Eine Ohrfeige hat noch keinem Kind geschadet. Stimmt's?
Erziehungsmythos 15:

Das sagen die Experten:
«Viele Missbräuche geschehen aus Überforderung. Die Ursache ist oft eine Überforderung in der Erziehung. Eltern wissen nicht, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen, wenn es schreit oder unartig ist, und schlagen es. Eine Ohrfeige ist meist die erste Gewaltanwendung gegenüber einem Kind, doch oft bleibt es nicht dabei. Es gibt Eltern, die ihr Kind mittels Schlägen und Angst gefügig machen wollen. Oft liegen dahinter ideologische Überzeugungen, manchmal aber auch krankhafte Persönlichkeitsstrukturen. Solchen Eltern klarzumachen, dass das nicht geht, ist sehr schwer. Eine unserer zentralen Aufgaben ist, abzuschätzen, ob es uns möglich ist, gemeinsam mit den Eltern einen Weg zu finden, um das Kind zu schützen.»
«In der Schweizer Erziehungskultur wird häufiger auf leichte Formen der Gewalt wie Ohrfeigen zurückgegriffen. Im Unterschied zu Deutschland ist in der Schweiz die elterliche Züchtigung nicht explizit verboten, da das Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung nicht ausdrücklich und eindeutig im Gesetzt festgehalten ist. Gewalt gilt hier noch immer als normaler Bestandteil der Erziehung. In unserer Untersuchung gab nur einer von drei Jugendlichen an, dass er als Kind in der Familie keine Form von Gewalt erlebt habe. Dem Satz «Eine Ohrfeige hat noch keinem geschadet» stimmt also nach wie vor ein grosser Teil der Bevölkerung zu.
Eine Ohrfeige geht nicht spurlos an einem Kind vorüber. Damit wird ein Vertrauensverhältnis zerstört: Das Vertrauen in die Eltern, aber auch in die Welt als sicherer Ort. Natürlich macht es einen Unterschied, ob ein Kind regelmässig oder selten geschlagen wird und ob es sich um Züchtigungen oder schwere Gewalt handelt. Hat das Kind schwere Gewalt erlebt, ist es zum Beispiel wahrscheinlicher, dass es später selbst gewalttätig wird. Aber auch zwischen den Vergleichsgruppen «Keine Gewalt erlebt» und «Züchtigungen erlebt» – eben die berühmte Ohrfeige – sehen wir deutliche Unterschiede.
Die Forschung zeigt klar: Jede Form von körperlicher Gewalt richtet Schaden an. Was stattdessen funktioniert ist: reden, reden, reden. Erziehung ist nichts, was von heute auf morgen passiert, es ist ein Prozess. Ich sehe das bei meiner eigenen Tochter: Irgendwann stellt man plötzlich freudestrahlend fest, dass etwas funktioniert hat. Mit Prügeln verschafft man sich keinen Respekt, sondern man zerstört das Vertrauen in die eigene Autorität. Dass man mit dem Schlechten das Gute bewirken will, ist ein Widerspruch, den Kinder nicht auflösen können.»
Alle Erziehungsmythen im Überblick:
Lesen Sie hier die Antworten auf 15 Erziehungsmythen:
- Gute Noten sollte man mit Geld belohnen
- Handy-Entzug als Strafe ist sinnvoll
- Ein Kind mit viel Freiheiten wird verantwortungsvoller
- Einzelkinder sind verwöhnt und können nicht teilen
- Raufende Kinder werden kriminell
- Wer mit seinen Kindern streitet macht sie streitsüchtig
- Kindern sollte man nichts verbieten, da sie sonst zu kleinen Rebellen werden
- Mit viel Spielzeug fühlt sich ein Kind geliebt
- Scheidungskinder sind beziehungsunfähig
- Trotzende Kinder brauchen härtere Erziehung
- 13-Jährige kann man nicht mehr erziehen
- Als Eltern sollte man auch beste Freunde seiner Kinder sein
- Ab der 1. Klasse sollte ein Kind ein Smartphone erhalten
- Früh geförderte Kinder werden erfolgreicher
Diese Kampagne ist in Zusammenarbeit mit Jung von Matt entstanden.

Im 132 Seiten starken Ratgeber kommen 51 Expertinnen und Experten zu Wort. NeuabonnentInnen erhalten das Booklet geschenkt. Eine Einzelausgabe kostet 14.90 Fr. plus Versandkosten; Sie können es hier bestellen.
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