomme die Antwort: «Nein, Papa! Das sind so Scheisshühner!»

Das ist vielleicht eines dieser ­Beispiele, bei denen man je nach Auffassung, was Respekt bedeutet, sehr unterschiedlich reagiert. Vielleicht würde jemand entgegnen: «Es wird nicht geflucht! Solche Wörter sagt man nicht!», jemand anderes: «Wenn das eine Regel ist, musst du dich auch daran halten». Mir war es wichtig, dass meine Tochter in ihrer kindlich-direkten Art sagen kann: «Ich darf traurig sein und weinen und muss mich nicht falsch fühlen, wenn eine erwachsene Person deswegen schimpft.»


Fabian Grolimund

ist Psychologe und Buchautor («Mit Kindern lernen», «Vom Aufschieber zum Lernprofi»). Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Der 40-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes, 6, und einer Tochter, 4. Er lebt mit seiner Familie in Fribourg. Die besten dieser Kolumnen finden Sie im neuen Buch «Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden».

www.mit-kindern-lernen.ch, www.biber-blog.com

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Fabian Grolimund schreibt diese Kolumne im Wechsel mit Stefanie Rietzler. Sichern Sie sich ein Abo, damit Sie keinen ihrer Texte verpassen!


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